Der ur­bane Raum als Ar­beits­ma­te­rial

SIA-Masterpreis Architektur 2017

Der urbane Raum als Arbeitsmaterial: Die ausgezeichneten Abschlussarbeiten nutzen den Bestand als Rohstoff für die Erneuerung.

Date de publication
24-05-2018
Revision
03-07-2018
Yony Santos
Head of education espazium.ch | Architekt | Redaktor

Die Auszeichnung prämiert jährlich hervorragende Masterarbeiten der drei universitären Architekturfakultäten der Schweiz, die architek­tonisch und städtebaulich zeitgemässe und innovative Lösungsvorschläge zeigen. Jeweils drei Auszeichnungen gehen an die ETH Lausanne (EPFL) und die Accademia di Architettura Mendrisio (AAM), bis zu sechs Preise an die ETH Zürich, die pro Jahr aufgrund der höheren Studierendenzahl zwei Diplomsemester durchführt. 

Die von den Fakultäten vorgege­benen Themen für die Abschluss­arbeiten bieten regelmässig einen ­guten Überblick über die Heraus­forderungen des heutigen Archi­tektenalltags. Auch die diesjährigen ­Siegerprojekte spiegeln einen aktuellen Trend in der Architektur wider: die Arbeit im bereits bebauten ­urbanen Raum. Diese Thematik ist symptomatisch für den europäischen Kontinent, auf dem alle zwölf ausgezeichneten Projekte verortet sind. Ob es um die Salzburger Altstadt, das Pariser Pigalle-Quartier oder ein Industrieareal in Zürich geht – die Auseinandersetzung mit dem Bestand bildet das Experi­mentierfeld für die nächste Architektengeneration.

Die neue Altneue (ETH Zürich)

Auch wenn sich alle nominierten Arbeiten mit einer ähnlichen Thematik beschäftigen, haben der Standort und die methodische Ausrichtung der drei Hochschulen die konkrete Entwicklung der Projekte beeinflusst. Im stark wachsenden kosmopolitischen Zürich steht die Verdichtung im Zentrum der Diskussion. Jeder Winkel der Stadt ist eine potenziell verwertbare Fläche, die eine bessere Zukunft oder doch zumindest eine grössere Dichte verspricht. Dafür ist jedes Mittel recht, solange das neue urbane Modell auf historisch und stadtplanerisch sinnvollen Betrachtungen fusst. Mit Respekt vor der Beschaffenheit der Standorte wie dem Zürcher Niederdorf, einem Getreidesilo oder dem Wasserkraftwerk wollen die neuen Programme die verschiedenen Umfelder konstruktiv ergänzen und ihnen eine neue zeitgemässe Schicht hinzufügen. Eine frische und überraschende Interpretation des stilistischen und historischen Wandels, der zurzeit das architektonische Schaffen in der Deutschschweiz prägt.

Die Atmosphäre des Vertrauten (AAM)

In Mendrisio herrscht eine ganz andere Atmosphäre. An diesem Hochschulstandort mit gut 10 000 Einwohnern (Studierende mitgezählt) hält man an einem altbekannten akademischen Ansatz fest, der die Accademia in kurzer Zeit zu einem der renommiertesten Architekturzentren Europas gemacht hat.

Im Gegensatz zu den Masterthemen des Vorjahres, die sich auf St. Moritz konzentrierten und eine ausgeprägte landschaftliche Komponente beinhalteten, befassten sich die Abschlussarbeiten 2017 mit der österreichischen Stadt Salzburg. Das Studienobjekt ist die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählende Altstadt. Alle drei Arbeiten nähern sich der barocken Stadtstruktur mit einem ähnlichen Ansatz: Sie wollen eine auf das historische Projektumfeld abgestimmte Atmosphäre schaffen. Die Masterprojekte sind von den Salzburger Festspielen oder vom Mönchsberg inspiriert und machen das historische Gedächtnis der Stadt zu ihrem wichtigsten Rohmaterial. Dadurch erhält die Schaffung von archaischen Stimmungen oder abrupten Gegensätzen Vorrang vor der baulichen Machbarkeit. 

Besonders hervorzuheben ist hier das Projekt von Julian Nieciecki, das die historische Beziehung der Stadt zum Wasser nutzt, um zwei sehr gegensätzliche Programme in einem Bau unterzubringen: ein öffentliches Parkhaus und ein Thermalbad. Auch hier ermöglicht es das Bauen im Bestand, bereits bebauten, qualitätsarmen Flächen eine neue Bestimmung zu geben. 

Der Raum als poetische Struktur (EPFL)

In Ecublens, dem Standort der ETH Lausanne, ist man weniger stilistisch ausgerichtet als in Zürich und Mendrisio und verfolgt stattdessen einen breiteren wissenschaftlichen Ansatz, der eine Brücke zwischen Architektur und Geisteswissenschaften schlägt.

So beruht die Lehre an der EPFL weniger auf Projekten als vielmehr auf Arbeitshypothesen. Für die etwas ungewöhnlichen Projektstandorte wie eine Rhoneschleife in Genf oder die Île de Sein im Westen des französischen Departements Finistère werden Veränderungen der durch die ursprünglichen menschlichen Aktivitäten entstandenen Formen vorgeschlagen. So bietet etwa das Projekt «La STEP d’Aïre» von Thierry Buache einen Lösungsvorschlag für die Umnutzung einer ehemaligen Abwasserreinigungsanlage an. Die Balance zwischen kulturellem Erbe, Projekt und Raum dieses pädagogischen Ansatzes wäre durchaus einer eingehenden fachlichen Analyse würdig.

Die Architektur des Augenblicks

Die Demokratisierung des Bilds durch die modernen Kommunikationsmittel hat zahlreichen Gestaltern den Weg in bisher selektivere kulturelle Strömungen geebnet. Doch was sich bei Fotografen oder Illustratoren längst als notwendiges Arbeitsmittel etabliert hat, ist in der Architektur noch ein kaum untersuchtes Phänomen. Die modernen Bilddatenbanken wie Pinterest oder Tumblr beeinflussen die Bilderwelt der Architekturstudierenden (und nicht nur der Studierenden) derart, dass die Lehre unter einer Art «Instagramisierung» der grundlegenden Kompositionsprinzipien leidet und die Architektur eine neue Strömung des Eklektizismus, des «Alles ist möglich» erlebt. Das Problem ist weniger, dass die Projektträger soziale Netzwerke zur Inspiration nutzen, sondern vielmehr, dass sie Teil davon werden möchten und somit das Bild wichtiger wird als der Inhalt. 

Angesichts dieser neuen Realität trägt die Lehre der Architektur mehr denn je dazu bei, die verschiedenen Phänomene rund um den Architektenberuf einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Und die hier vorgestellten Projekte liefern, gerade weil sie sich nicht nur dem Lob, sondern auch der Kritik gestellt haben, eine pragmatische Antwort, indem sie eine Geschichte erzählen, statt nur ein Bild zu produzieren.

Alle prämierten Arbeiten finden Sie in unserem E-Dossier.

Sur ce sujet