Die graue Emi­nenz der Pla­nung­swelt

Die Lorbeeren des Erfolgs gehen in der Öffentlichkeit häufig an die grossen Namen unserer Branche. Dabei sind es oft die Konstrukteurinnen und Konstrukteure, die mit immensem Fachwissen und Erfahrung komplexe Bauten überhaupt ermöglichen. Eine Hommage an Walter Bolliger.

Data di pubblicazione
06-07-2021

Auch im Alter von 91 Jahren scheint Walter Bolligers wohlverdienter Ruhestand noch in weiter Ferne. Schaffensfreudig wie eh und je geht er tagtäglich seiner Leidenschaft nach: Er zeichnet exzellente Handpläne und macht sich Gedanken zum Bauingenieurwesen. Als Quelle dienen ihm rund 70 Jahre Berufserfahrung, die er als weltweit tätiger Konstrukteur und nimmermüder Autodidakt gesammelt hat.

Seine Gedanken bringt er in oftmals philosophisch beflügelter Form zu Papier. Zugegeben: Seine Schriften wirken auf den ersten Blick verworren und verlangen vom Leser die Bereitschaft, in «seine» Welt einzutauchen. Doch dieser Tauchgang lohnt sich – er bringt an sich banale, aber in unserer vermeintlich hochtechnologisierten Branche oft vergessene Grundsätze des Planungswesens an die Oberfläche.

Aus dem Hinterland in die grosse Bauwelt

Bolliger wuchs in Wolhusen LU auf. Als Kind aus bescheidenen Verhältnissen durfte er nur dank guten schulischen Leistungen überhaupt eine Berufslehre als Stahlbauzeichner absolvieren. Nach zwei beruflichen Stationen in der Schweiz zog es ihn schliesslich, im Alter von 26 Jahren, in die USA, wo er während drei Jahren in New York für verschiedene Ingenieurbüros arbeitete.

Ende der 1950er-Jahre wurde er trotz der auf dem Arbeitsmarkt spürbaren Rezession bei Ammann & Whitney (der Firma von Othmar Ammann) eingestellt und konstruierte an der Unterdeckerweiterung der George-Washington-Brücke mit. Bei dieser Tätigkeit begegnete er Ernst Hofmann und wurde in der Folge 1963 – zurück in der Schweiz – zum ersten Mitarbeiter der neu gegründeten Firma Basler & Hofmann. Bis in die 1980er-Jahre blieb er dort tätig, wurde dann aber in der zweiten Karrierehälfte selbstständig und bot seine Leistungen als Freelancer an.

Zwar selten an vorderster Front, aber stets emsig konstruierend, arbeitete er über die Jahre rund um den Globus an imposanten und bedeutenden Bauwerken aus Stahl und Stahlbeton. In seinen Zeiten bei Basler & Hofmann war er beispielsweise für das Tragwerkskonzept einer 1 km langen Industriehalle aus Stahl in Südafrika verantwortlich. Später arbeitete er weiter als Freelancer für seine ehemalige Firma an diversen Stahlkonstruktionen für Monorails in den USA.

In den 1990er-Jahren zeichnete er unter dem Druck einer Konventionalstrafe in nur vier Monaten sämtliche Ausführungspläne für den Umbau des Bally-Gebäudes an der Zürcher Bahnhofstrasse – wohlgemerkt von Hand. Und um die Jahrtausendwende wirkte er in einem Konsortium um Santiago Calatrava bei der Planung der Bibliothek der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich mit.

Die meisten seiner beruflichen Begegnungen wurden durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit zu langjährigen Wegbegleitern. Zusammen mit solchen Kollegen stand er auch in den vergangenen zehn Jahren noch aktiv im Berufsleben und plante beispielsweise an der Sporthalle Weiden in Rapperswil, der Erdbebensicherung eines Klosterturms im Königreich Bhutan oder an einer 600 t schweren Stahlbetonskulptur in den Niederlanden («Flevoland»; vgl. TEC21 27/2020).

Der Prototyp des Konstrukteurs

Man darf Walter Bolliger freiheraus als Meister seines Handwerks bezeichnen. Sein konstruktives Sachverständnis und die Art, in der er Pläne von Hand zeichnet, sind einzigartig. Wie kein anderer versteht er es, Situationen, komplexe Schnitte oder Bewehrungspläne in einem überschaubaren Format abzubilden. Eine Kunst, die vor rund 25 Jahren mit der Einführung von CAD auf eine Probe gestellt wurde.

Auch Bolliger versuchte sich an der damals neuartigen Technologie, kam aber schnell zum Schluss, dass rechnergestütztes Konstruieren nur unter Beibehaltung sinnvoller Layouts Vorteile bringt. Während die digitale Planung mit Building Information Modelling heutzutage weit über die geometrischen Dimensionen hinausgeht, ist Bolliger nach wie vor überzeugt, dass die verständlichste Form zur Abbildung von Bauwerken zweidimensionale Darstellungen sind.

«Mit Walter Bolliger erlebte ich eine Zusammenarbeit sondergleichen. Seine initiative Art ermöglichte ein fachliches Pingpong zwischen Ingenieur und Konstrukteur auf Augenhöhe.»

Hans Tschamper, Basler & Hofmann AG

Bei seinen Zeichnungen hält er sich stets an denselben Grundsatz: Nicht der Planmassstab, sondern das Planformat ist die massgebende Grösse. Wie ein Künstler bestimmt er zuerst das Format, bevor er loslegt. Nach seiner Meinung kann Kunst, Verdichtung und Wertschöpfung nur in dieser Begrenzung stattfinden. Standardmässig zeichnet er auf einer Vorlage im Format DIN A1 oder A2 und hält sich an bestimmte Schriftgrössen und Linienstärken, um bei Bedarf jeden Plan auf ein handlicheres Format wie DIN A3 oder A4 reduzieren zu können.

In seinem Schaffen entspricht Bolliger dem Prototyp eines akkurat und strukturiert arbeitenden Konstrukteurs. In seinen frühen Jahren bei Basler & Hofmann half er mit bei der Entwicklung eines Ablage- und Dokumentierungssystems, das teilweise heute noch im Rahmen des Qualitätsmanagements gepflegt wird.

Ein Beruf im Wandel

Nicht nur Walter Bolliger, sondern noch viele andere Konstrukteure jüngerer Generationen haben in den vergangenen Jahrzehnten einen grossen Wandel ihres Berufs miterlebt. Neben wirtschaftlichen Krisen gab es einen technischen und methodischen Wandel in der Planung. Besonders Letzterer hat dazu geführt, dass handgezeichnete Pläne zu einem Nischenprodukt abseits hochproduktiver Prozesse wurden. Das stellt wohlgemerkt nicht die Qualität des Handwerks infrage, macht es aber zunehmend schwieriger, diese Kunstform in die heutigen Planungsabläufe oder -methoden zu integrieren.

Mit der fortschreitenden Digitalisierung wird die herkömmliche Handarbeit dereinst wohl ganz verschwinden, und im Konstrukteurberuf werden immer mehr Programmierfähigkeiten gefragt sein. Und dennoch scheint es – wie im Fall von Flevoland – immer wieder einzigartige Aufgaben zu geben, bei denen die Fähigkeiten eines erfahrenen, handzeichnenden Konstrukteurs gefragt sind.

Wie auch immer sich die Zukunft der Planungsbranche gestaltet, stets werden Konstrukteure einen grossen Anteil am Gelingen eines Bauwerks haben. Egal in welcher Form sie ihrem Beruf nachgehen, werden sie unverändert den in Arbeitsstunden und konstruktivem Sachverstand gemessen grössten Beitrag an die Planung von Bauwerken leisten. Sie sind die wesentlichen Sparringspartner für Ingenieure und Architekten und unentbehrlich für die Umsetzung eines Entwurfs.

Mit ihren Erzeugnissen sind sie zudem Vermittler zwischen der Planung und den realisierenden Handwerkern. Auch wenn sich die Tätigkeiten von Konstrukteurinnen und Konstrukteuren praktisch vollständig vom Reissbrett an den Computer verlagert haben, teilen auch heute noch viele Kollegen dasselbe Berufsethos wie Bolliger.

«Walter Bolliger erlebte ich als hervorragenden Fachmann. Was er konstruiert, ist nicht nur stimmig, sondern auch stets umsetzbar.»

Carlo Galmarini, WaltGalmarini AG

Wenn auch nicht das Handwerk selbst, werden damit zumindest Walter Bolligers Maximen noch lang Bestand haben. In seinen Niederschriften formuliert er beispielsweise: «Ich betrachte das bauliche Gestalten als aktiven, selbstgesteuerten, reflektierten und situativen Prozess. Ich generiere laufend neues Wissen und Fähigkeiten, die ich in unterschiedlichen Situationen umsetzen kann. Ich sehe meine Aufgabe nicht darin, einfach vorgegebene Inhalte zu reproduzieren. Entscheidend ist, was ich mit der Aufgabe mache. Ein innerer Choreograf harmonisiert mir Linien und Flächen, und somit auch das Objekt.»