«Am Schluss ­funk­tio­nierte das Sys­tem tatsä­chlich!»

Vertikalbegrünungen tragen zur Biodiversität und Hitzeminderung bei. Gefragt sind einfache Lösungen, die sich auch an Bestandsbauten nachrüsten lassen. Claude Marbach vom Bieler Architekturbüro :mlzd stellt im Interview sein System vor.

Date de publication
14-07-2023

Die Vorteile von begrünten Fassaden liegen auf der Hand: Unter anderem wirken sie der urbanen Überhitzung entgegen, verbessern die Luftqualität, fördern die Biodiversität und vermögen den Lärm innerhalb und ausserhalb von Gebäuden zu vermindern. Soweit zumindest die moderne Auffassung dieser kontrollierten Bewuchsform. Dabei ist die Idee, Bauten – aus welchen Gründen auch immer – zu begrünen, nicht neu: Mit ein wenig Fantasie könnte man die Hängenden Gärten der Semiramis zu Babylon als erstes überliefertes begrüntes Bauwerk bezeichnen.

Höhenflug im dritten Anlauf

Auch die Fassadenbegrünung in der Form, wie wir sie heute kennen, ist kein Novum. Mit der Gartenstadtbewegung in England und Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts versprach man sich bei der planmässigen grünen Stadtentwicklung von «Fassadengärten» Linderung für die zunehmend schlechter werdenden Lebensbedingungen in Grossstädten. Als eigentlicher Erfinder der Fassadenbegrünung wird jedoch der Amerikaner Stanley Hart White, Professor für Landschaftsarchitektur an der Universität von Illinois, gehandelt. Im Jahr 1938 liess er sich eine vegetationstragende architektonische Struktur als System patentieren: Die «Green Wall» war damit als technische Erfindung geboren.

Wirtschaftliche Unsicherheiten und schliesslich der Zweite Weltkrieg brachten aber weitaus andere Sorgen als die Verbesserung des Grossstadtklimas mit sich. Und auch im Nachkriegsboom war kaum Platz für landschaftsarchitektonische Ideen; das Interesse an grünen Fassaden – und auch das Wissen dazu – drohten in Vergessenheit zu geraten. Erst Anfang der 1980er-Jahre griff der französische Botaniker Patrick Blanc die Idee von White wieder auf und entwickelte sie weiter. Auch er patentierte sein Begrünungssystem, die «Mur végétal», und gestaltete in der Folge – oftmals zusammen mit namhaften Architekten – Wände und Fassaden auf der ganzen Welt; unter anderem diejenigen des knapp 200 m hohen «Le Nouvel KLCC» in Kuala Lumpur zusammen mit Jean Nouvel.

Neues Kernthema

Fassadenbegrünungen beziehungsweise vertikale Gärten erleben also wieder einen Aufschwung; nicht zuletzt wegen der drängenden Klimaprobleme, denen sich die urbanen Zentren stellen müssen. Das grösste Flächenpotenzial für solche Massnahmen bieten aufgrund ihrer Population allerdings Bestandsbauten. Das haben mittlerweile auch die zuständigen Behörden erkannt: Grün Stadt Zürich beispielsweise bietet aktuell ein Förderprogramm für Vertikalbegrünung an. Doch wie lassen sich Bestandsgebäude mit geeigneten Mitteln entsprechend den neuen klimatischen Anforderungen ertüchtigen? Das Bieler Architekturbüro :mlzd («mit Liebe zum Detail») hat sich dieser Fragestellung angenommen und komplementäre Lösungsansätze entwickelt. Claude Marbach, Partner bei :mlzd, leitete das Pionierprojekt einer nachgerüsteten Fassadenbegrünung am firmeneigenen Gebäude und erzählt im Interview von seinen Erfahrungen und Ideen.

espazium: Herr Marbach, welche Relevanz hat das Thema Fassadenbegrünung aktuell in der Architektur?

Claude Marbach: Begrünte Fassaden gewannen im Kontext von Nachhaltigkeitsüberlegungen an Bedeutung, allerdings gilt es zu unterscheiden, aus welchen Gründen und in welcher Qualität man eine Fassade begrünt. Auf Plänen ist in der Fassadenansicht schnell eine grüne Pflanze gezeichnet – damit ist aber noch nicht sichergestellt, dass sie den jeweiligen Anforderungen entspricht und zum Beispiel den erwünschten Beschattungseffekt erzielt. Dahinter steckt also mehr. Die Begrünung ist eines von vielen Themen im Zusammenhang mit der Fassade, aber kein Muss. Es sind stets die jeweiligen Voraussetzungen und Bedürfnisse zu berücksichtigen und abzuwägen: Wenn etwa eine gebäudeintegrierte Photovoltaikanlage für den Betrieb eines Gebäudes mehr Nutzen bringt, wäre es sinnlos, die Fassade zu begrünen.

Eine vor diesem Hintergrund sorgfältig geplante Fassadenbegrünung kann aber auf jeden Fall eine Qualitätsverbesserung für das Gebäude selbst und die Nutzenden sein und eine positive Wirkung auf das Stadtklima haben.

Wie entstand Ihr Pionierprojekt und woraus besteht es?

Wir zogen vor zweieinhalb Jahren mit unserem Büro an diesen Standort und hatten dabei die Möglichkeit, die Liegenschaft zu erwerben. So konnten wir eigene Ideen entwickeln, um das Gebäude für die geänderten Anforderungen zu ertüchtigen. Nun hat dieses Gebäude – eine ehemalige, nach den Plänen von Otto Rudolf Salvisberg erstellte Manufaktur für einen Zulieferer der Uhrenindustrie – sehr grosse Fensterflächen und wir suchten nach Lösungen für den sommerlichen Wärmeschutz. Gleichzeitig befanden wir uns inmitten der Pandemie und hatten neben dem Tagesgeschäft Zeit, uns diesem Thema zu widmen. So kam uns irgendwann die passende Idee und wir erarbeiteten eine Studie. Die Beschäftigung damit machte uns zunehmend Spass und wir konnten auch fachkundige Partner dafür gewinnen.

Unser Pilotprojekt besteht im Wesentlichen aus einem herkömmlichen, selbsttragenden Baugerüst mit einem begehbaren Balkon, ein- und mehrjährigen Pflanzen in Badewannen, Kletternetzen und einem Bewässerungssystem. Die Gerüstböden sind zudem Bestandteil der Verschattung. Das klingt simpel, erfordert aber enorm viel Know-how. Im gemeinsamen Wirken mit dem Gerüstbauer, der Pflanzenberaterin, dem Substrathersteller und einer Immobilienanlagegesellschaft brachte jeder sein Wissen ein und am Schluss funktionierte das System tatsächlich!

Was waren die grössten Herausforderungen bei der Umsetzung des Projekts und welche Erkenntnisse konnten Sie daraus gewinnen?

Es gab sehr viele Herausforderungen im Kleinen. Diese betrafen die Art der Bepflanzung, die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Technik des Gerüsts und der Installationen, die Nutzung und nicht zuletzt die Wirtschaftlichkeit. Diese Fragestellungen waren aber mit dem nötigen Willen und der Freude an der Sache alle beantwortbar. Ich denke, die grössten Herausforderungen werden noch kommen; wir entwickelten das Ganze ja nicht nur für uns selbst, sondern wollten auch Wissen generieren, das wir fortan in unsere Projekte einbringen können.

Der subjektive Eindruck aus der ersten Saison bei uns war jedenfalls sehr positiv. Nun wollen wir dies mit Fakten belegen. Zusammen mit Spezialisten von Amstein + Walthert installieren wir an verschiedenen Stellen innen und aussen am Gebäude Messpunkte, um Indikatoren wie die Beschattung oder die klimatische Wirkung zu erfassen.

Liesse sich Ihr Lösungsansatz skalieren und auf beliebige Bestandsbauten übertragen?

Auf jeden Fall! Es handelt sich jedoch nicht um eine Modullösung – vielmehr ist es ein System, das den jeweiligen Anforderungen wie Architektur, Orientierung, Umfeld, baurechtlichen Randbedingungen und den individuellen Bedürfnissen der Gebäudeeigentümer und -nutzerinnen Rechnung tragen muss. Meistens kommen auch bedeutende Gestaltungsfragen hinzu, denen sich der Zweck des Systems unterordnen muss – wir wollen ja nicht einfach ein Gerüst vor eine gestalterisch wertvolle oder gar geschützte Fassade stellen.

Nun arbeiten Sie bereits an zwei weiteren «Testprojekten». Welche Ziele verfolgen Sie damit und wer ist daran beteiligt?

Im Rahmen dieser Testprojekte übertragen wir das System auf zwei Bestandsbauten anderer Eigentümer. Eines davon wird am Firmengebäude von einem unserer Partner aus dem Pionierprojekt, der Firma Hauert, in Grossaffoltern installiert. Das andere Testprojekt ist noch nicht abschliessend geplant, soll aber auch am Gebäude eines Partners umgesetzt werden. Dabei handelt es sich um eine vergleichsweise grosse Liegenschaft. Vor dieser Skalierung habe ich durchaus Respekt.

Zudem werden wir diesen Sommer auf einer Versuchsanlage verschiedene  Bepflanzungsarten, Substrate und Bewässerungssysteme testen. Dafür stellen wir bei uns im Hinterhof ein horizontal orientiertes Gerüst mit Pflanzenbadewannen auf. Unsere Pflanzenberaterin aus dem Pionierprojekt unterstützt uns dabei. Wir hatten uns auch überlegt, diese Versuchsanlage von einer Hochschule wissenschaftlich begleiten zu lassen. Unser Ziel ist aber, möglichst schnell praktisches Wissen zu generieren, weshalb wir auf Letzteres verzichten. Nichtsdestoweniger wäre eine wissenschaftliche Begleitung bestimmt spannend.

Längerfristig könnte ich mir auch vorstellen, das erarbeitete Wissen in eine separate Firma zu übertragen und von unserem Kerngeschäft, der Architektur, zu entkoppeln.

Brächte der komplementäre Ansatz auch bei Neubauten Vorteile gegenüber einer integralen Fassadenbegrünung?

Ein Vorteil gegenüber einer integralen Begrünung wären bestimmt die Kosten. Wie die Erfahrung aus unserem Pionierprojekt und die Kostenrechnung für das erste Testprojekt zeigen, verursacht unser System inklusive Planung und Betreuung für die ersten drei Jahre rund 800 CHF/m2. Diese absoluten Kosten können auch in einem relativen Kontext betrachtet werden: Wenn sich damit etwa Sonnenstoren oder gar ganze Balkone einsparen lassen, ist das – zumal komplementäre Systeme mit den Lebensdauern üblicher Fassadenelemente problemlos mithalten können – ein doppelter Gewinn. Und auch wenn ich dem System zuvor den modularen Charakter abgesprochen habe, kann es in beinahe beliebigen Abmessungen innert kürzester Zeit realisiert und bedarfsweise auch erweitert werden.

Dieser Artikel ist erschienen in «Fassaden | Façades | Facciate 2023 – Nachhaltige Ansätze».

Weitere Beiträge zum Thema finden Sie in unserem digitalen Dossier.

Fassadenbegrünung Alleestrasse 25, Biel

 

Bauherrschaft
:mlzd, Biel

 

Architektur
:mlzd, Biel

 

Baugerüst
Gatti, Nidau

 

Pflanzenberatung
Gartenberatung Anna Capol, Biel

 

Weitere Partner
Hauert HBG Dünger, ­Grossaffoltern; Espace Real Estate, Solothurn

 

Facts & Figures

 

Planung
2021–2022

 

Fertigstellung
2022 (Aufbauzeit: rund 1 Woche)

 

Kosten
ca. 800 CHF/m2

 

System
Baugerüstsystem mit ­Begrünungsraster

Sur ce sujet