«Man muss in ers­ter Li­nie an der Geo­me­trie ar­bei­ten»

Die wohltuende und konzentrationsfördernde Wirkung von Tageslicht ist unbestritten. Auf die Formulierung der Tageslichtnorm muss nun die Integration der erkannten Richtwerte ins Baugeschehen folgen. Der Lichtdesigner Michael Josef Heusi schildert den Stand der Entwicklungen.

Date de publication
14-10-2022

TEC21: Herr Heusi, warum legen Sie mit dem Modul Tageslicht im CAS Lichtgestaltung den Fokus auf Bildungsbauten?

Michael Josef Heusi: Dahinter steckt eine sozio­kulturelle Überlegung. Natürliches Licht bestimmt die Qualität des Lernumfelds wesentlich. Die Typo­logien des Bildungsbaus beeinflussen in chrono­biologischer Hinsicht die körperliche und geistige Entwicklung, denn seine Gestalt wirkt auf unseren ganzen Seh­apparat und die Kognition ein.

Ausserdem sind Bildungsbauten im Gegensatz zu Büros sehr gut dokumentiert. Eine gewisse Schlitz­ohrigkeit hat allerdings auch dazugehört: Der Schulhausbau ist vor allem für viele jüngere Architekturbüros attraktiv. Es gibt viele Wettbewerbe zu Ersatzneubauten und Sanierungen, und die Ergebnisse werden in der Fachpresse rege diskutiert.

Welche Wirkung hat das Tageslicht in Schulräumen auf Lehrpersonen und die Schülerschaft?

Das ist zunächst die visuelle Wirkung, die unsere Sehleistung beeinflusst. Dazu kommt der Aspekt der biologischen Wirkung von Licht (vgl. TEC21 19/2022 «Unter den Wolken»). Wenn wir mit dem Tages­licht synchron laufen und die Lichtdosierungen, die uns der Alltag bietet, geniessen können, ist auch unser Hormonhaushalt im Gleichgewicht. Vereinfacht gesagt sind die Gegenspieler Melatonin als «Schlaf­ermöglichungshormon» und Serotonin als «Aktivierungshormon» entscheidend. Deren Ausschüttung ist bei mangelndem Tageslicht beeinträchtigt. Das kann zu Stimmungsschwankungen führen, aber auch zu schwerwiegenden körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen. Bekannt ist das Seasonal Affected Disorder (SAD), durch das im Winter viele Menschen Mühe haben, den Alltag zu bewältigen.

Kann das Kunstlicht diese Bedürfnisse nicht stillen?

Teilweise schon. Die Industrie ist natürlich auf das Thema aufgesprungen und bietet Beleuchtungen an, die eine Tageslichtkurve nachahmen. Die Frage ist, ob das überall sinnvoll ist. Wenn wir in einem Gebäude arbeiten, erwarten wir gemäss Norm vom Kunstlicht eine Helligkeit von 500 Lux. Draussen herrschen aber bei bewölktem Himmel 5000 Lux, und wenn die Sonne scheint, 100000 Lux und mehr. Wollten wir diese Dosierungen nachbilden, würde das zu einer energetischen Absurdität führen. Bevor ich anfange, etwas mit Kunstlicht zu kompensieren, sollte ich doch zuerst prüfen, was ich aus dem Tageslicht herausholen kann. Ich halte es für verfehlt, wenn wir mitten in der Debatte über Nachhaltigkeit und verantwortungsvollen Umgang mit Energie über die Kompensation von Tageslicht im Bildungsbau nachdenken. Wir haben in unseren Breitengraden genug Tageslicht.

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Als gewissenhafter Lichtdesigner frage ich mich ausserdem: Ist das denn richtig, wenn ich den Menschen zum Beispiel den ganzen Winter hindurch genau gleich stimuliere? Ich bin da sehr skeptisch. Man muss ja auch mal müde sein dürfen.

Welche architektonischen Mittel sind naheliegend, um die Tageslichtsituation in Schulräumen zu verbessern?

In unserer Forschungsarbeit suchen wir nach architektonischen Geometrien, bei denen Tageslicht effizient verwertet werden kann. Das Schulhaus Riedenhalden zeigt das mit der zweiseitigen Belichtung der Unterrichtsräume. Ein Konflikt besteht in der Überlegung, ob man heute noch ein Schulhaus mit so viel Abwicklung planen kann. Die Kreuzform hat viel Oberfläche. Aber es gibt auch Beispiele, bei denen durch eine Staffelung der Geschosse im der Höhe oder durch Übereckfenster wie beim Schulhaus Halden intelligente Lösungen gefunden werden. Wir lernen heute von Bauten aus Zeiten, bevor die elektrische Beleuchtung so potent gewesen ist, dass sie genügend Licht geben konnte. Eines der Themen war die Raumhöhe. Die Schulräume vor 1930 waren mit 60–80 m2 und mit einer Raumtiefe von 6–8 m ähnlich gross wie heute. Da war klar, dass man eine Raumhöhe von mindestens 4 m haben muss,
um das Tageslicht gewinnbringend über den ganzen Tag zu nutzen. Es ist eine ganz einfache Überlegung: wie viel Himmelsanteil sehe ich noch, wenn ich an der innen liegenden Wand des Raums sitze? So kann man auch heute, mit Rücksicht auf innere Verdichtung, bauen. Man muss in erster Linie an der Geo­metrie arbeiten.

Eine zweite Ebene bilden die Bauteile. Über die kann man vor allem den Bestand optimieren. Lichtlenkungssysteme kommen dann ins Spiel, wenn man auf der ersten Ebene der Gebäudegeometrie nicht mehr viel ausrichten kann.

Welchen Vorteil haben digitale Modelle im Vergleich zur analogen Tageslichtmessung vor Ort?

Wir arbeiten mit kostenlosen, offen zugäng­lichen Programmen aus der Lichtindustrie, die leicht erlernbar sind. Da verfolgen wir eine persönliche Mission. Mit dem digitalen Programm können wir mit einem angemessenen Aufwand ein geplantes oder ein bestehendes Haus simulieren. In späteren Zeiten hinzugefügte Veränderungen lassen sich im digitalen Modell wieder entfernen.

Mehr zum Thema Tageslicht finden Sie in unserem E-Dossier.

In Bezug auf den Innenraum ist es sinnvoll, verschiedene Typologien mit einer festgelegten Oberflächenbeschaffenheit in den Vergleich zu setzen. Anhand der Tools kann man sich den Tageslichtquotienten, also den Anteil Tageslicht, der im Innenraum im Vergleich zum Aussenraum vorhanden ist, ausrechnen. Aufgrund der eingesetzten Durchschnittswerte lassen sich im Ergebnis allerdings nur Approximationen erreichen. Man muss sich der Unschärfen immer bewusst sein. Ich halte das für zumutbar, weil das Modellieren zum architektonischen Alltag gehört. Die Zukunft wäre, dass man auch Architekturprogramme hätte, die diesen Aspekt mit anbieten und den Weg für Synergien und Wissenstransfer öffnen.

Durch den Klimawandel sind die Ideale in Veränderung. Lässt die Norm denn eine Reaktion auf neue Erkenntnisse zu?

Durch die Norm konnten die Zielwerte der geeigneten Tageslichtversorgung erheblich nach oben korrigiert werden. Das war dringend nötig. Jetzt könnte man die Norm infrage stellen, weil die heute standardmässig gebauten Unterrichtsräume nach ihrer Bemessung nicht einmal die normative Empfehlungsstufe «gering» erreichen. Mit Blick auf den Klimawandel müssen wir aber deutlich mehr Tageslicht in die Bildungsbauten bringen. Dies auf clevere Art und Weise, denn mehr Tageslicht bedeutet auch mehr Wärme im Gebäude. Das Thema des sommer­lichen Wärmeschutzes ist ein starker Gegenspieler.

Wie bewerten die Studierenden des CAS Lichtgestaltung das Modul Tageslicht?

Die Nachfrage vonseiten der Architektur ist für den gesamten Studiengang erstaunlich gering. Der Grossteil der Studierenden kommt aus der Lichtindus­trie und Lichtplanung und hat den Fokus auf dem Kunstlicht – das kann aber nicht ohne Tageslicht geplant werden. Ich fände es gut, wenn in der Architekturausbildung die Lichtplanung auf einem ganzheitlicheren Niveau verankert werden würde. Im Moment ist sie in der Sparte «Ästhetik» abgelegt. Sie müsste aber auch in Bezug auf die Quantität und Raumwahrnehmung verortet sein. Die Wissensschnittstellen von Tageslichtplanung und Bauphysik sind bisher gering. Seit der Konstituierung und mithilfe der Publikationen zur Tageslichtnorm nimmt das Interesse unter den Architektinnen und Architekten zu. Ich erhoffe mir, dass die Tätigkeit der Arbeitsgruppe Tageslicht im SIA, mit der wir gerade eine Wegleitung für die Norm formulieren, die Um­setzung erleichtert.

Sollte die Tageslichtnorm 17037 von 2019 ins Arbeitsgesetz einfliessen?

Erstes Ziel ist die Anerkennung und Umsetzung der Norm. Da ist die Erkenntnis noch gar nicht da. Die muss einen auch aus energetischer Sicht klar formulierten Standard einfordern. Bei Bildungsbauten zum Beispiel den mittleren Wert bei jedem der vier Bewertungskriterien, die die Norm beinhaltet. Im Moment ist das noch daran gescheitert, dass die einzelnen Aspekte nicht so leicht am Objekt messbar sind. Für die Arbeitsinspektoren muss das mit einem einfachen Tool möglich sein. Durch die vielfältigen zu berücksichtigenden Grössen ist das noch mit zu viel Aufwand verbunden. Das Bafu hat sich darum bemüht, die Norm ins Arbeitsgesetz aufzunehmen, ähnlich wie es mit der Norm 12464 (Kunstlicht) gelungen ist. Auf freiwilliger Basis wird es viel länger dauern, bis das eine Verbindlichkeit hat.

Welchen Vorteil bietet die Tageslichtnorm?

Die Norm schreibt natürlich etwas vor, aber sie gibt auch eine unglaubliche Bewegungsfreiheit. Sie liefert den Planenden ein Argumentarium, Baukörper so zu gestalten, dass nicht alles auf den Würfel hinauslaufen muss. Die architektonische, geo­metrische Freiheit im Sinn der Tageslichtperformance, aber zugleich auch im Sinn einer Verdichtung innerhalb des Gebäudes bekommt einen zusätzlichen Wert. Die Energiekosten für die künstliche Beleuchtung werden in Bezug auf die Erstellung und auf den Betrieb zukünftig weiter steigen. So betrachtet lässt sich die Förderung von Tageslicht sehr gut als finanziellen Gewinn beschreiben.

Was wünschen Sie sich von den Planenden?

Bei einem Neubau wünsche ich mir, dass wir bei der Planung sehr früh dabei sind. Die meisten Architekten interessiert der Lichteinfall in ihr Gebäude immens. Wenn man ästhetische Fragen in eine quantitative Diskussion überführen kann, ist das fruchtbar. Wenn wir erst dazu kommen, wenn der Baukörper schon feststeht, können wir nur noch auf der Bauteilebene aktiv werden. Die Tageslichtplanung gehört als Kompetenz extrem weit vorn in den Bauprozess, eigentlich in den Wettbewerb, das ist bisher aber selten der Fall. Für einen anzuwendenden Standard je nach Gebäudenutzung brauchen wir die Planungs­unterstützung in Form des Regelwerks. Neben der Wegleitung, die wir auf Initiative von Björn Schrader (Hochschule Luzern) und der Firma Velux nun unter der Obhut des SIA weiterentwickeln, setze ich grosse Hoffnungen in die Fortführung des Tageslicht-Symposiums, denn das ist die einzige Plattform, die sich in der Schweiz für diese freie Ressource einsetzt. Die Diskussionen, die in dessen Umfeld entstehen, bringen die nötigen Synergien immer einen grossen Schritt weiter in den Planungsalltag und vor allem ins öffentliche Bewusstsein.

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 33/2022 «Tageslicht Bildungsbauten».

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