Die Kraft des ers­tarr­ten Ma­te­rials

Haus Alder, Zürich

Der eigentliche Clou beim Wohnhaus von Andreas Fuhrimann Gabrielle Hächler Architekten in Zürich Wipkingen sind die überquellenden Fugen zwischen den Ziegeln. Die grobe Setzung der Steine, eingefasst von Etagen aus Sichtbeton, ist eine mutige Behauptung und fordert den näheren Blick.

Date de publication
13-08-2021

Dass das 1893 nach Zürich eingemeindete Wipkingen einst ein kleinbäuerliches Dorf war, davon zeugt heute so gut wie nichts mehr. Zuletzt geriet diese Gegend 2019 in den Fokus, als in direkter Nachbarschaft das Alterszentrum Trotte entstand. Während die Planung für das Alterszentrum voranschritt, beschloss die Eigentümerschaft des westlichsten, mithin an das städtische Gelände anschliessenden Grundstücks, die ererbte Parzelle mit einem auf ihre Wohnbedürfnisse abgestimmten Neubau effizienter auszunutzen.

Gestreckt zur Aussicht

Es erwies sich wohl als Glücksfall, dass die Eigentümer  zufällig auf Andreas Fuhrimann und Gabrielle Hächler stiessen, denen es gelang, die Baumasse so zu formen, dass die maximal zulässige Bauhöhe erzielt wurde. So überragt das oberste Geschoss deutlich die Bebauung auf der Südseite der Trottenstrasse und gibt das unverstellte Panorama über Stadt und See bis hin zu den Glarner Alpen frei.

Zugleich vermittelt der Neubau in seiner Höhenentwicklung zwischen den benachbarten Einfamilienhäusern und dem Alterszentrum, von dessen Wucht das vormals bestehende Einfamilienhaus nachgerade erdrückt zu werden drohte.

Die Form des Hauses resultiert aus der Konsequenz baurechtlicher Gegebenheiten. Der unregelmässige sechseckige Grundriss, den das erste und zweite Obergeschoss voll ausschöpfen, ist durch die geforderten Abstände zu den Parzellengrenzen bestimmt. Die skulpturale Gestalt des obersten Geschosses mit ihren diversen Schrägen, Anschnitten und der eingeschnittenen Terrasse reagiert auf die Tatsache, dass es sich gemäss den Vorschriften um ein Dach handelt – für die Bauherrschaft indes um den attraktivsten Raum des Hauses.

Die Einschnitte in das Volumen auf Erdgeschossebene sind hingegen durch funktionale Überlegungen bestimmt: Einerseits entsteht ein geschützter Vorbereich vor der Haustür, andererseits ergibt sich ein schmaler überdeckter Aussenraum für die dort angeordnete Einliegerwohnung. Ihr zugeordnet ist auch der kleine umgebende Garten, in dem eine charmante Wiese wuchert. Ihre unkontrollierte Gestalt wirkt wie ein zustimmender Kommentar der Natur auf die ungeschönte Architektur.

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Fuhrimann Hächler sind durch skulptural wirkende Bauten bekannt geworden, bei denen sich Opulenz mit Rauheit verbindet, High End mit Lowtech. Sicht­beton gilt nachgerade als ikonisches Baumaterial des Büros, wobei sie ihm nicht die schweiztypische Hyperperfektion geschliffener, polierter und steriler Ober­flächen abringen, sondern im Gegenteil die Kraft des erstarrten Materials sichtbar lassen.

Das zeigt sich nun auch in Wipkingen, wo unterstes und oberstes Geschoss in rohem Ortbeton ausgeführt sind: Die Schalung wurde den Handwerkern überlassen und hat dadurch eine Betonoberfläche entstehen lassen, deren grafisches ­Linienmuster ein Zufallsprodukt darstellt, Beton brut im wahrsten Sinn des Wortes.

Ordnung im Grossen, Experiment im Einzelnen

Fast wie bei einem klassischen Fassadenaufbau rahmen Sockel und Attika eine flächige mittlere Zone, die in rotem Backstein ausgebildet ist. Der aus den Fugen quellende Mörtel wurde nicht abgestrichen, sondern stehen gelassen, sodass sich eine erhabene netzartige Struktur ergibt.

Besonders im Streiflicht verstärkt sich die textile Anmutung, die durch die ornamentale, ein filigranes Punktmuster zeigende Oberfläche der Backsteine noch verstärkt wird: Die Rückseiten der Steine, die durch das Trocknen auf perforierten Blechen in der Ziegelei ihre charakteristische Zeichnung erhalten, weisen hier nach vorn.

Fuhrimann Hächler experimentieren mit der Idee des Rohen und Unfertigen, was man angesichts der bordeauxrot schimmernden Perfektion der Keramikfassade des Alterszentrums durchaus als Provokation verstehen kann. Mit der Zurschaustellung vermeintlich wertloser Materialien hinterfragen die Planenden die landläufige Idee von Einfachheit.

Dabei ging es ihnen nicht um eine Kosteneinsparung, sondern vielmehr um eine Rückbesinnung auf die ästhetische Qualität eines sichtbaren Herstellungsprozesses. gefeilte Schalung beim Sichtbeton zugleich weniger Aufwand bedeutet, ist in diesem Fall nicht mehr als ein willkommenes Surplus.

Beton und Backstein im Dialog – bis in den Innenraum

Das Innere besticht durch ein räumliches ­Kontinuum, das die skulpturale Qualität des Bauwerks zum Ausdruck bringt. Türen im klassischen Sinn existieren nur bei den Nasszellen, ansonsten dienen allenfalls vereinzelte Schiebewände zur räumlichen Trennung.

Ganz bewusst sind die funktionalen Bereiche nur schwach determiniert, sodass hohe Flexibilität herrscht und die Erschliessungsflächen mit den Wohnzonen verschmelzen. Das eigentliche ­Zentrum des ­Hauses aber bildet der Ess- und Wohnbereich im obersten Geschoss mit seinem grossartigen Übereckfenster, das den Ausblick über die Stadt bildhaft rahmt.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 23–24/2021 «Rohe Schönheiten».

Anmerkung
1 Vgl. Sabine Schaschl / Museum Haus Konstruktiv (Hg.), Peter Hächler, Zürich 2015, S. 87.

Haus Alder, Zürich

 

Architektur: Fuhrimann Hächler Architekten, Zürich

 

Tragwerksplanung: Schnetzer Puskas ­Ingenieure, Zürich

 

HLS-Planung: Planforum Energie & Haustechnik, Winterthur

 

Bauphysik: Corak Engineering, Zürich

 

Elektroplanung: Mettler + Partner, Zürich

 

Spezialanfertigung Sonnenstoren: Kästli & Co, Belp-Bern

 

Fertigstellung: 2018

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