Ima­gi­na­tion und Ana­lyse

Symposium «Form Finding, Form Shaping, Designing Architecture» an der Accademia di Architettura

Der Titel des Symposiums Mitte Oktober an der Accademia di Architettura in Mendrisio liess sich etwas sperrig an: «Form Finding, Form Shaping, Designing Architecture: Experimental, Aesthetical and Ethical Approaches to Form in Recent and Postwar Architecture». Doch die Vorträge, die auf zwei Tage verteilt zu hören waren, erwiesen sich als durchaus handlich – und anregend.

Date de publication
31-10-2013
Revision
30-10-2015

Die erste Ausstellung, die die Accademia di Architettura di Mendrisio 1996 kurz nach ihrer Gründung ausrichtete, war Eladio Dieste und Frei Otto gewidmet unter dem Titel «esperienze di architettura: generazioni a confronto».1 Ausgehend von Frei Ottos Art der Formfindung befasste sich die Akademie an einem zweitägigen Kongress am 10. und 11. Oktober in diesem Jahr erneut mit der Form und den Prozessen ihrer Entstehung. 

Organisiert von Sonja Hildebrand und Elisabeth Bergmann wurde das Thema in vier Blöcken umrissen: prozessuale Aspekte der Formfindung, kulturelle Parameter der Form, Konstruieren von Form heute und architektonische Parameter der Form. Eingebettet in die auf die beiden Tage verteilten Blöcke war ein wiederum durch ein kurzes Filminterview von Bergmann mit Frei Otto eingeleitetes, abendliches Round-Table-Gespräch.

Auf Interdisziplinarität angelegt

Die Vielfalt der Referate widerspiegelte das Interesse, auf das Formfindung in der Nachfolge Frei Ottos stiess. Um die fünzig Forscherinnen und Forscher hatten auf den «Call for papers» reagiert und Abstracts eingereicht. Entsprechend breit war das Spektrum, das die ausgewählten Referentinnen und Referenten abdeckten. Damit war der interdisziplinäre Dialog potenziell schon in dieser Auswahl angelegt. Sie offenbarte aber auch Grenzen der Verständigung – einsetzend bei der Unterscheidung zwischen den titelgebenden Begriffen «Form Finding» und «Form Shaping».

Schlüssigerweise galt das Augenmerk des ersten Blocks denn auch den prozessbezogenen Aspekten der Formfindung. Ihnen widmeten sich der in Mendrisio lehrende Gabriele Neri («Teoria, prassi e cultura del modello in scala ridotta nella ricerca della forma strutturale del XX secolo»), Martin Kunz vom Karlsruher Institut für Technologie («Form Finding with Models and their Variations in Time, in the Atelier Frei Otto [...]»), Daniela Fabricius von der Princeton University, USA («Material Calculation: Frei Otto’s Soap Film Models»), und der an der ETH Zürich lehrende Toni Kotnik («Livio Vacchini: Forms of Dialogue»).

Experimentell und künstlerisch

Gabriele Neri spannte das Feld weit auf – von Eladio Dieste und Edoardo Torroja über Sergio Musmeci und Pier Luigi Nervi zu Heinz Isler und Frei Otto – und illustrierte gleichzeitig, dass die Grenzen zwischen Formfindung und Formgestaltung im Grunde fliessend sind. Während die Ende des 19. Jahrhunderts geborenen Ingenieure das Modell vor allem dazu eingesetzt hätten, um die Tragfähigkeit einer bereits definierten Form zu prüfen, sei die folgende Generation (geboren ab den 1920er-Jahren) darangegangen, das Modell selbst zum Formfindungsinstrument zu machen.

Den hochgradig experimentellen Charakter von Frei Ottos Formfindungsprozessen führte Martin Kunz anhand der Hängemodelle ebenso anschaulich vor wie Daniela Fabricius dessen frappierend künstlerischen Einschlag anhand der Seifenhautmodelle.

In diesem Kontext mutete Toni Kotniks Verweis auf Livio Vacchini nicht gerade naheliegend an. Doch denkt man an das 2010 fertiggestellte Faltwerk der Sporthalle Mülimatt in Brugg / Windisch, relativiert sich die Distanz … Dennoch wäre er wohl im vierten Block «Architectural Parameters of Form» besser aufgehoben gewesen – zusammen mit Dirk van den Heuvel (TU Delft, NL, «Topology, Finding Processes and Image Systems: Revisiting the British Discourse of the 1950s»), Roberta Grignolo (AAM/USI, «‹Cladding Tectonics› in Contemporary German-Swiss Architecture as Return to a Construction-Based Architecture») und Alexandra Stara (Kingston University London, «Beyond Form: The Relevance of the Tectonic»).

Natur der Konstruktion

Sehr konkret widmete sich im dritten Block «Constructing Form Today» Joseph Schwartz (ETH Zürich) dem Zusammenspiel zwischen Ingenieur und Architekt bei der Formfindung – dem interdisziplinären Prozess zwischen ihm und Christian Kerez bei der Projektierung des Schulhauses Leutschenbach, des Museum of Modern Art in Warschau und, eingehender noch, bei derjenigen des Holcim-Competence-Center in Wildegg illustrierend. Auf ihn folgte Mario Monotti (AAM / USI) mit einer überaus anschaulichen Demonstration der immer von der Natur und ihren Gesetzen abhängigen «arte del costruire» sowie der Beziehung zwischen «la natura e l’uomo». 

Dass das Modell auch im Zeitalter der computerisierten Formfindung keineswegs obsolet geworden ist, zeigten etwa die Experimente, die Henning Dürr (Hochschule Anhalt, D) unter dem Titel «Development of a Method to Harden Mechanically Prestressed Membrane Structures by Spraying with Concrete» vorführte, und die von Stefan Neuhäuser (Universität Stuttgart) präsentierte «Stuttgart SmartShell – A Full Adaptive Shell Structure». Die adaptive Schale wäre ein Schritt zu einer beweglichen Architektur – einem lang gehegten Architektentraum!

Spätestens hier erwies sich die Abgrenzung von «Form Finding» gegenüber «Form Shaping» – die Form über konstruktive Parameter zu ermitteln oder sie nach ästhetischen Kriterien zu gestalten – als delikat. (Schon Sergio Musmeci hatte seinerzeit Pier Luigi Nervi kritisiert, dessen Konzeptionen seien zu sehr bildhauerisch gedacht …)

Infrage stand weniger die Berechtigung, die Form aus der Konstruktion abzuleiten, als die Methode, mit der dies erfolgt. «Die Methode ist nie neutral!», betonte Gabriele Neri. Von ihr hänge das Ergebnis ab, oder sie beeinflusse es jedenfalls stark. Dabei scheinen instinktive Annäherungen – Pier Luigi Nervis «Intuition» und Eduardo Torrojas «Triumph der Imagination» – mit analytischen Techniken – der Finite-Elemente-Methode (FEM) – zu kollidieren. Erfrischend provokant fragte Neri denn auch: «Und haben die neuen Berechnungsmethoden das Versprechen, praktisch jede Form generieren zu können, eingelöst » 

Beweglicher Leichtbau …

Überaus anregend war der unter «Cultural Parameters of Form» eingereihte Exkurs «A Man A-Riding Upon Nawthin’ – Light Structures and New Mobility Cultures Around 1900» des am Karlsruher Institut für Technologie lehrenden Kurt Möser. Er beleuchtete das Phänomen des Leichtbaus anhand mobiler Geräte – Velos, Segelboote, Fahrrad-Flugzeuge. Er hob einerseits die Bedeutung hervor, die dem menschlichen Körper zukam, um diese fahrbaren Untersätze zu stabilisieren und im Gleichgewicht zu halten. Andererseits verwies er darauf, dass diese Apparaturen stark weiblich konnotiert waren. Insbesondere Werbeplakate für Fahrräder zeigten Frauen in wehenden Gewändern auf Velos durch die Lüfte schweben. Während die Ingenieure den leichten Strukturen skeptisch gegenüber gestanden seien, habe die Kunst das Lichte und Transparente vereinnahmt.

... als Reaktion auf Monumentalität

Sean Keller (Illinois Institute of Technology, Chicago) erkannte unter «Anti-Monumental Anti-Nationalist National Monumentality: The Postwar Politics of Form Finding» in der Hinwendung zu leichten, ephemeren Strukturen auch eine Reaktion auf die mit der Naziideologie verbundene Monumentalität der Architektur des Dritten Reichs. 

Entsprechend schienen Elisabeth Bergmann (AAM/USI) in ihren Ausführungen «Frei Otto. Tesi su forma, estetica e etica nella sua ‹filosofia architettonica› e la loro ricezione» vor allem die ethischen Aspekte in Frei Ottos Werk der Würdigung wert. In gewisser Weise griff Lara Schrijver (TU Delft, NL) diesen Faden auf, indem sie anhand von Rem Koolhaas und Oswald Mathias Ungers «A plausible relationship between the formal and the social » zu entdecken suchte.

«Less aesthetics, more ethics» 

Die Entfernung zu Frei Otto fand hier indes auch einen Höhepunkt. Es schien, als liessen sich die beiden Stränge «konstruktiv» und «ethisch» nicht miteinander verknüpfen bzw. als hätten sich diese seit Frei Otto voneinander gelöst. Für ihn war die Findung der adäquaten Form nicht so sehr gekoppelt an den Wunsch nach einer möglichst eleganten, beeindruckenden Lösung, sondern in erster Linie Frucht eines nachhaltigen Umgangs mit den Ressourcen und einer sozialen Auffassung architektonischen Schaffens.

Die Frage nach dem Zusammenklang zwischen Ästhetik und Ethik am Round Table – die einen an den Titel der Architekturbiennale 2000 in Venedig erinnerte – brachte die Teilnehmer indes sichtlich in Verlegenheit. Sie gipfelte in dem Ausspruch: «Ich weiss nicht, was ich mit diesem Begriff anfangen soll.» Augenscheinlich war das ohnehin ambitionierte Programm mit der Ethik überfrachtet – und doch gibt es zu denken, wenn die Elite an den Hochschulen auf ethische Fragen mit Sprachlosigkeit reagiert.

Anmerkung

  1. Eladio Dieste e Frei Otto. Esperienze di architettura: generazioni a confronto; ciclo di conferenze dell’Accademia di Architettura, Mendrisio – Centro Manifestazioni Mercato Coperto, Mendrisio, 6. Juli 1996, Milano 1998. (Atti di un ciclo di conferenze tenuto al Centro Manifestazioni Mercato Coperto di Mendrisio [1940–1943] nel 1996.)
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