60° ge­neigtes Watt an der Sa­gen­matt

Felssicherung Sagenmattstrasse Luzern

In einem Hochhaus an einem Wattenmeer in der Schweiz leben und von Steinschlag und Felssturz bedroht sein – das ist speziell, aber möglich.

Date de publication
16-02-2017
Revision
16-02-2017

Geschehen konnte einem obiges Szenario an der Sagenmattstrasse in Luzern. Der dortige, seit dem Zweiten Weltkrieg aufgelassene Steinbruch, in dem seit dem frühen 19. Jahrhundert Plattensandstein abgebaut wurde, war der grösste Steinbruch auf ­Luzerner Stadtgebiet. Heute stellt er ein Sicherheitsproblem für eine angrenzende Druckerei und ein 14-stöckiges Wohnhochhaus dar.

Der Fels entstand vor etwa 20 Millionen Jahren aus einem Wattenmeer. Eindrückliche Versteinerungen von Bewegungsspuren urzeitlicher Lebewesen, wie Wattwürmer und Herzseeigel, sowie fossile Fliessstrukturen der ehemaligen Meeressohle  zeugen heute noch von seiner Entstehungsgeschichte und sind an der Felswand gut zu erkennen. Aus diesem Grund ist die Felswand auch als Naturobjekt im Inventar von nationaler Bedeutung aufgeführt und wird auf geologischen Exkursionen gerne besucht. Die abgelagerten Schichten wurden im Zug der Alpenfaltung um etwa 60° aufgerichtet.

Klüfte und Knicke

Die steile Neigung der Felsenschichten stellte an sich noch kein Sicherheitsproblem dar, da die Sandsteinbänke für sich genommen tragfähig sind. Auch die oberflächliche Verwitterung in der vorher stark überwucherten Flanke waren für die intensiven Massnahmen noch nicht ausschlaggebend. Prekär sind vor allem parallel zur Flanke verlaufende Klüfte und Spalten bis in etwa 10 m Tiefe, die bis zu 20 cm geöffnet sind. Diese sind teilweise offen, können aber auch mit Kluftsediment verfüllt sein. Eindringendes Wasser kann in derartigen Klüften zu einem hohen Porenwasserdruck führen, der die Haftung der aneinander geneigten Sandsteinschichten zusätzlich verringern oder sogar aufheben kann.

Im Bereich des Wandfusses führen ausserdem Knicke in den Sandsteinbänken zu einer weiteren Stabilitätsminderung. Diese entwickelten sich seit der Aufgabe des Steinbruchs. Durch das Eigengewicht des Fels kommt es nun zu einer Ausbauchung von oberflächennahen Sandsteinschichten in Teilen der Flanke. Man nehme einen Stapel Papier, knicke ihn im unteren Bereich, stelle diesen dann steil geneigt auf und drücke von oben. Diese Modellvorstellung kommt den Vorgängen  an der Sagenmattstrasse schon sehr nahe.

Die Problematik der Knicke im unteren Bereich der Wand wurde  in den 1970er-Jahren erstmals entdeckt. Bei einer früheren Gebäude­erweiterung der Druckerei im östlichen Teil des Steinbruchs wurde ein bereits bestehender Knick durch vorgebaute Betonscheiben stabilisiert. Dadurch wurde eine weitere Verformung der Felswand in diesem Bereich unterbunden. Oberhalb der Stützmauer jedoch bildeten sich neue Knicke.

Alarm und Evakuierung

Seit dem Bau des Krienbachstollens, 1992, der unterirdisch die Parzelle  des ehemaligen Steinbruchs quert, wird die Felswand überwacht. Angebrachte Extensometer und periodische Messungen zeigten innerhalb des Beobachtungszeitraums von etwa 20 Jahren eine Bewegung bis zu 7.5 mm, was etwa einem Drittel Millimeter im Jahresmittel entspricht. Anfang 2015 entschloss man sich, eine automatische Mess- und Warneinrichtung zu installieren, da ein spontaner Sprödbruch des Fels nicht mehr auszuschliessen war. Diese löste am 19. Januar 2016 in der Nacht einen Alarm aus, woraufhin die Bewohner des Hochhauses evakuiert werden mussten. Knackgeräusche in der Wand liessen auf  kritische Bewegungen schliessen. Glücklicherweise handelte es sich beim Missetäter nur um eine einzelne Felsplatte am Wandfuss im mittleren Teil des Steinbruchs, die daraufhin in einer Sofortmassnahme entfernt werden konnte.  

Die Planungen und Vorarbeiten zu einer zukünftigen Felssicherung begannen schon vor dem Alarm. Im Herbst 2015 wurde die Felswand intensiv gerodet und mit Druckluft gesäubert. Das Konzept sah vor, den Tragwiderstand in den verformten Bereichen, vor allem an den Aus­bauchungen und Knicken, zu erhöhen, um die Gefahr eines Felssturzes nach Abschluss der Massnahmen auf ein Restrisiko senken zu können. Auf eine umfangreiche Stützung in Form eines kompletten Felswandverbaus wurde wegen der Ausdehnung der Flanke – die Wand hat eine Höhe von 40 m und eine Breite von 185 m – verzichtet. Aufgrund der geologischen Besonderheit wäre ein solcher Stützbau auch kaum genehmigungsfähig gewesen. Eine Abflachung des Steinbruchs kam wegen der Parzellengrenze und der oberhalb davon liegenden Kanonenstras­se im Gütschwald ebensowenig in Frage.

Anker, Rippen, Longarinen

In den ungestörten Abschnitten der Felswand dienen nun ungespannte, vorinjizierte Stabanker mit einbetonierten Köpfen und einer Länge von bis zu 15 m dazu, die einzelnen Sandsteinbänke zu einem Verbund zusammenzuführen. Der doppelte Korrosionsschutz der Anker gewährleistet die geplante Nutzungsdauer von 100 Jahren. Die brisanten Bereiche, in denen die Knicke und Ausbauchungen liegen, werden über eine verankerte Stützstruktur aus vertikalen Betonrippen und horizontalen Longarinen gehalten. Diese Betonelemente stützen sich nicht am Wandfuss ab. Ihr Eigengewicht wird mittels einbetonierter Schubnocken  in ungestörte Bereiche des Gesteins eingeleitet.

Die Herstellung der 41 Betonrippen, die je eine Höhe von 12 m haben, und der Einbau der 530 Stab­anker mit einer Gesamtlänge von knapp 7000 m waren nicht nur aufgrund der Dimensionen aufwendig. Da die gesamte Wand einsturzgefährdet war, galt es, den Bauablauf zur Optimierung der Sicherheit darauf abzustimmen.

Neben einer vollautomatischen Überwachung wurden die Arbeiten grundsätzlich von den sichereren zu den gefährlicheren Bereichen hin ausgeführt. Das Setzen der Felsanker erfolgte daher von oben nach unten. Wann an welcher Stelle gearbeitet werden konnte, entschied letztendlich der Geologe. In dieser ersten Phase wurden auch 75 Entwässerungsbohrungen in den Fels getrieben. Sie sollen zukünftig einen Aufbau von zu grossen Wasserdrücken in den Klüften ­verhindern. Grösstenteils erfolgten die Bohrungen von hängenden Arbeitsplattformen aus, den sogenannten Bohrschlitten. Gerüste kamen für die Erstellung der Rippen und Longarinen zum Einsatz.

Schonende Bohrung

Das Bohrverfahren musste auf die Fragilität der Wand abgestimmt sein. Zur Schonung der äusseren, empfindlichen Schichten kamen bei den ersten vier Metern erschüt­terungsfreie Kernbohrungen zum ­Einsatz. Für die verbleibenden Bohrmeter stellte man auf Imlochhammerbohrung um. Diese destruktive Methode hat den Vorteil, dass das Bohrgut mittels Druckluft aus dem Bohrloch geschafft wird. Spülungen, die in den Klüften zu einem Wassereintrag und damit zu einer Verschärfung des Stabilitätspro­blems hätten führen können, wurden so vermieden. Auch bei den Injektionen musste ein Ansammeln von Injek­tionsgut in den Klüften verhindert werden. Daher wurden die Anker drucklos injiziert und ein Verlaufen der Suspension wurde mit Gewebestrümpfen verhindert.

Architektonisches Design

Auffallend sind die Anordnung der Anker und die Linienführung der Betonrippen. Damit die geologische Besonderheit der Felswand auch nach der Sanierung ansehnlich nachvollziehbar bleibt, wurde der Architekt Edi Imhof zugezogen. Die Verbauungen erhielten eine geschwungenen Linienführung, wodurch die einzelnen Sedimentationsschichten gut zur Geltung kommen.   Die Sanierung wurde vor Weihnachten 2016 abgeschlossen. Finanziert werden die Massnahmen  alleine von der Bauherrschaft. Mit Beiträgen aus der öffentlichen Hand ist nicht zu rechnen, da der Steinbruch zwar rot eingezont, also als erhebliche Gefährdung, nicht jedoch als Naturgefahr eingestuft war. Geschaffen wurde er ja von Menschenhand.

Am Bau Beteiligte
 

Bauherrschaft
Allgemeine Baugenossenschaft Luzern (abl)
Spize Immobilien, Kastanienbaum
 

Geologie, Geotechnik, Alarmkonzept
Keller + Lorenz, Luzern
 

Projektierung, Bauleitung
Basler & Hofmann, Esslingen
Basler & Hofmann Innerschweiz, Luzern
 

Unternehmung
Gasser Felstechnik, Lungern
 

Architektur
Edi Imhof, Luzern
 

Geodäsie
Trigonet, Luzern

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