Mo­der­nes Uni­ver­sal­ge­nie

Leben und Werk von Sergio Musmeci

Zeitgenossen bezeichneten den Ingenieur Sergio Musmeci (1926––1981) als modernes Renaissance-Universalgenie. Er war fasziniert vom Weltraum und beobachtete die Gestirne. Er interessierte sich für die Erdatmosphäre und studierte Aviatik-Ingenieurwesen. Er war umweltbewusst und inspirierte sich für seine Konstruktionen an Naturphänomenen.

Publikationsdatum
26-04-2012
Revision
01-09-2015

Sergio Musmeci, am 2. Juni 1926 geboren, verbringt die frühe Kindheit im elterlichen Wohnhaus im Trastevere in Rom. 1930 zieht die Familie ins Quartier Ludovisi-Parioli, wo Musmeci die Jugendjahre unter deutscher Besatzung erlebt. Vom September 1943 bis im Juni 1944 bereitet er sich aus Furcht vor den Razzien unter «Hausarrest» auf die ­Prüfungen für den Zweijahreskurs in Ingenieurwesen an der Universität «La Sapienza» vor. In der «Klausur» entdeckt er seine Leidenschaft für die Astronomie, die er mit seinem um zwei Jahre jüngeren Bruder Alberto teilt und die ihn zeitlebens nicht loslässt. Die beiden bauen ein Fernglas zum «Teleskop» um und halten ihre Beobachtungen in Zeichnungen fest, da ihnen eine Fotokamera dafür fehlt. Sergios Wunsch, sich für das Studium am astronomischen Observatorium «Monte Mario» in Rom einzuschreiben, zerschlägt sich an den finanziell bescheidenen Verhältnissen der Familie. Stattdessen absolviert er den zweijährigen Kurs an der Sapienza, auf den er sich während des Krieges vorbereitet hatte. Das Ingenieurwesen bietet sich an, weil es einerseits eine wirtschaftlich positive Perspektive in Aussicht stellt, andererseits seinen wissenschaftlichen Interessen entgegenkommt.

Den folgenden Dreijahreskurs an der «Scuola di Applicazione per Ingegneri» schliesst Musmeci 1948 im Alter von 22 Jahren mit dem Diplom zum Thema dünnwandiger Gewölbe ab. Diese Auseinandersetzung mit Tragwerken, die durch ihre Form den externen Beanspruchungen standhalten, kündigt bereits sein lebenslanges Interesse an Strukturen an, deren Tragfähigkeit in der Form angelegt ist. Seine erste Station nach dem Studium ist das Studio von Riccardo Morandi, wo er die Architekturstudentin Zenaide Zanini (*1926) kennenlernt – seine künftige Frau, die im Büro ­Morandi als Zeichnerin arbeitet. Anfang 1950 kündigt er den Vertrag und steigt im Unter­nehmen von Pier Luigi Nervi, der Gesellschaft Nervi & Bartoli, ein. Er erarbeitet unter anderem ein Vorprojekt für den Palazzetto dello Sport in Rom: eine Kuppel aus vorfabrizierten Stahlbetonelementen im Geiste Nervis, doch mit Rippen, deren Verlauf sich an drei verschiedenen Spiralformen orientiert.

1953, im Jahr der Einberufung in den Wehrdienst, besucht Musmeci einen Kurs in Luftfahrt-Ingenieurwesen, den er ebenfalls mit dem Diplom abschliesst. Im selben Jahr heiratet er ­Zenaide Zanini – eine Partnerschaft, welche die beiden auch beruflich führen – und macht sich 1954 selbständig. Bereits im ersten Jahr der Selbständigkeit macht er sich in Italien einen Namen, als er im Wettbewerb für den Bahnhof von Neapel 1954 den zweiten Preis gewinnt.1 Die «Weihe» erfolgt schon zwei Jahre später, als er als 30-Jähriger – in einer von Koryphäen wie Pier Luigi Nervi und Riccardo Morandi dominierten Zeit – für das Tragwerk des Palazzo della Regione von Trient verantwortlich ist (vgl. «Formen aus Kräften und Spannungen»). Dessen architektonischer Entwurf stammt von keinem Geringeren als Adalberto Libera (1903––1963), einem der prominenten Vertreter des Razionalismo.

Musmeci arbeitet im Laufe seines Lebens auch mit den anderen bedeutenden Figuren des «Who is Who» der italienischen Nachkriegsarchitektur: Annibale Vitellozzi (1906––1954), ­Eugenio Montuori (1907––1982) und Leo Calini (1903), Ludovico Quaroni (1911––1987), Ugo Luccichenti (1899––1992), Carlo Mollino (1905––1973) und Bruno Zevi (1918––2000), der ihm auch freundschaftlich verbunden ist. Musmeci ersinnt und rechnet die Tragwerke ihrer ­Bauten und Projekte (vgl. «Formen aus Kräften und Spannungen»). Unter der Vielzahl von Wettbewerben, an denen er sich allein, zusammen mit Zenaide Zanini oder anderen Architekten und Ingenieuren im Laufe seines Berufslebens beteiligt, stechen zwei Brückenprojekte hervor: das für den Ponte Basento, das er 1967––1976 realisieren kann (vgl. «Stahlbeton, Seifenblasen und Modelle»), und das der Brücke über die Meerenge von Messina, dessen Wettbewerb er ex aequo mit einem bis heute faszinierenden Projekt gewinnt.

Die Lösungen, die er für seine Auftraggeber in seinem Atelier zu Hause meist allein oder mit wenigen Mitarbeitern erarbeitet, umfassen Falttragwerke, Membran- und Gitterstrukturen ­sowie Seilkonstruktionen. Gleichzeitig gelten seine Recherchen – die Kenntnisse als Luftfahrt-Ingenieur nutzend – Tragwerken, die mit minimalem Materialeinsatz operieren und die Kraftflüsse veranschaulichen. Viele seiner Tragwerke überprüft er anhand von Modellen. Die Natur, die diese Fähigkeit längst entwickelt habe, ist seine Inspirationsquelle. Man müsse sich nur das Spinnennetz vor Augen führen: «Ein Seiltragwerk, auf raffinierteste Weise fähig, Beanspruchungen enormen Ausmasses aufzunehmen, mit minimalstem Material­einsatz.» Sein Credo legt er in dem berühmt gewordenen Aufsatz «Le tensioni non sono ­incognite» nieder, den die Zeitschrift «Parametro» 1979 publiziert: «Die Architektur, [...], ist ein Feld, auf dem man heute etwas riskieren muss. Wer nicht riskiert, imitiert oder wiederholt. Wenn man ein neues Terrain erobern will, muss man das Unbekannte in Angriff nehmen.»2

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 18/2012 Sergio Musmeci.

Anmerkungen
1 Gewonnen wurde die Ausmarchung von der Gruppe Pier Luigi Nervi, Bruno Zevi, Carlo Cocchia und Giuseppe Vaccaro

2 «L'architettura, [...], è un campo dove oggi occorre rischiare. Chi non rischia vuol dire che sta imitando oppure ripetendo. Se si vuole invadere un campo nuovo occorre affrontare l'ignoto.» Vgl. Sergio Musmeci, «Le tensioni non sono incognite», in: Parametro, Nr. 80, Oktober, 1979, S. 40

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