«Wir ge­stal­ten die Schön­heit des All­tags»

Sauerbruch Hutton gehören zu den namhaftesten deutschen Architekturbüros und erforschen seit Jahrzehnten das nachhaltige Bauen. Nun soll ihr Entwurf für das Zürcher Maag-Areal zwei umgenutzte Industriehallen ersetzen. Ein Widerspruch? Matthias Sauerbruch erläutert, was er unter Nachhaltigkeit versteht und warum er hier einen Abbruch vorschlägt.

Publikationsdatum
02-06-2022

TEC21: Herr Sauerbruch, Ihr Architekturbüro ist international bekannt. Seit Ihren ersten Projekten vor gut 30 Jahren befasst sich Sauerbruch Hutton auch mit ökologischen Fragen, viele Ihrer Werke erhielten namhafte Preise für Architektur und nachhaltiges Bauen. Inwiefern hat sich Ihr Verständnis von Nachhaltigkeit in diesem Zeitraum verändert?

Matthias Sauerbruch: Das Thema bewegt uns seit unserem ersten grossen Projekt, der Erweiterung und Sanierung des GSW-Hochhauses in Berlin. Den Wettbewerb gewannen wir 1991, kurz nach der Wiedervereinigung. Die Aussichten waren verheissungsvoll, und wir wollten einen Schritt ins 21. Jahrhundert tun, uns mit Zukunfts­themen beschäftigen. Damals sprach man von Nied­rig­energie-Architektur: Gemeint war, die Betriebs­energie zu minimieren. In unserem Londoner Büro arbeiteten wir mit den Ingenieuren von Arup zusammen, die bereits Erfahrungen mit dem Thema gesammelt hatten. Das hat uns ermutigt, ein neues Territorium zu betreten: Wir stellten Hypothesen auf und überprüften sie in Versuchen, Peer Reviews und Gutachten. Die Konvektionsfassade zum Beispiel war ein Prototyp, und es ist der Bauherrschaft – der Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnungsbau-Gesellschaft Berlin mbH – hoch anzurechnen, dass sie sich auf unsere Ideen eingelassen hat.

Am GSW arbeiteten wir fast neun Jahre lang, es wurde 1999 fertig. Während dieser Zeit begannen wir mit anderen Projekten, bei denen wir weiter gingen und das ökologische Bauen umfassender auslegten. Bei unserem nächsten Grossprojekt, dem 2005 fertiggestellten Umweltbundesamt in Dessau, war das Ziel nicht nur, die natürliche Belüftung zu optimieren und den Energieverlust über die Fassade zu senken, sondern auch eine nachhaltige Energieversorgung und eine Architektur, die räumliche und materielle Ökonomie zum Thema macht. Wir setzten Erdwärmetauscher ein, nutzten Geothermie für die Vorheizung und Kühlung, bauten Photovoltaik und solarthermische Anlagen ein. Wir kooperierten mit einem spezialisierten Büro, um die graue Energie, den Ursprung und den Schadstoffgehalt der Baustoffe zu ermitteln. Das war damals noch schwieriger als heute, man begann erst, entsprechende Datenbanken aufzubauen, etwa in Zürich und Karlsruhe. Mit dieser Materialauswahl waren wir der Zeit voraus. Auch haben wir hier zum ersten Mal ein Monitoring durchgeführt: Zusammen mit der Uni Cottbus machten wir einen Reality-Check zu Nutzerverhalten und Energieverbrauch. Wir stellten fest, dass der Energieverbrauch höher war als geplant. Das lag an den Systemen, die anfangs schlecht funktionierten, und am Nutzerverhalten: Selbst beim Umweltbundesamt, wo die Mitarbeitenden sensibilisiert waren, hat es rund drei Jahre gebraucht, bis alle den Bau kannten und die errechneten Ziele erreicht waren.

Heute beziehen Sie bei Nachhaltigkeitsüberlegungen den ganzen Lebenszyklus der Gebäude ein, wobei Umbauten einen wichtigen Stellenwert in Ihrer Arbeit einnehmen. Wie kam es dazu?

Die energetische und gestalterische Generalsanierung eines Bürogebäudes aus den 1980er-Jahren in München, die wir 2011–2014 für die Münchener Rückversicherung realisiert haben, war unser erstes grosses Re-use-Projekt. Wir haben den bestehenden Rohbau weitgehend erhalten, aber alle Ausbauelemente und die Fassade erneuert. Trotz den Einschrän­kungen errechneten unsere Statiker daraufhin, dass der Erhalt des alten Rohbaus so viel CO2-Äquivalente einspart, wie die neue Heizung in 34 Jahren aus­stossen würde. Das war ein Schock für uns: Nur mit optimierter Technik hätte man niemals solche Werte erreicht! Seither konzentrieren wir uns in der Eva­luierung der verschiedenen Nachhaltigkeitskonzepte nur noch auf die Emissionen über den ganzen Lebenszyklus hinweg. Wo sinnvoll versuchen wir, den Bestand zu erhalten – etwa bei der städtebaulichen Neuordnung des Postbank-Areals in Hamburg (Wettbewerb 2019, Fertigstellung 2025) oder beim Umbau des Telekom-Bürohochhauses in ein Wohnhaus in Konstanz (Wettbewerb 2019). Die graue Energie ist stärker ins Zentrum unserer Überlegungen gerückt, neben der Optimierung der Betriebsenergie. Das führte vermehrt zur Anwendung von CO2-neutralen Materialien, wir benützen viel Holz, wollen das energie- und rohstoffbewusste Bauen vorantreiben.

In den letzten 30 Jahren seit dem GSW-Hochhaus hat sich das Umfeld komplett gewandelt, die Gesetzgebung ist strenger geworden, aber es ist immer noch schwierig, Klarheit über die Zusammensetzung und die Herkunft von Bauprodukten zu bekommen. Es braucht Datenbanken über die Zusammensetzung der Produkte. Wir stellen beispielsweise fest, dass Fassadenfirmen nicht wissen, woher das Aluminium stammt, das sie verbauen: Auf dem Weltmarkt variieren die Quellen und die Lieferketten von Charge zu Charge. Bei Holz ist die Lage übersichtlicher. Hier können wir einen Kilometerradius fest­legen, aus dem wir es beziehen, um lange Wege zu vermeiden. Wir arbeiten jetzt auch mit Holzbaufirmen zusammen, die ihre eigenen Wälder bewirtschaften.

In Bezug auf den Palast der Republik in Berlin, aber auch in anderen Zusammenhängen haben Sie sich dezidiert dafür ausgesprochen, Vorhandenes zu erhalten und zu transformieren – aus ökologischen und ökonomischen Gründen, aber auch im Sinn einer kulturellen Kontinuität. Dennoch schlagen Sie für das Maag-Areal Neubauten vor: Der Bestand soll fast komplett ersetzt werden, obwohl die Eventhallen sich als Kulturstandort etabliert haben und eine ungewöhnlich stark dimensionierte, problemlos weiter nutzbare Tragstruktur aufweisen.

Zunächst einmal lassen die geltenden Sonderbau­vorschriften einen Erhalt nicht zu, und wir hatten und haben keinen Grund gesehen, weswegen wir dieses Ergebnis eines langen und sorgfältigen Abstimmungsprozesses nicht respektieren sollten. Zudem gab es ja in der Überarbeitungsphase noch einmal Gelegenheit, die Zukunftsfähigkeit des Bestands zu überprüfen. Wir haben mit einem Zürcher Büro für Eventkultur zusammengearbeitet, das uns gezeigt hat, dass die bestehenden Hallen in scharfer Konkurrenz stehen zu sehr ähnlichen Angeboten sogar im unmittelbaren Umfeld. Die erfolglose Suche nach einem Nachfolger für die Tonhalle-Nutzung wies ja in eine ähnliche Richtung.

Was halten Sie vom Argument, dass Umbauen einen tieferen CO2-Fussabdruck hätte als der Neubau?

Wenn man so ein Projekt angeht, das ja in jedem Fall mit Verdichtung und massiven Eingriffen in den Bestand verbunden ist, muss man sich schon fragen lassen, was für eine qualitätvolle Umnutzung und Verdichtung dieses Stadtgebiets nötig ist, was langfristig wirklich Sinn macht und nachhaltig ist. Wenn man nur auf ein einzelnes Gebäude fokussiert, ist es klar: Gemessen an der grauen Energie bzw. am grauen CO2 ist ein Abriss schlechter als ein Erhalt. Mit Blick auf den Lebenszyklus ist das schon nicht mehr so eindeutig, und wenn man das gesamte Quartier mitdenkt, ergibt sich ein anderes Bild. Die ganze Umgebung hat sich strukturell verändert, von einem Industrie- zu einem hochwertigen gemischten Stadtteil. Der Bestand ist aus der Zeit gefallen, er blockiert das Quartier. Der Konzertbetrieb in den Eventhallen mag abends Menschen aus der ganzen Stadt anziehen, doch tagsüber ist der Komplex inert und das Gebiet geschlossen, es gibt nur wenig Angebote für die Nachbarschaft. Ich denke, ein Neubau bringt letztlich in vielerlei Hinsicht mehr: Der Abriss der Eventhalle ermöglicht eine viel bessere Durchwegung; die Wiederherstellung des fehlenden Abschnitts der Lichtstrasse verbindet den Maag-Hof und den Pfingstweidpark mit dem Bahnhof Hardbrücke; mittendrin entsteht ein grüner Stadtplatz, der von öffentlich bespielten Erdgeschossen umgeben ist.

Das Maag-Areal hat sich weit über die Stadtgrenzen hinaus als Kulturstandort etabliert. Was schlagen Sie als Alternative zu den heutigen Hallen vor?

Ein Kulturhaus: Es bietet etwa gleich viel Fläche für Kultur, wie heute zur Verfügung steht, das Raumangebot ist aber differenzierter. Es gibt viele unterschiedliche Formate, die ein vielfältigeres Programm und damit ein deutlich erweitertes Verständnis von Kulturarbeit ermöglichen, auch tagsüber und auch für die unmittelbare Nachbarschaft. Das Kulturhaus ist flexibel konzipiert – ganz nach dem Vorbild des denkmalgeschützten K-Gebäudes, das ja als Zeuge der Vergangenheit erhalten bleibt –, damit es auch in Zukunft frei genutzt und transformiert werden kann.

Sie vergleichen das Projekt mit dem Abriss des Palasts der Republik in Berlin. Das scheint mir schon wegen der Bedeutung dieses Bauwerks für die nationale Identität der Deutschen in Ost und West kein so treffender Vergleich. Vor allem versuchen wir in Zürich mit dem Abriss der Hallen ja nicht einen Zustand ungeschehen zu machen, die Geschichte zu korrigieren oder eine fiktive Historie zu konstruieren, sondern im Gegenteil, es geht darum, die Stadt fortzuschreiben; es geht um den Versuch, der aus der spezifischen Biografie dieses Orts entstandenen Kultur in einem völlig veränderten Kontext eine nachhaltige Überlebenschance zu geben.

TEC21 und espazium.ch haben verschiedentlich über das Maag-Areal berichtet. Eine Sammlung aller Beiträge finden Sie hier.

Die Maag-Hallen gehören zu den wenigen Bauten, die heute noch von der industriellen Vergangenheit dieses Stadtteils zeugen. Sie sind im kollektiven Gedächtnis der Menschen verankert und prägen die Identität des Orts. Können Neubauten das überhaupt leisten?

Wir haben es mit einem Quartier zu tun, das sich vor 150 Jahren vom Acker zum Industriestandort entwickelt hat, dann massiv von Infrastruktur überlagert wurde und sich jetzt seit drei Dekaden in ein gemischtes Dienstleistungs- und Wohnquartier wandelt. Es hat sich mehrfach total verändert. Selbst wenn man die Spuren der Vergangenheit respektieren und bestehende Bauten nutzen möchte: Es ändern sich die Bedarfe und die allgemeinen Voraussetzungen. Es fällt schwer zu glauben, dass man Lebensformen und -inhalte radikal umgestalten kann, ohne dass sich das in der Qualität eines Orts niederschlägt.

Man darf nicht vergessen, dass die Zwischennutzungen, die auf dem Maag-Areal ihre eigene Dynamik und Qualität entwickelt haben, letztlich ein Übergangsphänomen sind. An solchen Zwischenzuständen mit Gewalt festhalten zu wollen widerspricht dem Prozess der Veränderung. Das soll nicht heissen, dass man nicht von der vorgefundenen Qualität lernen kann: Die heutigen Vorzüge des Orts – die Vielfalt der Architektur und die Gleichzeitigkeit von Spuren aus unterschiedlichen Zeiten, von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, von vielfältigen Nutzungen etc. – möchten wir nicht nur bewahren, sondern eher verstärken. Wir würden uns wünschen, dass ein wenig von der Informalität von Frau Gerolds Garten unter der Hardbrücke hindurch und ins Maag-Areal hinüberwächst  

Trotz diesem Bekenntnis zum unaufhaltsamen Wandel möchten auch Sie Gebäude errichten, die Bestand haben.

Wir haben Bauten konzipiert, die auch in dem Sinn nachhaltig sind, dass sie den Wandel mitmachen können und nicht nach ein, zwei Generationen wieder ersetzt werden müssen. Dafür sollten sie möglichst einfach, grosszügig, vielfältig nutzbar und leicht zu transformieren sein. So lässt die Tragstruktur des Hochhauses beispielswiese unterschiedliche Grundrisstypen zu, und das Kulturhaus bietet ein sehr breites Raumangebot für Aktivitäten unterschiedlicher Dimension und Qualität. Wir versuchen zukünftige Bedürfnisse zu antizipieren, wissen letztlich aber nicht, was in einem Lebenszyklus von 100 Jahren passieren wird. Das von der Bauherrschaft definierte Raumprogramm ist der Ausgangspunkt unseres Entwurfs, nicht das Ende.

Wir sprechen von «loose fit» – wie bei einem Kleidungsstück, das nicht allzu eng anliegend geschnitten ist, sondern etwas lockerer sitzt: Das passt auch, wenn man ein paar Kilo zu- oder abnimmt. Wir wollen Gebäudestrukturen schaffen, die robust und veränderbar sind. Einen Funktionalismus, der keine Anpassungen erlaubt, halten wir für überholt. Unsere Bauten sollen die geforderten Funktionen erfüllen, darüber hinaus aber auch für andere Funktionen offen sein. Das setzt eine gewisse Grosszügigkeit voraus: höhere Geschossflächen, mehr Raum für Installationen etc. Bei der Erstellung ist das etwas teurer, dafür aber langfristig zukunftsfähiger.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 18/2022 «Urbane Transformation: heikle Fragen».

TEC21 und espazium.ch haben verschiedentlich über das Maag-Areal berichtet. Eine Sammlung aller Beiträge finden Sie hier.

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