Vom Ba­ra­cken­dorf zur übe­rhän­gen­den Glas­fas­sade

Im kommenden Herbst geht The Circle schrittweise in Betrieb. Aus der einst grössten Hochbaustelle der Schweiz wird ein kolossales Kommerz- und Dienstleistungsangebot und eine Landmarke in der über 70-jährigen Entwicklungsgeschichte des Flughafens Zürich.

Date de publication
09-07-2020

Vor 74 Jahren, am 5. Mai 1946, waren sich über drei Viertel der Zürcher Stimmberechtigten einig, dass ein Fremdenverkehrsland wie die Schweiz in den Anschluss an den weltumspannenden Flugverkehr investieren soll. Fortan nahm das Projekt für den Interkontinentalen Grossflughafen Kloten seinen Lauf.

Im Lauf der Jahrzehnte wurde der Flughafen auf dem Gelände des ehemaligen Artillerieschiessplatzes Kloten-Bülach ständig erweitert. 1953 ersetzte der von den Gebrüder Oeschger entworfene Flughof das Barackendorf am Pistenrand zur Abfertigung der Passagiere. Bis 1961 wurden die West- und Blindlandepiste verlängert, der Flughof mit dem Terminal A ergänzt und zahlreiche betriebliche Infrastrukturen geschaffen.

Grosse Veränderungen folgten in den 1970er- und 1980er-Jahren mit dem Bau der kreuzungsfreien V-Piste, dem Terminal B, den Parkhäusern, dem Airport Plaza, der Flug­hafenlinie SBB, der Erweiterung von Terminal A und weiteren Betriebsbauten. Kurz nach der Jahrtausendwende entstanden das Dock Midfield mit der Skymetro sowie das Airside Center und das Parkhaus 3. Anschlies­send wurde der Flughafen in den Jahren 2007 bis 2010 zur Erfüllung des Schengener Abkommens um- und ausgebaut sowie besser an den lokalen öffentlichen Verkehr angeschlossen. In den Folgejahren bis 2015 wurde das Terminal 2 aufgewertet.

Der Höhenflug

Ein ähnliches Wachstumsbild zeigt sich in der Entwicklung der Verkehrszahlen am Flughafen. Nur das Grounding der Swissair Ende 2001 und heuer das Coronavirus vermochten die über 50-jährige Wachstumsstatistik vorübergehend zu bremsen. Mehrfach mit dem World Travel Award als führender Flughafen Europas ausgezeichnet, hat der Flughafen Zürich seine Position auch im internationalen Umfeld laufend gefestigt. Gemessen an den Passagierzahlen gehört er zu den Top 20 Europas.

Längst sind Besuche am Flughafen für grosse Teile der Bevölkerung nicht mehr nur arbeitsbedingt oder fernwehgetrieben: Rund 45 % ihrer Erträge erwirtschaftete die Flughafen Zürich AG im Jahr 2019 mit sogenannten «Non-Aviation»-Geschäften. Am nördlichen Rand des gewachsenen Stadtzürcher Siedlungsgebiets ist das Flughafenareal Teil der Zentrumsstruktur zwischen Zürich und Winterthur und spielt mit seinen an 365 Tagen im Jahr zugänglichen Kommerzangeboten an bester Verkehrslage eine anscheinend wichtige Rolle in der regionalen Versorgung.

The Circle – die vorläufige Krönung

Nun will The Circle mit erweiterten Dienstleistungen neue Massstäbe setzen. Neben dem Airport Shopping (öffentliches Shoppingcenter mit 19 000 m2) und dem Airside Center (im Passagierbereich mit 14 200 m2) kommen mit dem Neubau ab Herbst 2020 rund 180 000 m2 Dienstleistungsflächen hinzu. Mit dieser Erweiterung will die Flughafen Zürich AG ein neuartiges Gesamtangebot mit Läden, Büroflächen, Gastronomie, Hotellerie, Gesundheitsversorgung, Bildung und Kunst schaffen. Neben den üblichen Verdächtigen richtet beispielsweise das Universitätsspital Zürich (USZ) am Flughafen das schweizweit grösste Ambulatorium ein.

Eine ausführlichere Version dieses Artikels finden Sie in TEC21 20/2020 «The Circle: Megaprojekt im Landeanflug».

Der Neubau liegt sichelförmig am Fuss des Butzenbüels und umfasst insgesamt sechs Gebäude, die über Gassen und teils Passerellen miteinander verbunden sind. Blickfang ist die rund 40 m hohe und mit einer Neigung von bis zu 19° gegen den Flughafen hin geneigte Glasfassade. Hinter ihr öffnet sich eine Kleinstadt, deren Struktur mit Plätzen und darin mündenden Gassen laut ihrem Architekten Riken Yamamoto dem Zürcher Niederdorf nachempfunden ist. Funktional und qualitativ hat ­die Kleinstadt ohne Wohnnutzung aber wenig gemeinsam mit diesem Vorbild, das immer wieder für Planungen referenziert wird.

Hinter der klaren, rund 700  m langen Fassadenlinie werden die Konturen von gesamthaft etwa 1 Mio.  m3 Gebäudevolumen zunehmend kleiner und schmiegen sich der Butzenbüel-Topografie an. Die Kosten für das Bauwerk belaufen sich auf rund 1.2 Milliarden Fr. – bei einer Bauzeit von sechs Jahren werden also pro Tag durchschnittlich rund 500 000 Fr. verbaut. Und dies im komplexen Umfeld bestehender Strukturen und geotechnischer Herausforderungen, ohne dass der Flugbetrieb je beeinträchtigt wurde.

Gemessen an den aktuell noch verfügbaren Mietflächen scheint das Konzept des Circle generell auf Nachfrage zu stossen: Bislang sind gut 80 % der volumetrisch effizient generierten Flächen (vgl. «Von der Tiefgaragendecke wird jeder Quadratzentimeter beansprucht») bereits vermietet. Durch die räumliche Dichte bleibt allerdings offen, ob sich die Flächen bei späterem Bedarf ohne Weiteres baulich umnutzen lassen.

Ab Herbst 2020 soll der Neubau schrittweise in den Betrieb übergehen. Erste Zeugnisse hat das Bauwerk indes bereits erhalten: Mit dem LEED-Platinum-Zertifikat und dem Minergie-Label sind die im Bereich Nachhaltigkeit selbst gesetzten Projektziele und der heutzutage gängige Baustandard erreicht worden. Zu verdanken ist dies insbesondere der Wärme- und Kältegewinnung mittels Energiepfählen (Pfahlgründung mit Übertragung der natürlichen Erdwärme), den Energie- und Wasserrückgewinnungsanlagen sowie der Photovoltaik (mit einer Modulfläche von 3360 m2) auf den Gebäudedächern. Ein Ansatz, um das erklärte Ziel der Klimaneutralität des Flughafens bis 2050 zu erreichen.

Im Spiegel der Zeit

Mit der Zeit haben sich die Dimensionen gewandelt: Das erste permanente Aufnahmegebäude am Flughafen, der Flughof von 1953, beanspruchte eine Grundfläche von 4600 m2. The Circle beansprucht – ohne direkte Bewandtnis für die Passagierabfertigung – gut sechsmal mehr. Der ursprüngliche, elegante Flughof ist unter einem organisch gewachsenen Gebäudekonglomerat verschwunden. Ebenso in der heutigen Zeit zu verschwinden droht der Erfolg herkömmlicher Shoppingcenter. So versteht sich denn auch The Circle mehr als Erlebnis- und Convenience-Ort: Die Geschäfte sollen die vertretenen Marken an voraussichtlich sieben Tagen in der Woche erfahrbar machen.

Als der österreichische Architekt und Stadtplaner Victor Gruen in den USA zu Beginn der 1950er-Jahre erste Vorbilder für künftige Einkaufszentren schuf, wollte er die öden amerikanischen Vororte mit fussgängerfreundlichen Einkaufsmöglichkeiten und Freizeiteinrichtungen beleben. Er setzte sich als Stadtplaner für autofreie und fussgängerfreundliche Innenstädte ein und übertrug das Konzept in Gehdistanz untereinander erreichbarer Geschäfte des täglichen Bedarfs von den Innenstädten auf die Vororte.

Gleiche Motive könnte man vorliegend den Circle-Architekten mit ihrer Analogie zum Zürcher Niederdorf zusprechen – obwohl mit der Markenrepräsentationsstrategie am Flughafen wohl eher eine zweite Bahnhofstrasse entsteht. Gruens Absichten zumindest entwickelten sich in eine ungewollte Richtung: Die amerikanischen Innenstädte verwaisten zunehmend, und die Erlebniswelten im Umland wurden zum Anziehungspunkt für die konsumfreudige und nicht zuletzt oft mit dem Individualverkehr anreisende Kundschaft.

Die Fotografie 2 in unserer Bildergalerie prophezeite in den 1970er-Jahren auf gewisse Art die mittlerweile real gewordene Zukunft des Flughafens. Welches Bild der Zukunft zeichnet sich wohl heute in den Reflexionen des Circle-Neubaus? Von den ungewollten Auswirkungen wie bei Gruens Bauten ist immerhin nicht auszugehen: Gemäss Modalsplit-Erhebung des Flughafens reisten 2017 (letzte Erhebung) deutlich mehr als die Hälfte der Retail- und Gastrokunden mit dem öffentlichen Verkehr an – Tendenz steigend.

 

Am Bau Beteiligte

Bauherrschaft
Flughafen Zürich & Swiss Life

HOCHBAUARBEITEN

Architektur
Riken Yamamoto & Field Shop, Yokohama

Realisierungspartner
HRS Real Estate, Zürich

Architektur Ausführung
Fischer Architekten, Zürich; Richter – Dahl Rocha & Associés architectes, Lausanne; RLC Architekten, Rheineck

Tragwerksplanung
INGE Circle c/o Ribi + Blum, Romanshorn (Ribi + Blum / wlw Ingenieure); Stahlbau: WITO-engineering, St. Gallen, und Krebs + Kiefer­Ingenieure, Karlsruhe (D)

Gebäudetechnik
Amstein + Walthert, Zürich

Fassadenplanung
Atelier P3, Zürich; ­Neuschwander + Morf, Basel

Baugrubenabschlüsse
Kibag Bauleistungen, Bäch

Baugrubenabschlüsse, Bohrpfähle, Energiepfähle, Kanalisationssystem
ARGE Circle c/o Bauer Spezialtiefbau Schweiz (Bauer Schweiz + Strabag)

Fassade
Josef Gartner, Gundelfingen (D)

TIEFBAUARBEITEN

Planung und Bauleitung
Planergemeinschaft B + S, Zürich, und dsp Ingenieure und Planer, Uster (Neubau Erschliessung, Bauleitung erste Etappe); Schnewlin + Küttel, Winter­thur (Rückbau Gebäude); IBG, St. Gallen (Neubau Elektro­infrastruktur); Maneth + Stiefel, Schlieren (Rückbau Elektro­infra­struktur)

Bauunternehmung
ARGE Circle Marti Bau, Zürich, mit Eberhard Bau, Kloten, und Stutz, Frauenfeld (Neubau Erschliessung); Zani, Winterthur (Rückbau bestehende Gebäude); Kull Elektro, Birmensdorf (Rückbau und Neubau Elektroinfrastruktur)

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