Die Lö­sung des Gor­dis­chen Kno­tens

Erneuerung Textilmuseum St. Gallen; Zweistufiger anonymer Projektwettbewerb

Das Textilmuseum St. Gallen präsentiert seine exzellente Sammlung seit Langem unter Wert. Das soll sich mit dem Umbau- und Erweiterungsprojekt von Christian Kerez ändern, bei dem zugleich das Museumsgebäude zum ersten Exponat seiner selbst wird.

Date de publication
22-07-2021

Die Textilproduktion prägte die Ostschweiz über Jahrhunderte: seit dem Mittelalter die Leinwandherstellung, seit dem 18. Jahrhundert die Baumwollindustrie. Die Handstickerei ent­wickelte sich vor 1800 zum herausragenden Wirtschaftszweig in der Region und wurde in den 1860er-Jahren durch die Maschinenstickerei abgelöst. Aufgrund der Freihandelspolitik nach Ende des Sezessions­kriegs avancierten die USA zum wichtigsten Absatzmarkt. Doch exportiert wurde auch in andere Länder, vor allem nach Frankreich mit der Modemetropole Paris. Bis zu 50 % der Arbeitskräfte entfielen im ausgehenden 19. Jahrhundert auf die Stickereiproduktion; Stickereiwaren waren vor dem Ersten Weltkrieg mit 18 % am Gesamtumfang die Haupt­exportsparte der Schweizer Wirtschaft, und das Handelszentrum war St. Gallen. Der Boom der Textilindustrie führte seitens des Kaufmännischen Directoriums, des Verbands der Kaufleute, zur ­Planung eines Industrie- und Gewerbemuseums, das wie andere im 19. Jahrhundert gegründete Kunstgewerbemuseen mit seiner seit 1863 aufgebauten Vorbildersammlung inspirierend auf die Produktion vor Ort wirken sollte und neben Sammlung und ­Bibliothek auch eine Zeichen- und Stickereischule beherbergte.

Ein erster Preis wurde im Wettbewerb des Jahres 1884 nicht vergeben, der Auftrag ging an den zweitplatzierten Architekten, den jungen, noch weitgehend unbekannten Gustav Gull, der gut zehn Jahre später Stadtbaumeister von Zürich werden sollte. Emil Wild, der Direktor des Museums, überarbeitete den Entwurf und wirkte auch als Bauleiter; schon 1886 konnte das Gebäude eröffnet werden. Mit den beiden seitlichen Risaliten, den Korridoren und dem zentralen Treppenhaus entsprach es typologisch eher einem Schulhaus als einem Museumsgebäude, was angesichts der primären Nutzung der Sammlung für die kunstgewerbliche Ausbildung kaum verwundert. Grössere Eingriffe erfolgten erst 1956 mit einer Aufstockung im mittleren Dachbereich und dem Verputz der ursprünglichen Fassade aus Sichtbackstein.

1982 in Textilmuseum umbenannt, wurden Gebäude und Sammlung 1991 von der Stiftung der Industrie- und Handelskammer übernommen. Da sich die IHK jedoch auf die verbandspolitische Arbeit konzentrieren wollte, übernahm die neu gegründete Stiftung Textilmuseum St. Gallen 2018 die Trägerschaft. Der damit einsetzende neue Schwung war ­bitter nötig, sind doch die Defizite unübersehbar, wie ein Besuch des Hauses lehrt: Eine Dauerausstellung zur Geschichte der Schweizer und St. Galler Textilindustrie existiert nicht, das Haus platzt aus ­allen Nähten, und die mittlerweile 40 000 Exponate sind konservatorisch unzulänglich untergebracht – von veralteter Infrastruktur und mangelnder Barrierefreiheit ganz zu schweigen. Das Gebäude steht unmittelbar an der Grenze zwischen historischer Kernstadt und Stickereiquartier und nah am Bahnhof. Trotz dieser zentralen Lage  zeigt es sich aufgrund der räumlichen Konzeption mit dem geschlossenen Sockel und einem Erdgeschoss auf Hochparterreniveau in der Flucht der vergleichsweise schmalen Va­dianstrasse eher hermetisch und kaum einladend.

Wettbewerb mit engen Platzverhältnissen

Abhilfe soll nun eine grundlegende Erneuerung des Gebäudes schaffen. Zu Recht bekennt sich die Stiftung zum angestammten Standort – und damit auch zur Tradition und Geschichte von Haus und Sammlung. Die dichte innerstädtische Situation lässt weder seitliche noch rück­wär­tige Erweiterungen zu. Mit einer Testplanung, die dem zweistufigen Wettbewerb zugrunde gelegt wurde, war die Zielrichtung der räumlichen Neuorganisation abgesteckt worden: Zusätzlich benötigte Fläche sollte zum einen durch ein unterirdisches Depot im Hof, zum anderen durch eine Dachaufstockung mit Ausstellungsräumen geschaffen werden, ein sich zur Strasse hin öffnendes Café das Gebäude durch­lässiger gestalten. 181 Architekturbüros beteiligten sich am anonymen Ideenwettbewerb im offenen Verfahren, acht davon wurden zum anschliessenden Projektwettbewerb zugelassen, zu dem sieben weitere Büros eingeladen waren: Tatiana Bilbao, Brandlhuber +, Diener & Diener, Sou Fujimoto, Marie-José van Hee, jessenvollenweider und Christian Kerez. Die Jury unter Leitung von Kantonsbaumeister Werner Binotto verteilte nach pandemiebedinger Unterbrechung fünf Preise und empfahl im März das Projekt «Das Schwere ist des Leichten Wurzelgrund» von Christian Kerez zur Weiterbearbeitung.

Auf dem Präsentierteller

Kerez’ Projekt ist das einzige im Teilnehmerspektrum der zweiten Wettbewerbsstufe, das die räumliche Grobdisposition der Testplanung nicht aufgreift, sondern einen alternativen Ansatz verfolgt. Bewusst hiess es im Auslobungstext: «Das Beurteilungsgremium kann auch hervorragende Beiträge, die wesentliche Verstösse gegen die Programmstimmungen aufweisen, zur Wei­terbearbeitung empfehlen.» Genau dieser Fall ist nun eingetreten. Es spricht für die Weitsichtigkeit der Jury (und, ganz nebenbei bemerkt, auch für das Wettbewerbswesen), dass sie die eminenten Potenziale des Beitrags von Kerez erkannt hat. Ein Studium der anderen Projekte lässt die den Festlegungen der Testplanung inhärenten Problematiken deutlich zutage treten: Die massiven Aufstockungen machen schwere Eingriffe in den Bestand nötig, um die Lastabtragung zu gewährleisten. Zwar versuchen die Teilnehmenden, Form und Fassade der Aufstockung zu nutzen, um dem Museum verstärkte Sichtbarkeit zu verschaffen; doch die mal eher traditionalistischen, mal – wie im Fall von Fuji­moto – irisierend-utopischen Gestaltungen sind vom Strassenraum aus nur bedingt wahrzunehmen. Ausserdem entsteht ein Problem bei der Erschliessung: Erdgeschoss und Aufstockung sind die eigentlichen publikumsintensiven Bereiche, die Besucherinnen und Besucher müssen also durch das Haus auf- und abgeschleust werden.

Kerez löst das Problem auf geradezu geniale und unmittelbar einleuchtende Weise, indem er auf die Aufstockung verzichtet, die Dachlandschaft von den späteren Verbauungen befreit, das historische Gebäude wieder auf seine alte Silhouette zurückführt und unter dem Dach Platz für die Depots schafft. Gemäss dem Wunsch der Bauherrschaft nach möglicher Etappierung des Bauvorhabens ist dies der erste Schritt des Umbaukonzepts: Eine aufwendige Ertüchtigung der bestehenden Tragstruktur wird vermieden, verglichen mit den anderen Lösungen wirkt der Vorschlag in diesem Bereich geradezu minimalinvasiv. Kerez’ tiefere Eingriffe betreffen nicht den Dachbereich, sondern Erdgeschoss und Sockel. Zunächst wird das Niveau des Erdgeschosses auf Strassen­ebene abgesenkt, sodass der abweisend wirkende Sockel perforiert werden kann und sich das bislang hermetische Haus mit Café, Foyer und Erdgeschossräumen – die neue Halle ist grundsätzlich flexibel – grossflächig zur Strasse hin öffnen kann. Die Eisenstützen des Tragwerks werden von Betonpfeilern abgefangen, und durch die veränderte Raumhöhe von fünf Metern ergibt sich eine Grosszügigkeit, an der es dem Museum bislang mangelte. Im Rahmen dieser Massnahmen wird der bestehende Bau mit einer Tragwerksstruktur unterfangen, die als zeitgemässe «Kassettendecke» für einen gewaltigen unterirdischen Ausstellungsraum dient, der in der zweiten Bau­etappe entsteht. Dieser Raum greift über die Grundfläche des Museums hinaus – zum einen, um mit 1350 m2 ein Maximum an Fläche zu generieren, zum anderen, um die bestehenden Fundamente der Nachbarbauten zu nutzen und, wo dies nicht möglich ist, die Ausführung von Schlitzwänden ausserhalb des Gebäudes zu erleichtern. Das Museum ruht auf einem fast schwebend anmutenden Tisch, der gleichsam in das offene Wandgeviert des neuen Basisgeschosses eingehängt und mit diesem verstrebt ist; die Lasten werden über die Wände nach aussen geführt und  nur im Bereich der rückwärtigen Erschliessung mittels eines zusätzlichen massiven Pfeilers abgetragen.

So entsteht nicht nur eine grandiose Ausstellungshalle, die gemäss den jeweiligen Anforderungen unterteilt und genutzt werden kann. Die Tragwerksstruktur lässt mit ihrem orthogonalen Kassettenraster auch die Struktur des bestehenden Gebäudes anschaulich werden: Man kann diesen «Tisch» auch als Podest verstehen, der den Altbau stabilisiert und ihm Halt gibt. Das Gebäude des Textilmuseums ist das erste Exponat seiner selbst. Und während die neue Ausstellungshalle dank ihrer unterirdischen Anordnung ideale Bedingungen für das Ausstellen der lichtempfindlichen Textilien bietet, können die geschlossenen Fenster in den oberen, bislang als Ausstellungsbereiche des Museums genutzten Räume wieder geöffnet werden. In den historischen Räumen, die in ihren ­ursprünglichen Zustand zurück­geführt werden, ist zukünftig Platz für Werkstätten, Museums­pädaogik, Verwaltung und die Textilbibliothek. Konzentrieren sich die publikumsintensiven Bereiche auf Erd- und Untergeschoss, so nimmt der öffentliche Charakter des Hauses nach oben sukzessive ab.

Radikale Lösungen

Die Entscheidung, das Textilmuseum an seinem Standort zu belassen und nicht nur zu sanieren, sondern auch zu erweitern und zu einem wahrhaft öffentlichen Haus werden zu lassen, bedingt notwendigerweise Eingriffe in die Substanz, welche Lösung auch immer gewählt worden wäre. Christian Kerez ist es mit Joseph Schwarz als Tragwerksplaner und Caretta + Weidmann für das Baumanagement gelungen, die Verwicklungen des Gordischen Knotens zu lösen und mit seiner im wahrsten Sinn des Wortes radikalen, weil die Wurzel anpackenden und in den Boden ausgreifenden Lösung ein ebenso intellektuell brillantes wie räumlich wirksames und nicht zuletzt den Altbau wahrlich auf ein Podest hebendes Konzept zu schaffen.

Gewiss, die Umsetzung stellt die Stiftung vor eine grosse finan­zielle Herausforderung. Peter Kriemler, Bauverantwortlicher der Stiftung und CEO von Akris, äussert sich im Gespräch aber enthusiastisch über das Projekt. Denn nur mit einem solchen Wurf lasse sich die Begeisterung erzeugen, die schliesslich zum Erfolg führe; neben dem Bau müssen schliesslich auch Unterhalt und Betrieb finanziert werden. Dass ausser Akris in der Region St. Gallen eine Reihe weiterer international erfolgreicher Textilunternehmen ansässig sind, gibt dabei zu hoffen. Schon seit Längerem bestehen Initiativen, der Schweizer Textilindus­trie und ihrer Tradition mehr Sichtbarkeit zu verschaffen. Von einem nationalen Textilmuseum war schon einmal die Rede, und das jetzige ­Projekt besässe das Potenzial dazu. Ohne Zweifel handelt es sich bei der Sammlung des Textilmuseums neben jener der Stiftsbibliothek St. Gallen um etwas Einzigartiges. Bislang wurde sie unter Wert gehandelt, und das kann sich nun ändern. Ebenfalls kaum in seiner Relevanz ausreichend gewürdigt ist die architektonische Bedeutung des Stickereiquartiers, dessen Auftakt gewissermassen das Textilmuseum darstellt.

In strategisch günstiger Lage zur Hauptpost und zu den Güterschuppen entstanden um 1900 die monumentalen Handelshäuser der Stickereiunternehmen: aufgrund der flexiblen Unterteilung im Innern als Eisenbetonkonstruktionen erstellte Grossbauten mit repräsentativen Fassaden, deren Formensprache zwischen spätem Historismus und Jugendstil oder Reformarchitektur oszilliert. Zu den lokalen Architekten, die vom Wirtschaftsboom profitierten, zählten das Büro Leuzinger & Niederer und der aus Nordböhmen eingewanderte Wendelin Heene; stadtbildprägend tätig wurden aber auch Curjel & Moser aus Karlsruhe, die 1907 in St. Gallen ein Zweigbüro gründeten, und Pfleghard & ­Haefeli aus Zürich. Ebenfalls eine Bürodependance gründete der Bauingenieur Robert Maillart, der viele Eisenbetontragwerke der Neubauten realisierte.

Die auch als «Stickereipaläste» titulierten Bauten formen ein ganzes Stadtviertel, das hinsichtlich Einheitlichkeit und Eindrücklichkeit dem Kontorhausviertel in Hamburg oder den Messepalästen in Leip­zig kaum nachsteht. In den Häusern wurden die Stickereiwaren veredelt, konfektioniert, den Einkäufern präsentiert und versandfertig gemacht. Wichtigster Absatzmarkt für die St. Galler Strickerei waren zu dieser Zeit die USA, wovon Namen der Handelshäuser wie «Pacific» oder «Chicago» zeugten. Und so ist es auch kein Wunder, dass die Konstruktion der Bauten mit Eisenbetonskelett und vorgehängter Fassade die bautechnischen Innovationen aus der Neuen Welt, namentlich aus Chicago, reflektierten.

Im Abstand von gut einem Jahrhundert knüpft das Projekt für die Erneuerung des Textilmuseums nun mit einer kongenialen Architektur- und Tragwerkslösung an diese Tradition des Bauens an und hebt sie auf eine neue Stufe.

Pläne und Jurybericht zum Wettbewerb finden Sie auf competitions.espazium.ch

Auszeichnungen

1. Rang / 1. Preis: «Das Schwere ist des Leichten Wurzelgrund»
Christian Kerez, Zürich; Caretta + Weidmann Baumanagement, Zürich; Dr. Joseph Schwartz Consulting, Zug
2. Rang / 2. Preis: «Balance»
jessenvollenweider architektur, Basel; ZPF. Ingenieure, Basel; Waldhauser + Hermann, Münchenstein; Peter Suter, Basel; Roswitha Kötz Architektur + Ausstellung, Berlin
3. Rang / 3. Preis: «Stelle»
BBK Architekten, Balzers / Azmoos; Prof. Thomas Will, Dresden; Groenlandbasel, Basel; Jäger Ingenieure, Radebeul; Belzner Holmes und Partner Light-Design, Stuttgart; SiBeN, Buchs SG; Gasser Bauphysik Consult, Schaan
4. Rang / 4. Preis: «New White Veil»
Sou Fujimoto Atelier, Paris; Proplaning, Zürich; Schnetzer Puskas Ingenieure, Basel; Emmer Pfenninger Partner, Münchenstein; Szenografie Studio Das, St. Gallen; A. Aegerter & Dr. O. Bosshardt, Basel; Enerconom, Bern; Kopitsis Bauphysik, Wohlen; Büro ADB, Burgdorf
5. Rang / 5. Preis: «Blue Velvet Oak»
Jonas Wirth, Münchenstein; Waldhauser + Hermann, Münchenstein; Makiol Wiederkehr, Beinwil am See

FachJury

Werner Binotto, Kantonsbaumeister St. Gallen (Vorsitz); Zita Cotti, Architektin, Zürich; Jasmin Grego, Architektin, Zürich; Jörg Haspel, Denkmalpfleger, Berlin; Eva Keller, Architektin, Herisau; Florian Kessler, Stadtplaner, St. Gallen (Ersatz)

SachJury

Stefan Aschwanden, Direktor Textil­museum a.i.; Peter Kriemler, Verantwort­licher Bauressort, Stiftung Textil­museum; Vincenzo Montinaro, Präsident Stiftung Textilmuseum; Maria Pappa, Direktorin Planung und Bau, Stadt St. Gallen; Alexis Schwarzenbach, Vorstandsmitglied Verein Textilmuseum (Ersatz)

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