Ver­sie­gelte Flä­chen als frucht­bare Bö­den

In den vergangenen 60 Jahren entwickelte sich das Schweizer Nationalstrassennetz auf eine Gesamtlänge von über 1800 Kilometern. Es bedeckt eine Fläche von knapp 10000 Fussballfeldern – ein Spielfeld für Ideen zur Flächeneffizienz und Mehrfachnutzung.

Date de publication
24-06-2021

Die bestehenden Nationalstrassen gehören zu den wichtigsten Infrastrukturen unseres Landes. Sie sind unverzichtbar für die Landesversorgung, belegen aber eine beträchtliche Fläche der hiesigen Landschaft. Umso willkommener sind neue Ideen und Projekte, die sich mit der effizienten und multiplen Nutzung dieser versiegelten Flächen auseinandersetzen.

Pannenstreifenumnutzung (PUN)

Diese Zeichen hat auch das Bundesamt für Strassen (Astra) wahrgenommen. Mit der Umnutzung bestehender Pannenstreifen (Projekte zur Pannenstreifenumnutzung, PUN) will es der Verkehrsüberlastung auf den Nationalstrassen in städtischen Agglomerationen während Spitzenzeiten entgegenwirken. Der Vorteil: Für diese Massnahme wird wesentlich weniger Land benötigt als für einen tatsächlichen Spurausbau.

Das Prinzip funktioniert wie folgt: Bei hohem Verkehrsaufkommen wird mittels elektronischer Signale auf dem betroffenen Netzabschnitt die Höchstgeschwindigkeit herabgesetzt und mit zusätzlichen Signalisations- und Sicherheitsmassnahmen der Pannenstreifen für den Verkehr freigegeben. Nach einem Pilotprojekt auf der A1 entlang des Genfersees (Abschnitt MorgesEcublens) sind mittlerweile zwei weitere Abschnitte auf der A1 (Villars-Ste-CroixCossonay und Winterthur-OhringenOberwinterthur) in Betrieb.

In den kommenden Jahren sollen über 250 Kilometer zusätzlicher PUN-Strecken auf ihre verkehrliche Wirkung und bauliche Machbarkeit detailliert überprüft werden. Laut Astra zeigen die PUN bislang durchwegs positive Auswirkungen bezüglich Verkehrsfluss, Unfallrate, Lärmemissionen und Luftbelastungen.

Kraftwerk Nationalstrasse

Neben Massnahmen gegen Stau haben Nationalstrassen auch Potenzial zur Stromproduktion. So untersucht das Austrian Institute of Technology seit geraumer Zeit mit Forschungsgeldern aus Österreich, Deutschland und der Schweiz, ob und wie sich Solardächer über der Autobahn für eine Stromproduktion ohne zusätzlich versiegelte Flächen nutzen liessen.

Die Idee einer Solaranlage entlang von Autobahnen ist an sich nicht neu: Bereits im Jahr 1989 wurde längs der Autobahn A13 bei Domat/Ems GR die weltweit erste Photovoltaikanlage an einer Lärmschutzwand installiert. Das neue Forschungsprojekt unter österreichischer Federführung untersucht nun die Möglichkeiten zur Überdachung von Autobahnen mit Solarpaneelen.

Parallel zu diesem Forschungsprojekt ist in der Schweiz schon seit Längerem eine Teststrecke bei Fully im Wallis geplant. Die 1.6 km lange Strecke mit über 30000 Solarpaneelen könnte jährlich bis zu 19 GWh Strom erzeugen; das entspricht etwa dem Verbrauch von rund 5000 Haushalten.

Obwohl das Astra als Eigentümerin grundsätzlich grünes Licht für das Vorhaben gab, gelang es bislang nicht, die erforderlichen privaten Mittel zur Finanzierung des 50-Millionen-Franken-Vorhabens zu beschaffen. Trotzdem scheint man auch andernorts an der Idee interessiert: Entlang der A4 im Knonauer Amt liegt ebenfalls eine Projektstudie zur Überdachung vor.

Langsamverkehr trifft auf «Schnellverkehr»

Auch aus der zunehmenden Zahl an Elektrofahrrädern ergaben sich jüngst Ansätze für eine Nutzungserweiterung entlang der Nationalstrasse. Planungsbehörden prüfen, ob sich mit Velobahnen ein Angebot für möglichst unterbrechungsfreie Fahrten über längere Distanzen in der Agglomeration realisieren liesse.

In einer Pilotstudie haben Verkehrsplaner der Firma ewp zusammen mit den Kantonen Basel-Landschaft und Zug sowie dem Astra untersucht, welches Potenzial Velobahnen entlang von Nationalstrassen aufweisen und mit welchen Realisierungshindernissen zu rechnen ist.

Im Kanton Basel-Landschaft gab es gar schon ein konkretes Projekt für eine Velobahn. Pünktlich zum Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest 2022 in Pratteln sollte eine erste Route zwischen Augst und Pratteln als Hochbahn in Betrieb gehen. Nicht aus technischen Gründen, sondern leider aufgrund von parteipolitischen Filzvorwürfen wurde das Vorhaben allerdings jäh sistiert.

Dennoch ist das System der Velohochbahn in Modulbauweise bestechend: Aus lokalem Holz produziert und mit Photovoltaikmodulen in den Geländern ausgerüstet, könnte es als Nebennutzungen der Nationalstrasse einen dreifachen Beitrag (Mehrfachnutzung – nachhaltige Bauweise – Förderung Veloverkehr) an die Nachhaltigkeit leisten.

Gebündelte Infrastrukturen zur Entlastung der Landschaften

Auch der Bundesrat fördert eine multifunktionale Nutzung der Verkehrsinfrastrukturen zur Reduktion von Landschaftsbeeinträchtigungen. Er will künftig in der überwiegend sektoriellen Planung von Hochspannungs-, Strassen- und Bahnnetz mögliche Synergien nutzen und fortan beim ­Aus- und Neubau von Verkehrsinfrastrukturen bereits in einer frühen Planungsphase die Möglichkeit ­für eine gleichzeitige Verlegung von Höchstspannungsleitungen beurteilen lassen.

Konkret beauftragte er das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, jährlich für die drei Netze einen Überblick über geplante Infrastrukturneubauten und umfassende Sanierungen zu erstellen und das Potenzial für mögliche Bündelungen zu analysieren.

Im Austausch der betroffenen Infrastrukturbetreiber entstanden so in den letzten Jahren bereits zwei Bündelungsprojekte für die zweite Gotthard-Röhre (Werkleitungskanal für Höchstspannungsleitungen) und die Umfahrung Genf (Erdverlegung der Höchstspannungsfreileitungen und eines neuen, hydrothermischen Netzwerks).

Und trotzdem: eine ernüchternde Bilanz

Trotzdem bleibt die Bilanz bedrückend: Von all den findigen Ansätzen scheint sich in erster Linie die PUN ­flächendeckend im Sinn der Verdichtung zu etablieren. Auch die Absicht zur Bündelung von Infrastrukturen wird sich in den kommenden Jahren vermehrt in geeigneten Projekten konkret zeigen. Angesichts der Tatsache, dass seit über 30 Jahren an Solaranlagen entlang von Verkehrsinfrastrukturen getüftelt wird, scheinen diese kaum eine tragende Rolle zu spielen.

Es fragt sich, ob der Ertrag aus solchen Anlagen den Aufwand für die Erstellung, den Unterhalt und die Übertragung der Energie aufwiegt. Und Velobahnen wirken geradezu als Makulatur gegenüber den beträchtlichen Flächen, die andere Verkehrsmittel für sich beanspruchen.

Zusätzlich zu den gezeigten Projekten und Ideen gab es in den vergangenen Jahren noch weitere Studien zur Mehrfachnutzung von Nationalstrassen. In einer davon liess das Bundesamt für Wohnungswesen das Potenzial für Wohnbauüberdeckungen untersuchen. Die Studie kam zum Schluss, dass derartige Überdeckungen in Einzelfällen zwar zweckmässig sein können, das Potenzial für die Schaffung neuen Wohnraums im gesamtschweizerischen Kontext aber relativ bescheiden ausfällt. Auch könnten damit die Probleme des Wohnungsmarkts nicht behoben werden.

Lesen Sie mehr über Verdichtungsüberlegungen in der Verkehrsplanung: Nicht ganz dicht

Dies schiebt unterm Strich den Schwarzen Peter in Verdichtungsfragen wieder unweigerlich den Zentren zu. Aber genau dort stossen verkehrsbezogene Verdichtungsfragen auf weitgehend taube Ohren. In den Städten wird seit Jahren der motorisierte Individualverkehr gelenkt und dosiert anstatt verdichtet. Vertikal orientierte Verdichtungslösungen, wie beispielsweise der Rosengartentunnel in Zürich oder Umfahrungstunnels, scheiterten in den vergangenen Jahren von Ost bis West jeweils kläglich am politischen Willen. Es sind also durchaus weitere Ideen zur Verdichtung aller Arten von Verkehrsflächen gefragt.


Veloautobahn unter dem Hauptbahnhof Zürich


Im Juni 2021 stimmte die Stadtzürcher Bevölkerung über den Ausbau eines in den 1990er-Jahren für den Transitverkehr gebauten, aber nie in Betrieb genommenen Nationalstrassentunnels als Velotunnel ab. Mit einer Mehrheit von gut 74% nahm sie den Objektkredit in der Höhe von 27.7 Mio. Fr. an. Die Kosten des Gesamtkredits belaufen sich auf knapp 44 Mio. Fr. (die Differenz zum Abstimmungskredit wird durch einen Rahmenkredit für Velomassnahmen gedeckt).

Immense Kosten für einen Tunnel, der bereits im Rohbau besteht und – sollte der Kanton als Eigentümerin nach 20 Jahren Nutzungsdauer von einem Eigenbedarf Gebrauch machen – gegebenenfalls wieder rückgebaut werden muss. Auch dieses Beispiel zeigt, dass Konzepte für Um-, Mehrfach- oder Zwischennutzungen zwar da sind und zum Teil auch umgesetzt werden, aber die eigentlich grossen Würfe noch fehlen oder nur zeitweilig für politisch gerade opportune Verkehrsteilnehmer entstehen.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 20/2021 «Graues Potenzial».

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