Auf Spu­ren­su­che über dem Ce­ne­ri-Ba­si­stun­nel

Ein Tunnel ist eine effiziente Lösung, um im Gebirge eine schnelle Verkehrsverbindung zu ermöglichen. Leider bezahlt man jede Durchfahrt mit der nicht vorhandenen Aussicht. Wer oberhalb des neuen Ceneri-­Basistunnels wandert, entdeckt eine Verteidigungslinie aus der ­Aktivdienstzeit, Kastanienwälder, mobile Melkstände und alte Kaltkeller.

Data di pubblicazione
30-10-2020
Urs Wiederkehr
Bauingenieur und Leiter des Fachbereichs Digitale Prozesse beim Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein SIA

Zugegeben: Es hätte eine bequemere Möglichkeit bestanden, um von der Magadinoebene an den Golf von Lugano zu gelangen als über die Cima di Dentro, vorbei an der Cima di Fuori und entlang des Monte Bigorio. Wer nämlich in Bellinzona in den Zug steigt, erreicht das gut 20 km südlich liegende ­Lugano in 27 Minuten, durch den im kommenden Dezember in Betrieb gehenden Ceneri-Basistunnel gar in 15 Minuten. Um aber zu entdecken, was sich auf den Hängen und in den Tälern oberhalb des Tunnels befindet, muss man den mühsamen Weg wählen: zu Fuss, immer möglichst nah auf Wegen entlang der Linienführung der Oströhre des Basis­tunnels, denn durch diese werden die Züge ab Dezember in Nord-Süd-Richtung fahren.

Arboreto Coperà

Es ist beruhigend: Trotz intensiver Recherche vor der Wanderung findet man noch Sehenswürdigkeiten, die nicht eingeplant sind. Etwa das Arboreto Coperà, eine in den 1950er-Jahren zu Studienzwecken angelegte Pflanzung verschiedener Bäume. Sie dient der Identifizierung neuer Baumarten, die nach dem Auftreten von Krankheiten an Kastanienbäumen in der Region angepflanzt werden können. Die Versuchsanlage wird vom Kanton Tessin, der Gemeinde Sant’Antonino und der Eidgenössischen Forschungs­anstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) unterhalten, die in Cadenazzo einen Tessiner Ableger hat. Ein didaktischer Lehrpfad liefert weiterführende Informationen für Interessierte.

Wald und Lichtungen

Viele der Wege verlaufen in den teils dichteren, teils lockereren Wäldern, die mit Forststrassen durchzogen sind. Wer den Schatten im Wald nutzen will, tut gut daran zu beachten, dass für die Strassen teilweise breite Schneisen in den Wald geschlagen wurden – und so die Sonne intensiv auf den Strassenschotter brennt. Der Wald ist auch Forschungsgegenstand: Oberhalb von Coperà sind an verschiedenen Bäumen Messinstrumente installiert, die aktuelle Daten zum Wald sammeln.

Wegen der immer wieder auftretenden Waldbrände sind feste Wasserleitungen mit Hydranten eingerichtet. Auch die dafür not­wen­digen Reservoirs sind nicht zu übersehen. Dass die Wälder auch heute noch genutzt werden, zeigen diverse Hinweistafeln, die darlegen, dass sich die Kastanienwälder auf Pri­vat­grund­stücken befinden und das Sammeln der Früchte den Besit­zerinnen und Besitzern vorbehalten ist.

Verteidigungslinien aus früheren Zeiten

Zum Schutz des Gotthards, aber auch des Mittellands wurden vor dem Ersten Weltkrieg drei Fortifikationen geplant: um Murten, am Solothurner Hauenstein und auf den Anhöhen zwischen Lago Maggiore und Bellinzona zur Sicherung der südlichen Einfallachse. Bis zum Zweiten Weltkrieg machte die ­Waffentechnik enorme Fortschritte. Deshalb mussten auch die Richtung Lugano liegenden Gebiete bis Gan­dria ins Verteidigungsdispositiv eingebunden werden. Spuren davon sind bis zum Berggipfel des Mattro vorhanden.

Auch die Erschliessungsstrassen von der Magadinoebene auf die Cima di Dentro stammen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, als die Armee noch aufs Pferd und auf die Infanterie setzte. Diese Strassen und Wege werden heute rege von Mountainbikerinnen und -bikern genutzt und sind über die Website «Moun­tain­bikeland» von schweizmobil.ch zugänglich.

Die Überreste der Unterstände aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg sind über das Projekt www.forti.ch bekannt und über Wandervorschläge erlebbar gemacht worden. Für Wanderinnen und Wanderer ist es auf jeden Fall ein Glück, dass sie nicht auf dem Gipfel des Mattro in den Well­blech-­Unter­stän­den, Typ «Karpaten», über­nach­ten müssen wie die Soldaten während der Ak­tivdienstzeit von 1939 bis 1945.

Heute wird das Gebiet vom Ausbildungszentrum der Spezialkräfte der Armee – Grenadiere und Fallschirmaufklärer – rund um den Waffenplatz Isone in Beschlag genommen. Für Wandernde sind die Sperrgebiete aber zu bestimmten Zeiten zugänglich.


Natur pur

Oft folgen die Wege einem Talhang. Die Belohnung für den Umweg gibt es in Form eines Blicks auf einen Wasserfall oder mindestens einen idyllischen Wildbach, der über eine Furt, über exakt gelegte Gneisplatten oder eine kleine Brücke überschritten wird. Wenn der Weg auf dem Gegenhang seine Fortsetzung unterhalb einer Felsrippe findet, verliert der Wandernde einige Höhenmeter, weil die Wegrichtung hinaufzeigen sollte. Interessant ist das Nebeneinander von wasserreichen und wasserarmen Gebieten. So weist nur noch der Name «Gola di Lago» auf den mittlerweile ausgetrockneten See hin. Stattdessen bildet ein goldrötlich gefärbtes Hochmoor ein Naturparadies.

Wer meint, Alpwirtschaft werde im Tessin nur in der oberen Leventina betrieben, wird hier eines Besseren belehrt: Viele Alpen bieten nicht nur Agrotourismus an, sondern produzieren in den Sommermonaten auch diverse Käsesorten wie Formagella, Büscion, Zinkarlin und Ricotta. Kühe, Ziegen, Schafe und Lamas weiden auf den Alpen, am Monte Bigorio ist gar ein mobiler Melkstand im Einsatz.

Was im Monte-Generoso-Gebiet die Nevère sind, alte Schneekeller für das Kühlhalten von Nahrungsmitteln, sind hier die Cassinelli: kleine, zum grössten Teil in den Hang gebaute Steingebäude, die als Kaltkeller gedient haben und durch die Bäche oder Teile davon durchgeleitet worden sind. Die an den Türen hängenden Schlösser zeigen, dass einige bis heute in Gebrauch sind.

Ferien auf der Alp

Viele Gebäude im Gebiet oberhalb des Ceneri-Basistunnels stehen ausserhalb der heutigen Bauzonen. So auch die Casa P.A.M. bei Condra – benannt nach den drei Kindern Pia, Antonio und Mario – des Architekten und Bauherrn Mario Chiattone. Dieses Bauwerk aus den 1930er-Jahren ist typisch für die Alp, die von den reichen Luganesi Anfang des 20. Jahrhunderts als Feriensitz entdeckt wurde. Zum einen sind Alphütten umgebaut worden, zum anderen ist die Siedlung mit neuen Gebäuden ergänzt worden, sogar mit einer Kapelle. Umgebaute Häuser oder gar Häusergruppen stehen öfters auf den vielen Lichtungen und Wiesen. Als Materiallager dienten oft Ruinen von alten Gebäuden in der Nähe.

Der Wald hat aber auch ganze Häuser, selbst kleine Weiler, komplett in Besitz genommen. Die Gebäude verfallen, und aus ihren Grundmauern wachsen massive Bäume. An den Waldrändern stehen Hochsitze, erstellt aus allerlei Materialien: Gerüstelemente, Gestelle von Bürostühlen, Bauholz oder aus Tarnmaterial der Armee. Die Abgelegenheit macht erfinderisch und liefert Anreize für eine kleine Kreislaufwirtschaft. Um die Häuser herum liegt aber auch viel Zivilisationsmüll, der vermutlich nur dank der grossen Helikopterdichte im Tessin dorthin gelangt ist.

Waschhäuser und sakrale Gebäude

In Camorino, Isone, der Klosteranlage von Bigorio und in weiteren Ortschaften der Agglomeration von Lugano stehen Aufmerksamkeit erregende Kleinbauten, wie beispielsweise das Waschhaus in Bigorio. Die Orte sind durch ein kunstvoll angelegtes Wegnetz verbunden, das sich zu entdecken lohnt. Die Trockenmauern am Wegrand sind zum einen ein Paradies für Eidechsen und Pilze und zum anderen Zeugen aus einer Zeit, als hydraulische Bindemittel noch nicht verfügbar waren.

Der kulturelle Höhepunkt der Wanderung ist das Abendmahl-Bild in der Kirche Sant'Ambrogio in Ponte Capriasca. Gemäss Don Luigi G. Xerri, Pfarrer und Verfasser einer erläuternden Schrift (1988), ist es nicht eine Kopie, sondern eine zeitgenössische Interpretation des weltberühmten und zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Da-Vinci-Originals im Refektorium der Mailänder Kirche Santa Maria delle Grazie. Tatsächlich ist die Ähnlichkeit frappant. Das Gemälde stammt wohl von einem von Leonardos Meisterschülern – von welchem, weiss man nicht.

Wachhaus oder Kapelle?

Sowieso, die Volksfrömmigkeit muss früher gross gewesen sein. Überall sind Altäre, Bildstöcke und Kapellen zu finden. Der überraschendste Fund: ein Bildstock auf dem Weg nach Gola di Lago. Am Hang angeordnet, ist er nur über einen immer wieder unterbrochenen Weg zugänglich. Sitzt man schliesslich davor, geniesst man eine herrliche Aussicht in Richtung Monte Tamaro.

Vom Dorfkern in Bigorio führt ein Kreuzweg mit Sgraffiti-Malereien zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler zum über dem Ort angesiedelten Kapuzinerkloster. Der Kreuzweg zählt übrigens zu den historischen Verkehrswegen von nationaler Bedeutung.

Zu Spekulationen regt ein kleines Gebäude im Raum Gola di Lago an, das an einem Weg liegt, der bereits im Mittelalter rege benutzt wurde: Ist es nun ein Wachhaus aus dem Zweiten Weltkrieg oder eine dem heiligen Gallus geweihte Kapelle? Den Eingang ziert ein metallenes Kreuz. Drinnen befinden sich eine cheminée-artige Feuerstelle, eine kleine Sitzbank und ein religiöses Relief. Die eingravierte Zahl «MCMXXXIX» (1939) weist auf das Jahr des Wiederaufbaus hin – das Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg begann

Ohne Röntgenblick zum Südportal

Ein Röntgenblick durchs Gestein hinunter zum Ceneri-Tunnel wäre besonders beim Örtchen Sare praktisch: Hier sind bereits Massnahmen getroffen worden, damit später eine Fortsetzung der Linie nach Süden mit einer Umfahrung von Lugano erstellt werden kann. Ohne diese Vorinvestition müsste der Ceneri-Basistunnel zwei Jahre geschlossen werden, um den künftigen Anschluss zu realisieren.

Auch unterhalb von Condra und knapp hinter dem Tunnelportal in Camorino wären Röntgenaugen hilfreich. Der grösste Teil des Basistunnels wurde von Sigirino im Vedeggio-Tal, an der alten Ceneri-Eisenbahnstrecke und der Autobahn A2 gelegen, über einen Erkundungs- und einen Fensterstollen ausgebrochen. Unterhalb von Condra liegt die zugehörige Installationskaverne. Da der Anschluss Locarno und im Störungsfall der einröhrige Tunnelbetrieb gewährleistet sein müssen, ist beim Nordportal ein Verzweigungsbauwerk mit einer dritten Röhre erstellt worden. Beim Nordportal steht in einem frisch angelegten Park der Gedenkstein für die beiden Tunnelarbeiter, die beim Bau tödlich verunglückt sind.

Der Tunnel endet nach rund 15 km in Vezia, in der Agglomeration von Lugano. Im Gegensatz zum Nordportal, wo ein kühn geschwungener Viadukt den Anschluss an die Stammlinie ermöglicht, ist hier eine fast parallele Einführung an die Linie Richtung Bahnhof Lugano möglich geworden

2000 Höhenmeter bergauf, 1900 bergab

15’452 km misst die Oströhre des Ceneri-Basistunnels. Die Wanderung führte knapp 36 km von Camorino über die Cima di Dentro und entlang des Monte Bigorio bis nach Vezia. 28 Mal wurde der darunterliegende Tunnel traversiert. Obwohl der Tunnel vom Sopra- ins Sottoceneri führt, liegt das Südportal 112.5 m höher als das Nordportal. Das zeigen auch die bewältigten Höhenmeter: 2000 bergauf, rund 1900 bergab.

Die Wanderung dauerte 17 Stunden, aufgeteilt in zwei Etappen: von Camorino nach Isone und von Isone nach Vezia. So exotisch ist die Route über die Cima di Dentro und entlang des Monte Bigorio übrigens gar nicht: Früher wurde sie regelmässig begangen, denn am Monte Ceneri wurden immer wieder die Postkutschen überfallen – zum letzten Mal 1874. Die Mailänder Herrschaften liessen sogar bis auf den Ceneri-Pass Kontrollen durchführen, um eidgenössischen Söldnern den Weg in den Süden zu verunmöglichen und den Handel zu überwachen. Heute liegt die Wanderroute ausserhalb der touristischen Hotspots des Tessins. Aber vielleicht ist das Gebiet gerade deswegen sehenswert.