Ein Le­ben auf dem Land oh­ne Au­to ist den­k­bar

Die Architektin und Städtebauhistorikerin Elena Cogato Lanza von der EPFL widmet sich in der von ihr gemeinsam mit Kollegen verfassten Studie «Post-Car World» der zersiedelten Landschaft, wo eine Alternative zum Auto heute noch schwer vorstellbar ist. Ein Zukunftsentwurf für eine post-automobile Mobilität am Beispiel der Region zwischen Genf und Lausanne.

Data di pubblicazione
17-04-2023

Ist eine städtische Zukunft ohne Auto möglich? 2004 prägte der Soziologe John Urry den Begriff «Automobility» für das im 20. Jahrhundert dominierende Mobilitätssystem. Gleichzeitig spürte er den ersten Anzeichen eines Wandels in Richtung einer Mobilitätskultur nach, die das Auto überwunden hat.1 Wie vielen in meiner Generation sind auch mir die Ölkrise und deren Folgen für den Alltag noch in lebhafter Erinnerung. Das Gefühl, gefahrlos mitten auf der Strasse unterwegs sein, spazieren zu gehen oder Rollschuh laufen zu können, werde ich nie vergessen. Ich wusste, dass möglich war, was für unmöglich gehalten wird.

Ähnlich war es 2020 bei der weltweiten Covid-19-Krise: Zuvor undenkbare Verhaltensweisen und Nutzungen von Lebensräumen, ob öffentlich oder privat, erweiterten unseren Erfahrungsschatz. Das ist bedeutsam, denn individuelle und kollektive Erfahrungen sind ein erster Hebel, um den Rahmen des Möglichen und des Denkbaren zu erweitern.

Mit unserem Beitrag zum Forschungsprojekt «Post-Car World» wollten wir ausloten, ob ein Wandel in Richtung eines Lebens ohne Auto denkbar wäre.2 Dabei befassten wir uns mit ausgedehnten Gebieten ausserhalb städtischer, dicht besiedelter Zentren. Wir wollten Veränderungspotenziale identifizieren, die ebenso fassbar sind wie unsere eigenen Erfahrungen. Es ging also nicht darum, warum man auf das Auto verzichten sollte – das ist aus Gründen der Gesundheit, des Umweltschutzes und der Ressourcenschonung ohnehin offensichtlich. Erläutert werden müssen hingegen die Gründe für die Wahl unseres Fallbeispiels: der Genferseebogen zwischen Genf und Lausanne, begrenzt vom Jura auf der einen Seite und vom See auf der anderen.

Das Land bleibt aussen vor

In Stadtzentren werden seit Jahrzehnten Massnahmen zur Reduktion des Autoverkehrs ergriffen. Sie haben sich als wirksam erwiesen und dienen als Grundlage weiterer Massnahmen. Die Landschaft zwischen Stadt und Land hingegen – Gegenden einer zersiedelten Urbanisierung, heterogene Konglomerate von Gebäuden und landwirtschaftlicher, infrastruktureller und natürlicher Bodennutzung – bleibt bei den Bemühungen, aus der Automobilität auszusteigen, grundsätzlich aussen vor. Es handelt sich bei unserem Fallbeispiel nicht um eine verstädterte Peripherie, deren Wohn- und Lebensqualität problematisch ist, sondern um eine prosperierende Gegend, attraktiv sowohl als Wohnort wie auch für Gewerbe, mit einer hohen Dichte an Unternehmen mit international bekannten Namen in einer prestigeträchtigen Landschaft.

Indirekt prangert unsere Wahl eine Diskriminierung durch die offizielle Planung an: Im Gegensatz zu den Agglomerationen von Genf und Lausanne hat sich hier noch nichts Entscheidendes zur Reduktion des Autoverkehrs getan. Eine solche Planung aber gibt sich damit zufrieden, dass nur ein Teil des bewohnten Gebiets einen wünschenswerten Zustand anstreben kann, während dies für einen anderen Teil nicht einmal denkbar ist.

Eine andere Raumordnung der Mobilität

Die Automobilität ist seit einem Jahrhundert in diesem Gebiet verankert. Allerdings hat sie geografische und räumliche Strukturen überformt, die sich über Jahrhunderte ohne Auto ausgebildet hatten. Was haben Verbreitung und Aufschwung des Autos hier ermöglicht? Und wie kann die Kapazität der Landschaft wieder aktiviert werden, nach langen territorialen Setzungsprozessen eine Ära nach dem Auto zu etablieren?

Wir sind diese Fragen zunächst mit einem Porträt des Gebiets angegangen. Erste und wichtige Auskünfte bietet die Erschliessung. Vergleicht man das Strassennetz des Jahres 2000 mit dem von 1900, also vor dem Auto, stellt man fest, dass fast das gesamte Netz bereits bestand. Eine Ausnahme bilden einige Landwirtschaftswege (angelegt vor allem infolge von Entwässerungen) und die Autobahn. Die Auffassung, das Auto hätte zum Bau von unzähligen Kilometern von Strassen geführt, darf man also hinterfragen.

Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass 1900 so gut wie alle Strassen für Gespanne befahrbar waren, 2000 hingegen ein grosser Teil für Autos gesperrt ist oder doch zumindest starken Einschränkungen unterliegt (Duchfahrt nur für Anwohner, landwirtschaftliche Fahrzeuge usw.). Obwohl wir meinen, mit dem Auto überall hin gelangen zu können, ist tatsächlich nur ein geringer Teil der Strassen befahrbar. Dort entlang leiten uns Navigationsgeräte, die das übrige Netz völlig ignorieren. Das sich abzeichnende Änderungspotenzial besteht daher aus einer Rückeroberung des gesamten Wegenetzes zugunsten einer anderen Raumordnung der Mobilität. Eine sehr viel gleichmässiger verteilte Zugänglichkeit auf Grundlage anderer Geschwindigkeiten und der Nutzung mehrerer verschiedener Verkehrsmittel wird denkbar.

Die räumlichen und formalen Entwicklungsmöglichkeiten der Landschaft des Genferseebogens verdienen es, genauer betrachtet und zu Anzeichen eines sich ändernden Sozialverhaltens in Beziehung gesetzt zu werden. Laut Statistik verlangsamt sich der Ausbau des Strassennetzes hier bereits seit 1950 – im Gegensatz zur übrigen Schweiz. Das Bevölkerungswachstum führte zu einer Verdichtung, wohingegen der Ausbau des Strassennetzes zweitrangig war. Seit 2000 steigt die Anzahl der Autos hier weniger stark als in der übrigen Schweiz. In der Bevölkerungsgruppe zwischen 18 und 45 Jahren nimmt die Verbreitung von Führerausweisen ab, während diejenige von Generalabonnements der Bahn spürbar zunimmt. Hat der Wandel in Richtung einer Ära nach dem Auto bereits begonnen?

Zeichen eines soziotechnischen Wandels

Wann beginnt ein soziotechnischer Wandel? Als Beispiel mag hier die Ablösung des Festnetz- durch das Mobiltelefon dienen: Das neue technische System ersetzte nicht sofort das alte, eine Zeitlang bestanden bzw. bestehen beide parallel. Ein Smartphone zu besitzen, wird erst dann zur Norm, wenn der Zugang zu öffentlichen Diensten und Leistungen oder zum Arbeitsmarkt ansonsten schwierig ist. Müsste man aber einen Wendepunkt definieren, wo wäre dieser? Der Zeitpunkt, zu dem die Anzahl der Mobiltelefone weltweit die der Festnetztelefone überstiegen hat? Oder als das Mobiltelefon als Nischenprodukt für ein weltweit sehr überschaubares Publikum aufkam?

Uns interessiert nicht die Norm, sondern der einsetzende Wandel – Momente, in denen die Grenzen des Denkbaren gesprengt werden. Was also hat es mit der nach-automobilen Ära auf sich? Wann beginnt sie? Unsere erste Untersuchung zeigt, dass die Verdrängung des Autos schon mit einer schrittweisen Verringerung des verfügbaren Strassennetzes einsetzte. Diese Tendenz wird deutlicher, wenn das gesellschaftliche Verhalten Anzeichen einer Abkehr von der Autokultur aufweist.

Schienenwege, Landschaftsstrukturen und städtisches Netz

Eine weiterer soziotechnischer Veränderungsprozess scheint bedeutsam zu sein: die Entwicklung der Schienenwege, und zwar unter Berücksichtigung von Zug und Tram gemeinsam. Das Gebiet zeugte bereits 1900 von einem aussergewöhnlichen Ausbau des Schienennetzes. In den 1950er-Jahren, nachdem das Schienennetz hinreichend ausgebaut worden war, hatte der Bahnverkehr seinen Höhepunkt erreicht.

Der Niedergang des städtischen Trams setzte einige Jahre später mit der Einstellung einiger Tramlinien ein. Die Karte von 2010 weist jedoch bereits erste Anzeichen einer Renaissance des Trams auf, dessen Netz sich zunehmend weiter ausdehnt. Was ist passiert? Zunächst wollte man einen Entwicklungszyklus abschliessen; dann hat man ihn aufs Neue eröffnet. Der erste Entwicklungszyklus des Trams dauerte nicht einmal hundert Jahre; im zweiten hat er an Bedeutung noch zugenommen. Von der Demontage zur Wiedereinführung – unsere Gesellschaft zeigt sich offenbar irrational. Die halb verstädterte Landschaft hingegen hat ihre Wandelbarkeit bewiesen. Wäre es nicht ein Zeichen der Rationalität, anzuerkennen, dass auch das System Auto als Zyklus und nicht als unumkehrbare Entwicklung betrachtet werden kann?

Unsere Untersuchung zeigte unter anderem, dass im Jahrhundert des Autos der Einfluss von Landschaftselementen (Weinbergen, Wäldern, Obstplantagen) zunahm und diese den Autoverkehr durch die Stilllegung hindurchlaufender Routen und Wege behinderten. Gleichzeitig nahm die (zeitliche) Distanz zwischen den Orten von 1900 bis 1975 zunehmend ab, da die Geschwindigkeit exponentiell stieg. Der Trend kehrt sich jedoch seit 1975 um – auf Autobahnen wie auf Landstrassen. Die Fahrzeiten steigen überall, unter anderem aufgrund des dichten Verkehrs und dessen Regelung. Das Auto erlaubt es nicht mehr, zunehmend schneller unterwegs zu sein.

Zudem lässt sich eine Permanenz eines Netzes von Dörfern ausmachen, die in einer Entfernung von anderthalb bis drei Kilometern zueinander liegen – eine typische Pferdedistanz, heutzutage perfekt geeignet für eine aktive Mobilität, sei es zu Fuss oder mit dem Velo. Zwischen Jura und Autobahn ist dieses Netz praktisch erhalten: Die Dörfer haben sich durch Verdichtung und nicht durch Zusammenlegung oder Auslöschung weiterentwickelt.

Dieses diffuse, homogene halburbane Netz ist eine der Voraussetzungen für eine ebenso homogene Verteilung der für das Sozialleben wichtigen Treffpunkte: Sport-, Freizeit- und Kulturstätten, Bildungseinrichtungen, Handel, Energieversorgung und anderes. All diese Orte bestimmen die Qualität des Lebens- und Arbeitsumfelds einer Gegend, in der man überall wohnt und überall arbeitet. Sie tragen zu ihrem Erfolg gemessen am Bruttoinlandsprodukt bei; sie ermöglichen ihr Funktionieren, ohne dass Ungleichheiten oder Marginalitäten entstehen; sie stärken das Zugehörigkeitsgefühl.

Die entscheidenden Hebel

Die Vorstellbarkeit des Wandels erfordert letztlich, dass man die Hebel dazu ermittelt und parallel eine Zukunft skizziert, zumindest in Ansätzen. Die Ergebnisse unserer Erhebung zur Formbarkeit des Gebiets und den ersten Anzeichen neuer Verhaltensweisen werden komplettiert von der Feststellung eines umfassenden Mobilitätswandels. Auf der Basis quantitativer Analysen in Europa lassen sich drei Entwicklungstrends erkennen:

  • eine allgemeine grosse Mobilität, bei der auch wegen des weit verbreiteten Pendelns die Zahl der Zweitwohnsitze und doppelten Zugehörigkeiten stark zunimmt;
  • ein Zeitalter der Fernkommunikation und beweglicher Güter, Voraussetzung einer neuen Sesshaftigkeit;
  • ein Leben mit kurzen Distanzen, auf denen eine ganze Reihe von Lebensentscheidungen gründet3

Wir möchten hier keinen post-automobilen Entwurf für die Region am Genfersee skizzieren – denn in diesen müssten die betroffenen Akteure eingebunden werden –  aber doch vier Visionen eröffnen. Auf der Grundlage der Bebauung lassen sich drei grosse Muster der Verknüpfung von gebauten Strukturen, natürlichen Strukturen und Infrastrukturen erkennen, die sich aus vier möglichen Lebensstilen ergeben.

Zunächst ist das eine intensive Verdichtung der grossen Zentren, die eine starke Hierarchie zwischen diesen und dem übrigen Gebiet schafft, das Wald und Landwirtschaft überlassen wird.

Dann der Beginn einer neuen linearen Urbanisierung infolge der Umwandlung der jetzigen Autobahn in einen neuen Schienentransportweg. An diesen urbanisierten Streifen, der sich in direktem Kontakt mit dem Landwirtschafts- und Landschaftsraum entwickelt, schliessen sich sekundäre Zentren an, d.h. die Dörfer am Fuss des Jura und entlang des Seeufers, die alle in einer Distanz zueinander liegen, die für eine erhöhte aktive Mobilität (Velo, Elektrovelo und -roller, Laufbänder usw.) geeigneten ist.

Schliesslich könnte eine Umverteilung dichter Besiedlung auf Basis des bestehenden Netzes von Dorfkernen erfolgen, das sich heute über das gesamte Gebiet zieht. Diese Gestaltung könnte nach zwei Mustern vor sich gehen: der Auswahl von etwa 20 kleinen und mittleren Dörfern, die verdichtet und mithilfe eines öffentlichen Verkehrsmittels wie einer Metro verbunden werden – für eine vergleichbar mobile Gesellschaft wie heute; oder einem Ausbau des Netzes kleiner Dörfer durch die Gründung neuer Orte ohne Hierarchie untereinander – für eine sesshafte Gesellschaft, deren Dienstleistungen in Clustern gebündelt sind.

Mit Vision meinen wir hier sowohl Visualisierungen wie sie im architektonischen Entwerfen üblich sind, als auch die zugrunde liegenden Ideen. Eine Vision aber ist kein Entwurf, denn dieser müsste deutlich mehr Vielfalt und Unterschiede artikulieren. Wir hoffen, dass unsere post-automobilen Visionen in ihrer Radikalität als Inspiration für künftige Entwürfe dienen können. Auf der Grundlage unserer Voranalysen belegen sie, dass eine Zukunft jenseits des Autos tatsächlich denkbar ist.

Anmerkungen

 

1 John Urry, «The ‘System’ of Automobility», in: Theory, Culture & Society (21) 2004, Heft 4/5, S. 25-39

 

2 Das interdisziplinäre Forschungsprojekt «Post-Car World: A Trans-Disciplinary Multi-Dimensional Simulation» unter Leitung von Jacques Lévy erfolgte in Zusammenarbeit von EPFL, ETH Zürich und der Universität der italienischen Schweiz und wurde über das Sinergia-Programm des Schweizerischen Nationalfonds finanziert.

 

3 Vgl. Vincent Kaufmann und Alexandre Ravalet, «Mobilités du futur: une transformation progressive des fondamentaux», in Cogato Lanza et al., Post-Car World (2021), S. 113–124