Licht und Sicht

Das Krebsforschungszentrum Agora auf dem Campus des Unispitals in Lausanne ist von einem fest montierten Sonnenschutz umhüllt. Die Vorteile sind klar: prägnante Erscheinung, Robustheit und einfacher Unterhalt. Doch wie erfüllt eine fixe Konstruktion ihre Funktion, wenn sich die Bedingungen je nach Orientierung, Tages- und Jahreszeit laufend ändern?

Date de publication
25-09-2020

Beim Agora-Gebäude auf dem Campus der Universitätsklinik Lausanne spürt man förmlich die Zwänge, die genau zu diesem Volumen geführt haben. Erschlossen über die Rue du Bugnon im Osten und sehr nah begrenzt von Bestandsgebäuden im Norden, Osten und Süden, blieb nicht viel Platz für das umfassende Raumprogramm, das sich die Fondation Institut suisse de recherche expérimentale sur le cancer ISREC für ihr grosses Krebsforschungszentrum vorstellte. Im Westen fällt das Grundstück steil ab und geht in einen geschützten Wald über. Der 2018 fertiggestellte Neubau resultiert aus einem internationalen Konkurrenzverfahren, den Behnisch Architekten aus Stuttgart für sich entschieden.

So einfach es den Entwerfern fiel, die Grafiken für Blick- und Wegebeziehungen auf dem Gelände zu erstellen, so kompliziert wurde es mit den Beschränkungen durch die Umgebung. «Da ging es nicht nur um Mindestabstandsräume, sondern auch um die prognostizierte Entwicklung der angrenzenden Bäume und die Grösse ihrer jeweiligen Baumkronen», erläutert Stefan Behnisch.

Das Ergebnis ist ein im Grundriss abgewinkeltes Gebäude, das sich sichelförmig entlang der Hangkante zieht und relativ nah an die Nachbarbauten heranreicht. Zusätzlich zur unregelmässigen Form im Grundriss knickt auch die Hülle nach innen und aussen ab.

«Die damit grob definierte, schräge Form haben wir anschliessend modelliert und ausformuliert. Dabei wurde uns recht schnell klar, dass bei diesem Projekt der Sonnenschutz eine Herausforderung werden würde», so Behnisch. Auch die Gebäudeform an sich schien ungeeignet für ein Haus: Es war vielmehr ein Volumen. So begab man sich auf die Suche nach einer Fassadenlösung, die «die Häuslemassstäbe knackt» und es erschwert, Geschossigkeit und Gliederung auf einen Blick abzulesen.

Die Fassade aus Aluminiumwaben ist mit einer teilweise auskragenden stählernen Unterkonstruktion an der Fassade befestigt; ein begehbarer Steg ermöglicht Wartung und Reinigung. Die Waben sind dank ihrer Faltung in sich selbst ausgesteift und über Gelenke, die Dehnungen und Stauchungen aufnehmen, miteinander verbunden (vgl. «Die Konstruktion der Fassade»). «Im Gesamtbild sieht es sehr präzise aus», lacht Behnisch und weist auf eine Ecke, an der Spannungen ein Element verzogen haben. «Das kann man lösen und wieder anpassen.»

Indirektes Licht genutzt

Die Wabenhülle ist keine Spielerei, sondern erfüllt die Anforderungen des Hauses an den Sicht- und Sonnenschutz. Entsprechend dem Sonnenverlauf vor Ort blenden die weiss lackierten Elemente direkte Sonnen­ein­strahlung aus. Gleichzeitig lenken sie über die Reflexion auf den Flächen Tageslicht an die Decken der Geschosse und damit in die Tiefe der Räume. Während die Elemente an der unbesonnten Nordfassade die dahinter liegende Fensterebene nur sehr locker verdecken, bricht der Sonnenschutz den Blick auf den anderen Seiten stark.

Im E-Dossier Tageslicht sind Artikel zum Thema versammelt.

Nicht wahrnehmbar ist, dass jeder Fassadenseite speziell ausformulierte und präzise geneigte Waben zugeordnet sind – neun Standardversionen gibt es, dann noch einige Sonderelemente; insgesamt sind es etwa 1200 Waben. Sie unterscheiden sich besonders in der Tiefe, in ihrer Stellung, in der Neigung und in der jeweiligen Lochung.

So ist sichergestellt, dass allseitig sommers wie winters möglichst viel Tageslicht in die Räume gelangt. Das robuste System lässt sich dank den begehbaren Stegen einfach warten und reinigen. Die Waben haben keine Lotusbeschichtung, sind aber mit einem reflektierenden Lack überzogen, der nicht so schnell verschmutzt.

Zenitlicht und Tageslichtumlenkung

Nach dem Wettbewerbsgewinn 2013 liessen die Architekten die Wabenkonstruktion vom Stuttgarter Klimabüro Transsolar und vom Tiroler Lichtlabor Bartenbach überprüfen. «Transsolar kümmerte sich um die Frage, ob genug Tageslicht in die Räume gelangt. Und Bartenbach achtete zum Beispiel auf die Kontraste im Gebäude und verfeinerte die Lochung der Wabenplatten», erläutert Stefan Behnisch.

Als Farbe für die Waben war reines Weiss zu grell und zu blendend, ein vorgeschlagenes Grau zu düster – besonders im Winter hätte dann das Licht gefehlt. Ausgeführt wurde ein leicht gebrochenes Weiss. Miteinander diskutierten Fachplaner und Architekten, welche Reflexionsgrade optimal für das Objekt wären und in welchem Farbspektrum man sich bewegen sollte. Anhand eines physischen Modells überprüften sie die Wirkung der Wabenelemente auch über die Jahreszeiten hinweg.

Von Mai bis Oktober soll die Sonnenstrahlung möglichst nicht ins Gebäude gelangen, im Winter hingegen schon. Die Waben blenden nur den Einstrahlungsbereich ­zwischen 48 und 65 Grad aus, das Zenitlicht gelangt so dennoch in das Gebäude. «Es ist einfach, die Sonne auszublenden», erklärt Behnisch. «Komplizierter ist es, eine geschickte Tageslichtumlenkung zu planen, die den Menschen im Gebäude etwas bringt.»

Gemeinsam mit den Fassadenplanern von Emmer Pfenniger entwickelten die Architekten die Details, entschieden über Nietung und Schraubung, über Faltung und Fuge. Anschliessend wurde das gesamte Modell nochmals vom Totalunternehmer Steiner und der EPFL überprüft, und die Berechnungen wurden bestätigt.

Lichtausbeute und Aussicht vereinen

Nach der Ideenfindung für die Fassade galt es, in viel  Fleissarbeit einfache physikalische Parameter in Einklang zu bringen. Über das generelle Wissen zum Thema verfügten die Architekten bereits, daher planten sie die Gebäudehülle zunächst selbst. «Sonnenlicht ist parallel und verhält sich nach den Reflexionsgesetzen. Das kann man grasshoppern», sagt Behnisch und meint damit eine Überprüfung der Parameter anhand der Software Grasshopper.

Am Ende sei die Entwicklung und Umsetzung gar nicht so schwierig gewesen. Ursprünglich hätte hinter den Sonnenschutzelementen eine Ganzglasfassade gestanden, von dieser Idee trennten sich die Architekten aber aus Kostengründen. Die stattdessen gebaute Lochfassade, die man hinter den Waben kaum wahrnimmt, erfüllt heute die Bedürfnisse des Hauses hinsichtlich Lichtausbeute und Aussicht gut.

Die in den Obergeschossen liegenden Büros und Laborräume haben breite und hohe Fenster mit dicken hölzernen Laibungen. Aussen ziehen sich die Sonnenschutzwaben über das Fenster, was den Ausblick aber kaum beeinträchtigt. Der Gewinn dieser immobilen Lösung ist der ständig vorhandene Ausblick, der heutzutage bei mobilen Verschattungslösungen leider oft einer zentralen Steuerung zum Opfer fällt.

Immobiler Sonnenschutz mit Zukunft

«Bei unseren Projekten in den USA stellen wir zunehmend einen Widerstand gegen beweglichen Sonnenschutz fest», erklärt Behnisch. «Viele halten ihn für wartungsintensiv; und in Gegenden mit viel Sand in der Luft stimmt das auch.» In Lausanne bot sich dem Büro erstmals die Möglichkeit, sich an einem nicht beweg­lichen und dafür sehr robusten Sonnenschutz zu versuchen.

Dass Wettbewerbe in der Schweiz komplexer sind und tiefer ausgearbeitet werden müssen als in den USA, sei den Planern dabei zugute gekommen. Mit der richtigen Modellierung von Tiefe, Breite und Neigung ist das für Agora entwickelte System an jedes Klima anpassbar. Oder, wie es Behnisch formuliert: «Das passt von Bergen bis Boston.»

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Deutsche Bauzeitschrift DBZ 9/2019, www.dbz.de

AM BAU BETEILIGTE

Bauherrschaft
Fondation Institut suisse de recherche expérimentale sur le cancer ISREC, Lausanne

Nutzung
Université de Lausanne UNIL; École Polytechnique Fédérale de Lausanne EPFL

Betrieb
Centre hospitalier universitaire vaudois CHUV, Lausanne 

Architektur
Stefan Behnisch Architekten, Stuttgart

Architektur Partner
Fehlmann Architectes, Morges

Tragwerksplanung
ZPF Ingenieure, Basel

Energiekonzept
Transsolar Energietechnik, Stuttgart

Fassadenplanung
Emmer Pfenninger Partner, Münchenstein

Lichtplanung
Bartenbach LichtLabor, Aldrans (A)

HLS-Planung
AZ Ingénieurs Lausanne

Akustikplanung
AAB J. Stryjenski & H. Monti, Carouge GE

Elektroplanung
Bering, Bern

Brandschutzplanung
Swissi, Neuchâtel

Laborplanung
Dr. Heinekamp Labor- und Institutsplanung, Karlsfeld bei München

Landschaftsplanung
Oxalis Architectes Paysagistes Associés, Carouge GE

Totalunternehmung
Steiner, Tolochenaz

DATEN ZUM BAU

Wettbewerb
2012

Ausführung
2015–2018

Bruttogrundfläche gemäss DIN 277
22 500 m²

Bruttorauminhalt gemäss DIN 277
93 000 m³

Nutzflächen
Total: 11 500 m2
Laboratorien: 5000 m2

Technische Einheiten:
2900 m2
Atrium: 700 m2
Technikräume: 1500 m2
Publikumsräume: 1400 m2

Baukosten
80 Mio. Fr.

Die Konstruktion der Fassade …

Die diagonal gelegten, geschossweise an auskragenden Stahllaschen verschraubten, gefalteten Elemente bestehen aus pulverbeschichtetem Aluminium, ein Netzgewebe von 5500 m2. Die Elemente bestehen aus zwei gefalteten Aluminiumteilen, die miteinander verbunden sind, um Biegemomenten standzuhalten und die Biegefestigkeit zu erhöhen. ­Laschen an den Rändern ermöglichen das unsichtbare Befestigen der Einheiten.

Die Elemente sind teilweise mit ­lasergeschnittenen Löchern versehen, um den Kontrast zu minimieren und so Blendeffekte zu vermeiden. Sie verschat­ten den Bau, ermöglichen aber den Ausblick. Die Spannweiten der einzelnen Elemente sind mit 1 bis 2.5 m verhältnismässig klein, was die Ausführung technisch und statisch gut lösbar machte. Das Netzgewebe ist rund 80 cm vor den Massivbau gesetzt; so verfügt jedes Stockwerk über einen 60 cm breiten, begehbaren Metallsteg für Unterhalt und Reinigung.

… und das Leben dahinter

Bauherrin des 2018 fertiggestellten Agora ist die gemeinnützige Stiftung ISREC. Sie widmet sich der experimentellen Krebsforschung und ist Mitglied des ­interdisziplinären Zentrums für angewandte Krebsforschung (SCCL – Swiss cancer center Léman), das die Kompetenzen von Universitäten, Fachhochschulen, Spitälern und Kliniken sowie von öffentlichen und privaten Institu­tionen zusammenführt. Im Agora arbeiten denn auch rund 300 Forschende in multidisziplinären Teams aus den Bereichen Medizin, Biologie, Immunologie, Bioin­formatik und Bioingenieurwesen; ihre Interaktionen sollen die Entwicklung neuer Therapien beschleunigen.

Auf vier Geschossen beherbergt der Neubau Laborflächen, Technologieplattformen, Büros, Konferenzräume, ein grosses Auditorium sowie ein Restaurant. Entsprechend der interdiszipli­nä­ren Arbeitsweise sind die Büros gruppiert angeordnet, die Labors dagegen offen und nicht nach Forschungsgruppen oder nach Insti­tutionen aufgeteilt.

Ein transluzides Dach aus pneu­ma­ti­schen ­ETFE-Kissen zwischen dem ­Agora-­­Neubau und den bestehenden Nachbarbauten definiert ein Atrium, das die Be­sucher empfängt und von Frühjahr bis Herbst für Meetings, Konferenzen und Feiern genutzt werden kann. Eine röhrenförmige Stahlkonstruktion stellt eine ­direkte Verbindung zur Pathologieabteilung des CHUV/UNIL her.

«Die Architektur begünstigt Interaktionen zwischen Disziplinen und unter Forschenden sowie den Austausch zwischen etablierten Wissenschaftlern und Studierenden», betont Francis-Luc Perret, Direktor der Stiftung ISREC. «Im Gebäude sinnvoll verteilte Bereiche regen zu spontanen Treffen an und fördern auf diese Weise den fachlichen Gedankenaustausch.»

Charles von Büren, Korrespondent TEC21, Bautechnik und Design

Sur ce sujet