Potenzial eines schlichten Entwurfs
Projektwettbewerb Personenüberführung Rotkreuz/Risch
Eine neue Personenüberführung bildet künftig die Verbindung der zwei Ortsteile Rotkreuz und Risch im Kanton Zug. «Tendenza» vom Ingenieurbüro Synaxis aus Zürich mit Michael Meier und Marius Hug Architekten wurde von der Jury zur Weiterbearbeitung empfohlen.
Der Bahnhof Rotkreuz ist ein wichtiger Knotenpunkt im Schienenverkehr der Innerschweiz für den S-Bahn-, Regional- und Fernverkehr. In direkter Umgebung stehen zwei grössere, für die regionale Entwicklung der Gemeinde wichtige Projekte in Planung: das Areal Nord mit dem westlichen Abschluss, der Überbauung Suurstoffi (vgl. TEC21-Sonderheft «Stadt aus Holz II», 2016), und das Areal Süd mit der Entwicklung und Erneuerung des Bahnhofareals. Diese beiden Gebiete sollen durch eine neue Personenüberführung Ost miteinander verbunden werden, die auch über zwei Abgänge auf die Perrons verfügt. 2014 hat die Gemeinde Risch einen einstufigen Projektwettbewerb im selektiven Verfahren für Generalplanerteams ausgelobt.
In der Präqualifikation bewarben sich 28 internationale Teams. Das Preisgericht wählte die sieben am besten qualifizierten für die Teilnahme aus. Sechs Teams reichten im Sommer 2016 anonym ihre Wettbewerbsprojekte ein. Dabei waren architektonische, verkehrstechnische, ökologische, ökonomische und städtebauliche Aspekte zu berücksichtigen. Die eingegangenen Projekte waren aus Sicht des interdisziplinär zusammengesetzten Preisgerichts ingenieurtechnisch, gestalterisch und wirtschaftlich sehr facettenreich. Die beste Lösung erarbeitete das Team «Tendenza» des Ingenieurbüros Synaxis mit Michael Meier und Marius Hug Architekten.
Gestaltungsfreiheit und Einschränkungen
Grundsätzlich birgt das Projekt als Personenüberführung mit geringen Nutzlasten grosse Gestaltungsfreiheiten bei Tragsystem, Form und Materialisierung. Diese Freiheiten werden allerdings durch die zahlreichen Randbedingungen und den bahnbetrieblich äusserst sensiblen Ort eingeschränkt. So führt die stützenfreie Querung eines Hauptteils des Gleisfelds zu einer verhältnismässig grossen Hauptspannweite, die eine entsprechende Konstruktionslösung respektive Konstruktionshöhe erfordert. Die Passerelle muss zudem «unter Verkehr» über dem Gleisfeld erstellt werden. Im Gleisfeld sind weder im Bau noch im Endzustand Abstützungen möglich – einzig die Perrons lassen Abstützungen zu. Bei der Entwicklung des Tragwerkskonzepts stellte der Bauvorgang daher eine entscheidende Randbedingung dar.
Formale und statische Einheit
Das Projekt «Tendenza» vermochte gemäss Jury diese Gratwanderung zwischen Freiheit und Korsett am elegantesten bewältigen. Es gibt eine adäquate Antwort auf die Aufgabe, indem es die beiden Ortsteile von Rotkreuz mit einer offenen Wegführung verbindet. Im Sinn einer kontinuierlichen Gleisquerung und aufgrund der ohnehin ungedeckten Zuwege bewertet das Preisgericht den Verzicht auf eine Überdachung positiv. «Tendenza» verbindet die für die Auslober wichtigen Erschliessungselemente und das Brückenbauwerk formal und statisch zu einem stimmigen Ganzen, was die Jury als besondere Qualität des Entwurfs wertet. Stirnseitige Treppenaufgänge, Passerelle und Perronabgänge sind eine Einheit. Der Entwurf kontrastiert so das unruhige, von Schienen, Masten und Leitungskabeln dominierte Gleisfeld und setzt dadurch als künftige oberirdische Gleisverbindung ein klar lesbares Zeichen.
Der zweifeldrig gespannte, 90 m lange und torsionssteife Stahl-Hohlkasten übernimmt die Tragwirkung in Längsrichtung. Von ihm aus kragt die Fahrbahn einseitig aus. Der asymmetrische Brückenquerschnitt verbindet funktionale, architektonische und ingenieurtechnische Themen auf interessante Weise. So bietet der freie Brückenrand maximale Flexibilität hinsichtlich Anordnung und künftiger Verschiebung von Lift- und Treppenabgängen. Ausserdem folgt die Querschnittvariabilität den Kräften, ist ressourcenschonend ausgebildet und nachhaltig gedacht. Drei robuste Stützen leiten die Lasten in den Baugrund ab. Die mittlere Stahlstütze kann später zusammen mit dem Perron verschoben werden, ohne dass der Hauptträger nachträglich verstärkt werden muss. Die dem Kraftverlauf angepassten, robusten Stützenquerschnitte erfüllen alle an sie gestellten Auflagen autonom.
Die Stahlbauteile sollen weitgehend im Werk vorgefertigt werden. Im Querschnitt besteht die Brücke aus zwei Hälften, die auf dem Installationsplatz verschraubt und deren Fahrbahnplatten miteinander verschweisst werden. Nach Abschluss aller Vorbereitungsarbeiten soll der Brückenoberbau in drei Stücken an den Bestimmungsort eingehoben werde. Die Unterteilung ist so gewählt, dass sämtliche Schweissarbeiten über den Perronbereichen stattfinden.
2. Platz «Fink»: Historisches neu gedacht
Das zweitplatzierte Projekt «Fink» zeichnet sich durch eine geschickte Interpretation des historischen Finkträgers aus: Ein filigranes, über dem Gehweg liegendes, sich hoch aufschwingendes Tragwerk lässt die Überführung zum integralen Teil der Bahnhofinfrastruktur werden. Die Jury betont, dass sich das filigrane Tragwerk optisch selbstverständlich mit den Masten und Seilen der Fahrleitungsanlage des Gleisfelds verwebt. Gleichzeitig führe seine expressive Geometrie eine eigenständige identitätsstiftende Silhouette mit Wiedererkennungseffekt ein, ohne dabei aufdringlich oder rein ikonografisch zu werden – die Struktur sei offensichtlich aus der Tragwerksidee heraus entwickelt und bilde diese ab.
Das Projektteam greift auf interessante Art das in Vergessenheit geratene Tragsystem «Fink» auf, bei dem die Lasten im Gegensatz zu klassischen Fachwerken nicht über biegebeanspruchte Gurte in Kombination mit Diagonalen und Streben, sondern bereichsweise mithilfe von unter- bzw. überspannten Balken – einer gewissen Hierarchie folgend – direkt zu den Auflagern abgetragen werden. Dieses Mitte des 19. Jh. vom Ingenieur Albert Fink für Eisenbahnbrücken entwickelte System wird im vorliegenden Projekt in eine Verschachtelung von überspannten Balkensegmenten übersetzt, was zu einem äusserst filigranen und expressiven Ausdruck führt. Dank der dem System inhärenten grossen statischen Höhe kann das gesamte Gleisfeld ohne Zwischenabstützung spielend überspannt werden.
Das filigrane System fügt sich passend in das Bahnambiente ein. Die Jury bemängelte allerdings, dass keine befriedigende Lösung für eine stringente Kombination von Erschliessungsbauwerken und Brückentragwerk gefunden werden konnte.
Enges Korsett, breite Palette
Insgesamt nahm das Preisgericht mit Genugtuung zur Kenntnis, dass die anspruchsvolle Aufgabe mit einem hohen Qualitätsniveau bearbeitet wurde und alle Beiträge in ihrer Vielfalt zur Entscheidungsfindung in wertvoller Weise beigetragen haben. Obwohl die Rahmenbedingungen funktionell wenig Spielraum zu lassen schienen, zeigte sich, dass das gewählte Verfahren ein kreatives Potenzial hervorzurufen vermochte. Es ist geplant, dass die Überführung «Tendenza» im Jahr 2018 realisiert wird und in Betrieb geht.
Auszeichnungen
1. Rang: «Tendenza»
Synaxis, Zürich;
Michael Meier und Marius Hug Architekten, Zürich
2. Rang: «Fink»
Fürst Laffranchi Bauingenieure, Aarwangen;
Ilg Santer, Zürich
3. Rang: «Xylo»
Ingenieurbüro Miebach, Lohmar, Deutschland;
Wilkinsoneyre, London
Weitere Teilnehmer
Projekt: «Bellvedere»
Dietmar Feichtinger Architectes, Montreuil, Frankreich; Werkraum Wien, Wien; Sima | Breer Landschaftsarchitektur, Winterthur
Projekt: «Pi»
Ingeni Genève, Carouge; Explorations Architecture, Balgach; 1 bis, Paris
Projekt: «Rotrütitor»
Arcadis Nederland, Arnhem (NL); Benthem Crouwel International, Amsterdam; Arcadis Schweiz, Schlieren
FachJury
Hansueli Remund, Luzern (Vorsitz); Aita Flury, Architektin, Zürich; Joseph Schwartz, Bauingenieur, Dr. Schwartz Consulting, Zug; Jürg Senn, Architekt, 10 : 8 Architekten, Zürich; Martin Valier, Bauingenieur, Valier, Chur
SachJury
Peter Hausherr, Gemeindepräsident Gemeinde Risch; Ruedi Knüsel, Gemeinderat für Planung/Bau/Sicherheit Gemeinde Risch; Massimo Guglielmetti, SBB, Immobilien Development, Leiter Anlageobjekte Region Mitte; Kim Riese, Zug Estates, Direktor Projektentwicklung