Ein sym­bio­tis­cher Um­gang mit Mas­chi­nen

Ersatzneubau KVA Thurgau, Weinfelden; Studienauftrag im selektiven Verfahren

Unsere Generation wirft zu viel Abfall weg und stösst zu viel CO2 aus. Eine Kehrichtverbrennungsanlage veranschaulicht diesen gedankenlosen Umgang mit Rohstoffen ziemlich gut. Dass der Blick auf ein derartiges Industriewerk trotzdem gnädig sein darf, behauptet das Ergebnis eines Studienwettbewerbs für die neue KVA Thurgau.

Date de publication
15-09-2022

Eine Rutschbahn, ein Swimmingpool, Sonnenschirme oder ein Klettergerüst: Für Kinderaugen ist die Abfallbeseitigung ein fröhliches Werk. Schülerinnen und Schüler stellen sich eine Kehrichtverbrennungsanlage (KVA) als vielfarbigen Spiel- und Tummelplatz vor und nicht als düstere Dreckschleuder. «Wie malt ihr euch die KVA der Zukunft aus?», fragte der Verband KVA Thurgau Schulklassen aus dem ganzen Kanton in einem Kreativwettbewerb. Ihre Antworten gaben die Ostschweizer Sprösslinge mit einer Reihe von fantasievollen und bunten Zeichnungen. Einzig der Rauch, der aus dem Kamin entweichen wird, bleibt grau bis schwarz.

Gestandenen Architektinnen und Architekten ist mehr Rea­litätssinn und zeichnerisches Ge­schick zuzugestehen. Trotzdem wählen sie ebenso knallige Farben und pittoreske Bilder, um der kom­plexen thermischen Abfallver­wer­tung ein freundliches und verständ­liches Gesicht zu geben. Codes von Grün bis Braun zeigen an, wie eine Grossanlage in fassbare Lego­steine zerlegt werden kann; und fein ausgearbeitete Visualisierungen vermitteln den Eindruck einer malerischen Industrielandschaft.

Ersatz gesucht

Auch diese Profibilder sind das Ergebnis eines Wettbewerbs, den der Thurgauer KVA-Verband veranstaltete – und nun im Jurybericht den Kinderzeichnungen direkt gegenüberstellt. In einem selektiven Verfahren waren Entwürfe von vier Architekturbüros aus der Deutschschweiz danach zu beurteilen, welcher Vorschlag die bestehende Anlage in Weinfelden ersetzen soll. Die Kosten dafür schätzt der Verband, dem drei Viertel der Thurgauer Gemeinden angeschlossen sind, auf maximal 500 Mio. Franken.

Eigene Akzente gesetzt

Die Jury durfte aus einem breiten Spektrum an architektonischen Ideen auswählen. Trotz vielen technischen und betrieblichen Sachzwängen verblüffte jedes Teams mit einem eigenen, gut erkennbaren ­Akzent. Gekürt hat das Auswahl­gremium aber nicht die Eingabe mit dem schönsten oder einprägsamsten Bild respektive der stolzesten Erscheinung, sondern dasjenige Projekt, das die komplexe Maschinerie am cleversten architektonisch und funktional zu bändigen weiss. Das Team um Graber Pulver Architekten darf seinen Vorschlag für die Ersatz­anlage weiterbearbeiten, weil die Jury die klare Ordnung und den ­modularen Aufbau der Nutzungseinheiten als vorbildlich taxiert.

Nicht nur das Bild einer Kehrichtverbrennungsanlage, auch die Wahrnehmung ist veränderlich: Lange Zeit war die Akzeptanz gering und bei Anwohnern meist umstritten. Inzwischen verschwinden darin Siedlungsabfälle fast schadstofffrei, und heraus kommt wert­volle Energie für angrenzende Industriebetriebe und Siedlungen. Die bestehende Anlage in Weinfelden ist der grösste Stromlieferant im Kanton Thurgau. Aber weil die Bevölkerung weiter wächst und dementsprechend mehr wegwirft, braucht der Ostschweizer Kanton ab 2050 das Eineinhalbfache der heutigen Kapazität für die thermische Beseitigung von Siedlungsabfall.

Im Gleichschritt soll die Leistung des klimafreundlichen Thurgauer Energy-Hubs ausgebaut werden. Allerdings muss auch der technische Umwelt- und Klimaschutz vor Ort nachgerüstet werden. Unter anderem sind bauliche Ergänzungen für die Abgasbehandlung oder einer CO2-Abscheidung in einer späteren Phase absehbar. Wie die Ausstattung und die Betriebsräume des Ersatzneubaus künftig zu erweitern sind, war ein wichtiges Kriterium für das architektonische Auswahlverfahren.

Erweitern, aufstocken oder verdichten?

Die vier Teams reagieren darauf mit unterschiedlichen, flexiblen Raum- und Tragstrukturen: Die Gewinner schlagen einen rhythmisierten Hybridbau vor. Der Sockel ist aus re­zyk­liertem Beton, das innere Gerüst in Stahl und das Dach in Holz an­gedacht. Der Grundriss ist kreuzförmig, sodass die Hauptachse an verschiedenen Stellen problemlos erweitert werden kann. Das Team um Staufer & Hasler will das Gros an Zubau dagegen auf dem Flachdach bündeln. Derweil verdichten die beiden Teams T. K. Keller respektive Penzel Valier ihre Entwürfe nach innen: Mit Beton, Holz und Stahl bilden sie massive Skulpturen, die Reservevolumen für weitere Filter und Maschinen vorhalten sollen. ­Allerdings befürchtet die Jury bei Letzteren «betriebliche Nachteile aufgrund beengter Verhältnisse und einer geringen Flexibilität». Den Dachaufbauten hält sie vor, dass technische Abläufe und Unterhalt zu sehr eingeschränkt würden.

Sieger mit Erfahrung

Keine grosse Überraschung ist, dass das Team Graber Pulver den Thurgauer KVA-Wettbewerb gewann. Zum einen ist das vor acht Jahren eröffnete «Forsthaus» in Bern ihr Werk – und seither der Inbegriff für eine schicke Abfall- und Energiefabrik. Zum anderen wandeln die Architekten aktuell eine stillgelegte KVA in Zürich zur Energiezentrale um. Daraus stammen  wohl einige Erkenntnisse aus dem modularen Zusammenspiel zwischen Statik und Dynamik von solchen Verwertungskolossen.

Auch Penzel Valier sind erfahrene KVA-Architekten; ihr Werk in der Region Solothurn ist eben am Entstehen. Die Pläne für die Ostschweiz greifen ähnliche Industriemerkmale auf: eine erratische Form und sehr viel Beton. Doch anders als die Wirkung, die eine solche Masse erzeugt, sind KVA der neuesten Generation nicht für die Ewigkeit gebaut. Der Thurgauer Abfallverband rechnet selbst mit einer beschränkten Betriebsdauer von 60 Jahren. Danach dürfte abermaliger Ersatz erforderlich sein.

Leichtgewichtige Expo-Architektur

Bis dahin wünscht sich der Betreiber allerdings eine «angemessene und landschaftlich eingebettete» Architektur (vgl. weiter unten «Von Menschenhand überformt und vernarbt»). Während die unterlegene Konkurrenz mit ­einem Aussehen punkten wollte, das den industriellen Charakter und den monumentalen Massstab inszeniert, prägen Zeitgeist und vertikale Auflockerung das Siegerprojekt. Der Betonsockel geht in eine Hülle mit Fassadengrün über. Und zuoberst soll ein reflektierendes Photovoltaikband die Dachkante gestalterisch entschärfen. Der Jury gefallen «die horizontale Gliederung und die tektonische Iden­tität» besonders gut. Tatsächlich verführt der zur Weiterbearbeitung vor­geschlagene Entwurf mit dieser leichtgewichtigen, zeitgeis­tigen Expo-Architektur.

Passend dazu: Ein separater Rundgang für öffentliche Werkbesichtigungen ist in diesem Vorschlag inbegriffen. Zudem präsentiert sich die KVA im Siegerentwurf als attraktiver Arbeitsplatz – mit viel Licht und frischer Luft. Auffallend ist generell, wie sehr sich alle Teams bemühen, der modernen Technik ein nahbares Gesicht zu geben. Die Jury ist beeindruckt, wie «symbiotisch die Beziehung von Technik und ­Architektur ist». Und aus externer Sicht ist zu ergänzen: Die Bilder erzeugen einen stolzen und selbstbewussten Eindruck. Die Entwürfe stehen für eine besonders empathische Beziehung zwischen Architektur und Maschine. Staufer & Hasler treiben ihre Entwurfskünste gar so weit, den Schlot in der Silhouette fast zum Verschwinden zu bringen. «Symbolisiert dies den Bedeutungswandel vom schmutzigen Abfallvernichter zum sauberen Kraftwerk?», fragen sich deshalb die Juroren.

Architekten und Schulkinder stellen sich mit viel Fantasie und Kreativität vor, wie die KVA der Zukunft aussehen könnte. Die na­tionale Umweltbehörde weiss dagegen, wie sie aussehen muss: Eine Kehrichtverwertungsanlage darf spätestens ab 2050 kein CO2 mehr in die Luft blasen. Doch zur Vermittlung hat die Behörde weder eingängige Bilder noch technische Pläne zur Hand. Die dazu erforderliche CCS-Technik und die gesetzlichen und logistischen Rahmenbedingungen für deren Einsatz befinden sich in der Entwicklung und werden erst an Testanlagen – demnächst auch in der Schweiz – erprobt.

Jurybericht und Pläne auf competitions.espazium.ch

Empfehlung zur Weiterbearbeitung

Graber Pulver Architekten, Bern und Zürich; Schnetzer Puskas Ingenieure, Basel; ghiggi paesaggi Landschaft & Städtebau, Zürich; maaars architektur visualisierungen, Zürich

Weitere Teilnehmende

Staufer & Hasler Architekten, Frauenfeld; Conzett Bronzini Partner, Zürich; Martin Klauser Landschaftsarchitekt, Rorschach
Thomas K. Keller Architekten, St. Gallen; Dr. Lüchinger + Meyer Bauingenieure, Zürich; Kollektiv Nordost, St. Gallen
Penzel Valier, Zürich; Maurus Schifferli Landschaftsarchitekt, Zürich

Ersatz

Dürig, Zürich; Dr. Deuring + Oehninger, Winterthur; Kuhn Landschafts­architekten, Zürich
Meili & Peter Architekten, Zürich; Nänny + Partner, St. Gallen; Andreas Geser Landschaftsarchitekten, Zürich

FachJury

Christoph Rothenhöfer, Architekt, Zürich; Erol Doguoglu, Kantonsbaumeister Kanton Thurgau; Andy Senn, Architekt, St. Gallen; Beat Consoni, Architekt, St. Gallen; Lukas Imhof, Architekt, Zürich; Lukas Schweingruber, Landschafts­architekt, Zürich

Sachjury

Reto Stäheli, KVA Thurgau (Vorsitz); Urs Schär, KVA Thurgau; Reto Fürst, KVA Thurgau; Max Vögeli, KVA Thurgau; Peter Steiner, KVA Thurgau; Heinz Siegenthaler, Leiter Betrieb KVA Thurgau

Von Menschenhand überformt und vernarbt

Vor 25 Jahren ging die Kehrichtverbrennungsanlage in Weinfelden in Betrieb. Sie steht am Rand der Thur­ebene, aber direkt neben einer Kiesgrube und mitten im Industriegebiet. Das Frauenfelder Büro Antoniol + Huber komponierte einen Grossbau mit klarer Ordnung und verständlichen Strukturen. So wurde die KVA der erste Vorzeigebau der Schweiz, der mehr sein wollte als eine gesichtslose Industrieanlage.

Sein Standort fügt sich in eine Reihe aus markanten Landschaftsnarben, darunter Kieswerke, Getreidesilos und eine Zuckerfabrik. Diese selbst­bewusste Haltung findet sich auch beim aktuellen Ersatzprojekt wieder, obwohl der Ersatzstandort auf der Sohle einer ehemaligen Kiesgrube liegt und weniger gut einsehbar ist.

Was im grossen Massstab auffällt: Soll die Architektur im Siedlungsraum immer stärker zwischen gebauter und nicht gebauter Umwelt vermitteln und sich mit der Natur aus­einandersetzen, animiert die schiere Grösse von Industriebauten zur eigenen Leistungsschau. Die Baukörper selbst und teilweise auch die unmittelbare Umgebung werden architektonisch so behandelt, dass eine Überformung der Umwelt durch Menschenhand erkennbar werden darf.

Bei drei von vier Entwürfen  liegt der pragmatische Ansatz zwar auf der Hand, die für Kiesgruben typische Wiedergutmachung zu wählen: Direkt neben der neuen KVA und neben den Umschlagplätzen sollen Lebensräume für Amphibien entstehen. Doch auch bei der Landschaftsarchitektur geht das Siegerprojekt einen Schritt weiter. Um die menschlichen Eingriffe vor Ort deutlicher zu bezeugen, werden künstliche Erdkegel angelegt. Sie gliedern die Freiflächen auf dem KVA-Areal und dienen als Mate­riallager für den internen Aushub. Ob dies logistisch realisierbar ist, bezweifelt die Jury allerdings. Trotzdem lobt sie die «starke Geste», die sich auf einen menschengemachten Umgang mit der Landschaft beziehe. Umso mehr hofft man darauf, dass diese kreativen Gestaltungselemente die Weiterbearbeitungsrunde überstehen werden.

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