Di­gi­tal vor am­bu­lant vor sta­tionär

In Nordeuropa und den USA begann man vor 30 Jahren die Spital­landschaft umzubauen. Ein möglicher Ansatz ist die prozessorientierte Lean-Methode, die in der Everett Clinic in Seattle umgesetzt wird. Wann zieht die Schweiz nach?

Date de publication
19-03-2020

Spitalbau ist ein Dreiklang aus baulichen, prozessualen und betriebswirtschaftlichen Aspekten. Die Entwicklung ist stark ökonomisch getrieben. In den USA und im nahen Ausland, in den Niederlanden, in Finnland, Dänemark oder Schweden begann man bereits vor rund 30 Jahren das Gesundheitssystem massiv umzustellen. Interessant dabei: Die viel schlankere Abdeckung im Ausland widerspiegelt den bereits vollzogenen Wechsel zu spezialisierten Häusern, die eine Versorgung im Verbund anbieten (vgl. «Vernetzte Gesundheitsversorgung»). Spitzenmedizin wird in zentralisierten Häusern auf Universitätsstufe zusammengefasst und angeboten. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Länder über ein staatlich reguliertes Gesundheitssystem verfügen, wie Schweden, oder ein privatisiertes System, wie die USA oder die Niederlande.

Niederlande: 70 % ambulant

In den Niederlanden, wo die Privatisierung der Spitallandschaft ab den 1990er-Jahren den Umbau ausgelöst hat, lässt sich eine weitere Tendenz beobachten. An die Stelle der staatlichen Organisationen traten damals privatrechtliche Netzwerke. Grosse Zentrumsspitäler arbeiten heute im Verbund mit lokalen eigenen oder vertraglich gebundenen ambulanten Häusern zusammen und decken als Gesamtorganisation die Leistungen ab. Die Vergütung der Spitäler durch den Versicherer erfolgt gemäss jährlich festgelegten Fallpauschalen, also unabhängig von der tatsächlichen Anzahl der Behandlungen. In welchem ihrer Häuser eine Behandlung durchgeführt wird und ob ambulant oder stationär, entscheiden die Organisationen allein.

Die Auswirkungen der Umstellung sind massiv. Heute werden rund 70 % der Operationen ambulant durchgeführt. Geplante Operationen werden mit einem Vorlauf von drei Monaten terminiert. Die Vorabklärungen und Untersuchungen laufen nach standardisierten Prozessen ab. Die Patientenakte ist digital erfasst und zentral abrufbar. Der Arzt ist Teilnehmer am Prozess und nicht mehr dessen Urheber.

Design to process: «Pod» und Patientenzimmer

Die Standardisierung und Verschlankung von Prozessen sind auch bei der baulichen Umsetzung bestimmend. Nach dem Grundsatz der Lean-Methode verfolgen sie das Ziel, Verschwendung zu vermeiden – ob in Zeit- oder Flächeneinheit. Durch die Planung mittels Arbeitssimulationen lässt sich der Flächenbedarf den effektiven Prozessanforderungen anpassen. Mit dem «Prozess-Ziel» der raschen und vollständigen Genesung des Patienten führt dieser eher technische Ansatz zum medizinisch sinnvollen «Alles dreht um den Patienten».

Konkret: Der Arzt geht zum Patienten und nicht mehr umgekehrt. Das Lean-Prinzip der «Sofort-Erledigung» wird möglichst umfassend umgesetzt. Exemplarisch treten diese Veränderungen in der sogenannten «Pod»-Typologie zutage, mit der Everett Clinic in Seattle als Aushängeschild einer Umsetzung. Patientenbereich (on-stage) und personeller Bereich (off-stage) sind konsequent voneinander getrennt. Die einzelnen Pods sind als thematische Cluster kammartig gruppiert.

Der gemeinsame Off-Stage-­Bereich führt zu intensiverem Austausch sowohl der Ärzte untereinander als auch der Ärzte mit dem Pflegepersonal. Die Schwelle, einen Kollegen um eine Zweitmeinung zu bitten, ist entsprechend niedrig. Durch die Möglichkeit des Sichtbezugs zwischen On- und Off-Stage können Ärzte und Pflegepersonal administrative Tätigkeiten erledigen und zugleich den Patienten im Auge behalten. Warteräume sind überflüssig.

Die mittlere Verweildauer in einer «Pod»-Notfallstation beträgt nachweislich weniger als drei Stunden, was in etwa der reinen Wartezeit in einer Schweizer Notfallstation entspricht – ohne Vorunter­suchung oder Behandlung.

Da die Abläufe bei Operationen technisch überall ­ähnlich sind, gilt das Patientenzimmer neben dem äusseren ­Erscheinungsbild oft als Kür des architektonischen ­Entwurfs. Entsprechend deutlich tritt der Paradigmenwechsel hier zutage. Aufgrund der viel ­kürzeren Verweildauer von Patienten – in den USA durchschnittlich etwa halb so lang wie in der Schweiz – werden pflege­rische und organisatorische Aspekte vor die architektonischen ­eingereiht.

Die Patientenzimmer sind in die drei Zonen Pflege, Patient, Angehörige ­unterteilt. Um maximale Transparenz, aber auch Durchlässigkeit zwischen Korridor und Zimmer zu gewährleisten, sind Angehörigenbereich und Nasszelle dazu an der Fassade platziert. Der Materialschrank kann direkt vom Korridor befüllt werden. Die Zimmer sind ausschliesslich als Einbettzimmer konzipiert. Die Mehrwerte: weniger Infektionen, weniger Störungen durch eintretendes Personal, optimierte Tourenplanung und – da gesperrte Betten entfallen – höhere Auslastung.

Kurze Verweildauer

Die öffentlich einsehbaren Benchmarks der Spitäler wie Rehospitalisierungswerte, Infektionsrate etc. zeigen: Die Qualität der hospitalen Behandlungen ist im Ausland gleich wie in der Schweiz, teilweise sogar höher. Die Warte-, Behandlungs- und Verweildauer in Notfall- und Spitalstationen ist durchwegs kürzer, die Wartezeit und Anreise bei geplanten Operationen viel länger.

Die Diskretion ist aufgrund der erhöhten Transparenz beim Patientenzimmer während der Untersuchung oder Behandlung höher, während der Erholungsphase aber tiefer. Und nicht zuletzt: Durch die Verschiebung der Rolle des Arztes zum Teilnehmer im Prozess erreicht man eine höhere Qualitätskontrolle.

Neue Konzepte in der Schweiz

Inwiefern sind diese Neuerungen aber mit der Schweizer Planungsrealität kompatibel? In der konkreten Umsetzung stellen wir fest, dass oftmals das Argument gewinnt: Es hat andernorts jahrzehntelang funktioniert, also wird es das auch hier. Oft fehlen der Wille und der Mut, Neues einzuführen. Digital vor ambulant vor stationär findet noch keine nachhaltige Akzeptanz, weder bei den Bestellern, also den Spitalbetreibern, noch in der Planungswelt.

Auch die prozessorientierte Lean-Methode hält erst ansatzweise Einzug. Zu gross sind die Ängste vor Rollenverschiebungen, zu eingefahren die Strukturen. Angesichts des unvermeidbaren Umbaus der Spitallandschaft1 wird sich das ändern müssen. Künftig wird nicht mehr der Grössere den Kleineren schlucken, sondern der Schnellere als Einziger in der Zukunft ankommen.

Anmerkung
1 Die «Verschwendung» von Flächen aufgrund falscher Organisation dürfte gemäss unseren Erfahrungswerten 20 – 30% der Hauptnutzfläche betragen.

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