Neues Merk­blatt SIA 2057 «Glas­bau»

Das Merkblatt SIA 2057 Glasbau regelt die Bemessung von Bauteilen und Tragwerken aus Glas und ergänzt die SIA-Tragwerksnormenreihe um einen im Bauwesen immer wichtiger werdenden Baustoff.

Date de publication
08-09-2021
Andreas Luible
Prof. Dr. sc. techn. EPFL, Horw, Präsident Normenkommission SIA 268

Der Einsatz von Glas im Bauwesen hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Glas wird nicht mehr nur als Ausfachung in Fenstern, sondern auch für Bauteile und Konstruktionen verwendet, die über handwerkliche Regeln hinaus eine ingenieurmässige Betrachtung erfordern. Der Einsatz von Glas reicht heute von etagenübergreifenden Fassadenscheiben über Glasdächer bis hin zur Verwendung als lastabtragende Träger oder Stützen. In vielen Fällen müssen Gläser neben einer statisch tragenden Funktion auch sicherheitsrelevante Aufgaben übernehmen, wie beispielsweise die Absturz- oder Durchsturzsicherung.

Basierend auf Schätzungen des Schweizer Instituts für Glas am Bau (SIGAB) entstehen durch falsche Bemessungen und Anwendungen von Glas jährlich Schäden in Millionenhöhe. Trotzdem existieren in der Schweiz bis heute keine normativen Grundlagen zur Bemessung von Glas. Glas wird oft nicht bemessen, oder es wird auf Normen und Richtlinien aus dem Ausland zurückgegriffen.

Viele davon sind jedoch mit dem Sicherheitskonzept der SIA-260er-Normenreihe nicht kompatibel, für das Schweizer Verständnis einer Tragwerksnorm zu stark reglementiert, oder es fehlen wesentliche, für die Schweiz geltende Angaben. Mit dem von der Normenkommission SIA 268 erarbeiteten Merkblatt SIA 2057 Glasbau, das sich an Fachleute der Projektierung, Bauleitung und Bauausführung sowie Bauherrschaften richtet, soll diese Lücke geschlossen werden.

Vierstufiges Nachweiskonzept

Der Aufbau des Merkblatts SIA 2057 Glasbau orientiert sich an der Struktur der SIA-Tragwerksnormenreihe. Ein einfaches Konzept erlaubt der Ingenieurin und dem Ingenieur eine solide, wirtschaftliche und sichere Bemessung und Konstruktion von Bauteilen aus Glas. Gleichermassen lässt sie der erfahrenen Ingenieurin und dem erfahrenen Ingenieur genügend Freiraum, innovative Lö­sungen mit dem Baustoff Glas zu entwickeln. Das Merkblatt fo­kussiert dabei auf die häufigsten Glasanwendungen in der Schweiz: Vertikal-, Horizontal-, Isolier-, absturzsichernde, betretbare, begehbare und befahrbare Verglasungen sowie knick- und kippgefährdete Bauteile (Stützen resp. Träger).

Das Nachweiskonzept des Merkblatts basiert auf vier Stufen: dem Tragsicherheitsnachweis, dem Gebrauchstauglichkeitsnachweis, dem Nachweis eines sicheren Bruchverhaltens sowie dem Nachweis der Sicherheit im gebrochenen Zustand. Letzteres ist erforderlich, weil bei Glas aufgrund des spröden Bruchverhaltens grundsätzlich immer mit einem teilweisen oder vollständigen Bruch zu rechnen ist.

Ein Schlag mit einem harten Gegenstand reicht aus, um den Bruch in einer Glasscheibe herbeizuführen. Aufgrund des hohen Gefährdungspotenzials wurde der Robustheit von Bauteilen und Konstruktionen aus Glas im gebrochenen Zustand deshalb eine besondere Beachtung geschenkt.

Das Verletzungsrisiko kann bei einem Glasbruch durch kon­struktive Massnahmen und die Wahl eines geeigneten Glasaufbaus oder Glastyps minimiert werden. Das Merkblatt gibt dazu wichtige Hinweise für die jeweiligen Anwendungssituationen.

Tragverhalten im gebrochenen Zustand

Das Tragverhalten im gebrochenen Zustand wird dadurch charakte­risiert, wie lang ein Glas im gebrochenen Zustand nicht herabfällt (Reststandsicherheit) bzw. welche Einwirkungen von einem Glas im gebrochenen Zustand über eine gewisse Zeit abgetragen werden können (Resttragfähigkeit). Aufgrund fehlender rechnerischer Nachweismethoden ist eine genaue Beurteilung nur mittels projektspezifischer Versuche möglich.

Um insbesondere bei kleinen Bauvorhaben eine wirtschaftliche Beurteilung der ­Sicherheit im gebrochenen Zustand zu ermöglichen, wurde im Merkblatt SIA 2057 ein Verfahren ein­geführt, mit dem auf Versuche ­verzichtet werden kann. Unter Einhaltung konstruktiver Randbedingungen ­erlaubt es einen rechnerischen Nachweis von teilweise oder vollständig gebrochenen Gläsern.

Die zu be­rücksichtigenden Bruchzustände ergeben sich aus der jeweiligen Glasanwendung sowie aus der Einbausituation der Gläser und der Nutzungskategorie nach SIA 261. Bei grösseren Bauvorhaben lohnt sich dennoch ein experimenteller Nachweis, da damit das Tragverhalten im gebrochenen Zustand genau untersucht werden kann, was in der Regel zu schlankeren und somit günstigeren Glasaufbauten führt.

Die richtige Wahl des Glastyps

Ziel des Merkblatts ist es, Anwenderinnen und Anwender hinsichtlich Risiken, die bei einer ungüns­tigen Wahl des Glastyps oder Glasaufbaus entstehen können, zu sensibilisieren, ohne bestimmte Glasanwendungen kategorisch auszuschliessen. Typisches Beispiel ist der Einsatz von monolithischem Einscheibensicherheitsglas, bei dem es aufgrund von produktionsbedingten Nickelsulfid-Einschlüssen jederzeit zu einem spontanen Bruch ohne äussere Einwirkung kommen kann, was durch zahlreiche Schadensfälle bestätigt ist. Abhängig von der projektspezifischen Einbausituation verlangt das Merkblatt, neben einer Risikobeurteilung durch die Planerin oder den Planer auch Bauherren über das bestehende Risiko zu informieren, falls dieses nicht durch kon­struktive Massnahmen verringert werden kann.

Bei Isolierverglasungen müssen klimatisch induzierte Einwirkungen (Einbauhöhe, Temperatur- und Luftdruckveränderungen) aufgrund des eingeschlossenen Luftvolumens bei der Bemessung berücksichtigt werden. Bis anhin wurde mit Einwirkungen aus­ländischer Normen gearbeitet, die die klimatischen Verhältnisse in der Schweiz nicht richtig abbilden. Im Rahmen einer Forschungsarbeit an der Hochschule Luzern wurden Schweizer Meteodaten der letzten Jahrzehnte ausgewertet und da­r­auf basierend Einwirkungsmodelle erstellt, die im Merkblatt implementiert wurden.

Neu ist, dass diese auch Dreifachisoliergläser, mehrschalige Glasfassaden und unterschiedliche Beschichtungen und Verschattungssysteme berücksichtigen. Für Isolierverglasungen mit Abmessungen kleiner als 2 m² kann unter Einhaltung bestimmter Randbedingungen und Grenzen ein Nachweis komplett entfallen.

Weiterhin erlaubt das Merkblatt SIA 2057 die Berücksichtigung eines Schubverbunds bei der Bemessung von Verbundsicherheitsglas, sofern ein dafür geeignetes Berechnungsmodell verwendet wird und alle dafür notwendigen Angaben über das temperatur- und zeitabhängige Materialverhalten der Zwischenschichten verfügbar sind.

Die CEN erarbeitet derzeit den zukünftigen Eurocode für die Bemessung von Glas. Die Entwürfe der drei Teile des Eurocodes, bei denen auch Schweizer Vertreterinnen und Vertreter mitgewirkt haben, liegen als FprCEN/TS-Dokumente vor. Da davon auszugehen ist, dass der Eurocode für die Bemessung von Glas in ein paar Jahren auch in der Schweiz eingeführt wird, orientiert sich das Merkblatt SIA 2057 inhaltlich an diesen Entwürfen.

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