Mit 220 km/h im Gott­hard

Zurzeit finden im Gotthardbasistunnel die ersten Testfahrten statt. In einer engen Tunnelröhre stellen sich andere Herausforderungen als auf einer Hochgeschwindigkeitsstrecke im Freien.

Publikationsdatum
05-06-2014
Revision
18-10-2015

In zweieinhalb Jahren ist es so weit: Das Tessin und die Deutschschweiz rücken verkehrstechnisch näher zusammen. Ab Dezember 2016 werden Personenzüge mit 200km/h durch den Gotthardbasistunnel fahren. Ein kleiner Vorgeschmack, wie sich eine Fahrt durch den längsten Eisenbahntunnel der Welt anfühlen wird, bekam kürzlich eine Gruppe von Journalisten aus ganz Europa, die auf Einladung des Schweizer Klubs für Wissenschaftsjournalismus die Schweiz besuchte. 

Der Anfang ist jedoch ganz konventionell und auch nicht besonders schnell. Eine Diesellok schiebt den aus zwei Bahn-2000-Lokomotiven (Re 460) und vier Wagen bestehenden Testzug im Schritttempo zum Südportal in Bodio – die Zufahrtsstrecke zum Tunnel ist nämlich noch nicht ans Bahnstromnetz angeschlossen.

Bei der Einfahrt in den Tunnel steigt die Spannung: Eine Kamera im Führerstand übermittelt den Blick in die enge Tunnelröhre auf die im Wagen verteilten Monitore. Die beiden Elektrolokomotiven übernehmen die Traktion, und in kurzer Zeit beschleunigt der Testzug auf 220km/h. Der Wagen wird leicht hin- und hergeschüttelt. Das Tunnelgeräusch ist lauter als im Lötschbergbasistunnel – auch weil die Türen zwischen den Vorräumen und dem Wageninnern wegen der Kabel der Messtechnik nicht geschlossen sind. Schon beginnt der Zug wieder zu bremsen, und nach wenigen Minuten ist der Spuk bereits vorbei. Einmal in Betrieb, wird die Fahrt durch den 57km langen Gotthardbasistunnel 17 Minuten dauern.

Während der Testzug für die Rückfahrt vorbereitet wird, können die Journalisten aussteigen und sich ein Bild über die Querschläge zwischen den beiden Tunnelröhren machen. In ihnen sind in gelben, blauen und grauen Schränken verschiedene technische Anlagen für Kommunikation, Sicherheit, Beleuchtung und Klimatisierung des Tunnels untergebracht. Im Notfall könnten die Passagiere über einen Querschlag in die andere Röhre gelangen – bis sie dort von einem Evakuierungszug abgeholt würden.

Im südlichsten Abschnitt der Weströhre zwischen Bodio und Faido ist die Bahntechnik auf einer Strecke von 13km fertig eingebaut. Seit Dezember 2013 dient sie der AlpTransit Gotthard AG (ATG) als Teststrecke. Erprobt wird das Zusammenspiel der verschiedenen Systeme und Anlagen wie Fahrbahn, Fahrleitung, Stromversorgung, Leittechnik, Zugsicherung sowie die Sicherheit und die für den Betrieb erforderliche Kommunikation. Dieser erste Versuchsbetrieb wird im Juni abgeschlossen. Im Herbst 2015 finden dann die ersten Testfahrten durch den ganzen Basistunnel statt, bevor der Tunnel im Sommer 2016 an die SBB als Betreiberin übergeben wird.

Hydraulisch angetriebene Weichen

In einem Tunnel sind im Vergleich zu Hochgeschwindigkeitsstrecken im Freien die Platzverhältnisse beschränkt. Dies betrifft vor allem die Fahrleitung, aber auch die Weichen, die bei den Multifunktionsstellen einen Spurwechsel von der einen in die andere Röhre erlauben. In der Schweiz wurden im Gotthardbasistunnel zum ersten Mal platzsparende Weichen eingebaut, die nicht mechanisch über ein Gestänge, sondern hydraulisch angetrieben werden. Die Fahrleitung versorgt die Lokomotiven mit elektrischer Energie. Sie muss den Anforderungen von schnellen Personenzügen bis zu 250km/h wie auch von schweren Güterzügen genügen.

Während für hohe Geschwindigkeiten leichte Fahrleitungen besser geeignet sind, benötigen die Lokomotiven der Güterzüge viel Strom. Die Fahrleitungen müssen Ströme von bis zu 2400 Ampere führen können, was einen breiten Leitungsquerschnitt erfordert. Damit die Konstruktion trotzdem relativ leicht gehalten werden konnte, entschied man sich für eine Kettenwerkfahrleitung mit parallel geführten Verstärkungsleitungen. Der Fahrdraht aus silberlegiertem Kupfer ist an einem Tragseil aus Bronze aufgehängt. Mit den bis zu 90cm langen Hängern, die in regelmässigen Abständen das Tragseil mit dem Fahrdraht verbinden, bilden sie ein kettenartiges Gebilde.

Das gesamte Kettenwerk ist in Abschnitte von 1300m Länge unterteilt und wird mit Gewichten, der sogenannten Nachspannungseinrichtung, gespannt. Die Lage der Fahrleitung über dem Gleis wird mittels Spurhalter eingestellt. Die mit der Fahrleitung verbundenen Verstärkungsleitungen erhöhen den wirksamen Leitungsquerschnitt und gewährleisten so die Stromversorgung der Züge. Die Versorgung des Tunnels mit Bahnstrom erfolgt einerseits über die beiden Portale, andererseits über die beiden Zugangsstollen in Amsteg und Faido.

Enger Tunnelquerschnitt

Die Bahntechnikspezialisten interessieren sich unter anderem für das Zusammenspiel von Fahrdraht und Stromabnehmer. Bei hohen Fahrgeschwindigkeiten kann die Fahrleitung in Schwingung versetzt werden. Güterzüge werden je nach Last von mehreren Lokomotiven gezogen, wobei die Stromabnehmer nur 20m auseinander liegen können. Getestet werden deshalb unterschiedliche Zugkonfigurationen mit bis zu vier Lokomotiven. «Wir schenken vor allem den aerodynamischen Verhältnissen besondere Aufmerksamkeit», sagt Bruno Reichmuth, der bei der ATG für die Versuchsplanung im Tunnel zuständig ist. Die Strömungs- und Druckverhältnisse werden mithilfe zahlreicher Sensoren auf dem Dach der Lokomotive, am Stromabnehmer und in der Tunnelröhre selbst erfasst. In den Röhren des Basistunnels beträgt die freie Querschnittsfläche lediglich 41m2; sie ist damit rund 10% kleiner als im Lötschbergbasistunnel. Hohe Fahrgeschwindigkeiten bewirken auch hohe Strömungsgeschwindigkeiten der Luft über dem Dach der Lokomotive, was die Stromabnahme von der Fahrleitung beeinträchtigen kann.

Der Stromabnehmer drückt an die Fahrleitung, diese darf aber durch die Anpresskraft nicht zu fest angehoben werden. Kontaktkraft- und Fahrdrahtanhubmessungen sollen darüber Aufschluss geben. «Die Werte der erlaubten Kontaktkräfte sind in europäischen Normen und nationalen Vorschriften geregelt», sagt Andreas Siegrist von der Firma Prose AG in Winterthur. «Im vorliegenden Fall gelten die von den SBB vorgegebenen Grenzwerte von grösser Null bzw. 120N.» Liegen die Kontaktkräfte zu tief, könne es zu Kontaktstörungen und Funkenflug kommen. Sind sie hingegen zu hoch, steige der Verschleiss von Fahrdraht und Schleifleiste. Laut Siegrist zeigen die bisherigen Messungen, dass die Anpresskräfte eher hoch sind. Dies sei aber auch so erwartet worden. 

Zur Beobachtung des Stromabnehmers kommt eine Kamera zum Einsatz. Wie sich die aerodynamischen Verhältnisse in der Tunnelröhre auswirken, wird anhand eines Stromabnehmers ermittelt, der selber die Fahrleitung nicht berührt und für die Stromversorgung nicht benötigt wird. So können die Einflüsse der bewegten Luft, die zwischen dem Dach der Lokomotive und dem Tunnelgewölbe strömt, auf den Stromabnehmer ermittelt werden. Der Anhub der Fahrleitung wird an einer fixen Stelle im Tunnel gemessen. Dieser hat bis zu 10cm betragen und liegt damit unter dem kritischen Wert. Würde der Anhub zu gross, könnte die Fahrleitung heruntergerissen werden. 

Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass der Tunnel noch nicht durchgehend offen ist. Am Ende der Teststrecke ist die Röhre durch ein Tor verschlossen, damit in den anderen Abschnitten ungestört gearbeitet werden kann. Dies beeinflusse die Strömungsverhältnisse, sagt Reichmuth. Und es kann noch nicht mit der angestrebten Höchstgeschwindigkeit von 275km/h gefahren werden. Laut Reichmuth wird das erst bei den Fahrten durch den ganzen Tunnel möglich sein. 

Bei Hochgeschwindigkeitsstrecken sind auch die Ansprüche an die Fahrbahn hoch. Optische Messungen ergaben, dass die Schienen genau verlegt wurden. Weil die Teststrecke durch das Bundesamt für Verkehr noch nicht abgenommen ist, müssen Lokomotiven und Wagen der Testzüge fahrtechnisch überwacht werden. So kann die Gefahr einer Entgleisung früh erkannt werden. Bei den Achslagern wird die Querbeschleunigung gemessen. Die maximal gemessenen Werte hätten 1m/s2 nicht überschritten, sagt Siegrist. Der Alarmwert wäre ab Beschleunigungen von 8m/s2 erreicht. 

Staub aus der Bauphase

Hohe Geschwindigkeiten bringen noch ein anderes Problem mit sich: Es wird viel Staub aufgewirbelt. Dieser stammt vom Rohbau und vom Einbau der Fahrbahn. Der Staub führt zu einem hohen Verschleiss des Rollmaterials. Dieses Problem habe man auch beim Lötschbergbasistunnel gehabt, sagt Reichmuth. Der Staub werde mit der Zeit aus dem Tunnel geblasen. Im Unterschied zur Bauphase benötigt der Gotthardbasistunnel im normalen Betrieb keine aktive Lüftung. Wenn die Züge durch die Röhre brausen, wird durch die Kolbenwirkung genügend Luft nachgezogen. Trotzdem sind Lüftungsanlagen fix eingebaut – sie werden nämlich bei den periodischen Unterhaltsarbeiten im fertig erstellten Tunnel benötigt. 

Betriebszentralen


Am 7. April 2014 hat in Pollegio die neue Betriebszentrale Süd (Centrale d’esercizio Sud) ihre Arbeit aufgenommen. Ihr wird sukzessive der gesamten Bahnverkehr im Tessin sowie von und bis nach Arth-Goldau übertragen. Auch die Bahnstromversorgung sowie der Betrieb des Gotthardbasistunnels (ab 2016) und des Ceneribasistunnels (ab 2019) werden dort gesteuert und überwacht.

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