«Um»den­ken  - «An­ders» den­ken!

Mobilität beginnt im Kopf – Stau auch

Dass die Grundlagen zur Befriedigung unserer Mobilitätsansprüche zur Verfügung gestellt werden müssen, steht kaum zur Diskussion. Thematisiert werden einzig unser Mobilitätsverhalten und dessen Steuerung durch die Stadt- und die Verkehrsplanung: Mobilität soll umweltfreundlicher werden. Im fünften Beitrag ihrer Re-Visionen aus geistesgeschichtlicher Sicht zu aktuellen Planerthemen spannt die Zürcher Philosophin Eva Schiffer den Bogen viel weiter auf: Sie fragt nach Sinn, Bedeutung, gar der geistig-seelischen Funktion der Mobilität.

Publikationsdatum
22-07-2014
Revision
01-09-2015

Auf die diffus allgegenwärtige Einsicht, dass es im Hinblick auf das stetige Anwachsen des Verkehrs «so» nicht weitergehen kann, wird gern mit der Forderung des «Umdenkens» geantwortet: Dahinter mag sich die Vorstellung einer heilsamen Kehre oder einer rettenden Besinnung verbergen, oft auch eine naive Gegenposition zur technischen Welt. Überhaupt scheint dualistisches Denken - in Gegenpositionen, Oppositionen, der Vorstellung von «Alternativlosigkeit» - die öffentliche Debatte nach dem Muster: «Mehr Mobilität oder Stillstand» zu beherrschen. Ebenso beharrlich wird an der Entgegensetzung von Individuum und Zeitgeist festgehalten - als trete der Einzelne in eine nur äusserliche Beziehung zu seiner Zeit, von der er im Grunde unabhängig sei. Präzis traf ein Leserbrief im «Tages-Anzeiger» kürzlich den Kern dieses Denkschemas: «Wir stehen nicht im Stau, wir sind der Stau.»1

Die Fantasie ist ein Muskel

Unter ungeheurem Aufwand an Wissen, Know-how, Intelligenz und finanziellen Mitteln arbeiten Scharen von Experten an der Aufgabe, dem Ruf nach mehr und besseren Verkehrskapazitäten gerecht zu werden: Grössere Flugplätze, zusätzliche Bahnlinien, neue Strassen, weitere Fahrspuren, eigene Bustrassees und neue Radwege sollen unsere Mobilität gewährleisten - «auch künftig».2 Technisch hoch differenzierte Leitsysteme - «integrierte Mobilitätsplattformen, gestützt auf Echtzeit-Informationen über die Lage auf Strassen und Schienen» - sollen den Stau verhindern, indem sie den Individualverkehr verflüssigen. «In Zukunft» - so die Verheissung der Experten - würden diese «intelligenten Leitsysteme» die Mobilität «problemlos regeln», wenn es auch heute bedauerlicherweise «noch nicht so weit» sei.3

Gerade im Kontext der Mobilitätsdebatte scheint es uns heute nicht in erster Linie an technischen Lösungsvorschlägen zu mangeln, sondern an Imagination: Verbissen halten wir an ausgeleierten Denkschemata und Stereotypen fest und produzieren so genau das, was der französische Technikphilosoph Paul Virilio den «rasenden Stillstand» nennt. Sollten wir unsere Aufmerksamkeit - statt auf die Verflüssigung des Verkehrs - nicht eher auf die Verflüssigung des Denkens, Vorstellens und Fühlens richten? Denn es ist im Kopf, wo der Stau beginnt, und dort ist es auch, wo die Dinge zuallererst wieder in Fluss zu bringen wären. Schliesslich ist «die Fantasie ein Muskel, der sich trainieren lässt».4

Unsere Mobilitätsbedürfnisse gewährleisten - auch künftig 

Spürsinn und Skepsis - im Wortsinn: «Genau hinsehen» - sind besonders bei «brennenden» Problemen angesagt: Statt eilfertig mit Antworten, Lösungsvorschlägen und Massnahmen aufzuwarten, empfiehlt es sich, zuallererst die Problemstellungen selbst in den Blick zu nehmen. Denn meist versteckt sich schon in der Fragestellung eine Vorentschiedenheit über das, was überhaupt «in Frage kommt» und was nicht. Oft werden solche stillen Vorentscheidungen unreflektiert - als «nicht deklariertes Gepäck»5 - in die Lösungen hinein geschmuggelt. Auf diese Weise - also der Reflexion entzogen, gewissermassen hinter unserem Rücken - tun sie dann ihre Wirkung nur umso aufdringlicher.

So spukt auch in der Forderung, die Stadt- und die Verkehrsplanung hätten die Mobilitätsbedürfnisse der Bevölkerung und der Wirtschaft nicht nur heute, sondern «auch künftig» zu gewährleisten, so manche Annahme herum, die wir keinesfalls unbefragt übernehmen sollten: zum einen ein nicht hinterfragter, verengter Mobilitätsbegriff; dann die Übertragung von «Bedürfnissen» auf «die Wirtschaft» -  verbunden mit der Vorstellung, es sei Aufgabe der Stadt- und der Verkehrsplanung, diese «Bedürfnisse» zu erfüllen, - oder von «Intelligenz» auf technische Systeme; schliesslich die selbstverständliche Projektion von gegenwärtigen Bedürfnissen auf zukünftige Generationen. Vom Ausblenden der Klima- und Umweltfrage ganz zu schweigen.

«Pragmatisches» Denken 

Gern reden wir uns ein, unser Wunsch nach stetiger Erweiterung der Mobilität entspringe rein rationalen Motiven; um nichts anderes gehe es uns dabei als um den möglichst effizienten Transport von Personen und Gütern, die rasche Erreichbarkeit der von uns gewünschten Ziele, die bessere Erschlossenheit und Erfahrbarkeit der Welt. Dem kritischen Blick allerdings halten solch quasi-pragmatische Selbstdeutungen nicht stand. Wollen wir tatsächlich an unseren Zielorten ankommen, den jeweiligen Ort wirklich erfahren? Hetzen wir nicht vielmehr weiter, zum nächsten Ziel, zur nächsten Aktivität, zum nächsten Projekt? Sind wir nicht «ungeduldig, weil Mittel und Wege ‹dauern›, also Zeit in Anspruch nehmen, ertragen es dann aber gar nicht, am Ziele anzukommen», weil wir uns schon nach dem nächsten Ort sehnen 6

Für Virilio bietet der Autofahrer - «autistisch, isoliert, angeschnallt als menschliches Paket in seiner Blechkapsel, sein Körper, seine eigenen Fortbewegungsmöglichkeiten
stillgelegt» - das Bild eines «mumifizierten Leichnams», der durch die Welt befördert wird. Die Welt «wird ihm zum Bild der Aussenwelt», die er nur durch die Vermittlung des Fahrzeugs wahrnimmt, als «Gegenstand, der auf die Windschutzscheibe zustürzt» und «im Heckfenster wieder verschwindet, der genau so schnell wieder vergessen wird, wie er vorher ins Blickfeld geriet».7 Der geografische Ort - einst Erfahrungsgrundlage des Menschen - ist uns zu einem «beim Hin- und Zurückfahren erreichbaren Pol» geschrumpft; der «durchmessene Raum wird zum Hindernis, das es zu beseitigen gilt», um möglichst schnell am Ziel der Reise anzukommen.8

Die totale Automobilmachung

Entgegen dem gängigen Selbstverständnis von Rationalität und Fortschrittlichkeit scheint es «eine hartnäckige Entsprechung zwischen Modernem und Archaischem» zu geben.9 Virilio etwa sieht einen engen Zusammenhang zwischen archaischer Jagd, Krieg und moderner Beschleunigung: Die hochgerüsteten Automotoren, der blutige Kriegsschau-
platz auf den Strassen, die endlose Jagd auf den Autobahnen, die mit immer höheren Geschwindigkeiten aneinander vorbeischiessenden Projektile seien Zeugnis für «die Fortsetzung der Jagd, der Mobilmachung und der Vernichtung» mit modernen Mitteln. «Meute, Hetzjagd und Flucht gehören zum Kern archaischer Gesellschaften» und sind «Ausdruck der Angst». Die moderne Besessenheit von Beschleunigung bezeuge «nichts weiter als die Wachstumskurve der Angst.»10 Auch der Philosoph Michel Baeriswyl spricht von der «totalen Automobilmachung» als einer kultischen Angstbewältigungsstrategie unserer Zeit.11

Ein magisches Objekt

Nicht nur die archaische, auch die technische Zivilisation stellt einen Versuch des Menschen dar, sich inmitten eines überwältigenden und verwirrenden Alls zurecht-
zufinden. Nie geht es dabei ausschliesslich um das Überleben in der natürlichen Welt, sondern immer und vor allem um Orientierung in der symbolischen Ordnung, in die Menschen hineingeboren werden. Menschliche Kulturen spiegeln in ihren symbolischen Gesten, Kulten, Sprachen, in Kunst und Technik eine jeweils spezifische Form der kollektiven Angstbewältigung, Orientierung und Sinnfindung wider; der Art und Weise, wie die Menschen in ihr die Welt, die Dinge und die Ereignisse jeweils deuten und was diese ihnen bedeuten. Es gehört zum Selbstverständnis einer aufgeklärten Zivilisation, sich über ihre eigenen Selbst- und Weltdeutungen klar zu werden.

Entsprechend wird sich heute ein im emphatischen Sinne aufgeklärtes Bewusstsein - gerade im Kontext wirklich brennender Fragen - nicht auf technisch-wirtschaftliche Problemlösungsmuster versteifen. Einem zeitgemässen Denken kann es im Hinblick auf die Mobilität längst nicht mehr nur um deren Erhaltung und Ausbau gehen: Kritische Fragen müssten viel tiefer greifen, etwa: Was bedeutet uns Mobilität  - und das heisst: Welchen Sinn und Wert, welche Bedeutung messen wir ihr bei? Was ist ihre seelisch-geistige Funktion 

Werfen wir beispielsweise einen skeptischen Blick auf die Beharrlichkeit, mit der wir uns am motorisierten Individualverkehr festklammern: Hat unsere Einstellung hierzu nicht längst parareligiöse Züge angenommen? Ist nicht die Forderung nach freier Fahrt - immer und überall, meist allein in einem überdimensionierten und übermotorisierten Gefährt, parallel zu bestens ausgebauten Schnellbahnstrecken - weit davon entfernt, «rein pragmatisch» zu sein, in Wirklichkeit längst zum unantastbaren höchsten Gut mutiert? Wenn der Philosoph Roland Barthes schon in den 1950er-Jahren schrieb, das Automobil sei «heute die ziemlich genaue Entsprechung der grossen gotischen Kathedralen» geworden - «ein vollkommen magisches Objekt»12, so müssen wir uns sechzig Jahre später eingestehen: Nicht nur das Auto, sondern Mobilität und Beschleunigung überhaupt sind für uns Heutige zum Sinnersatz schlechthin mutiert.

Der Duft der Pflaume

In all dem frenetischen Aktivismus unserer Zeit scheint genau das auf der Strecke zu bleiben, was wir eigentlich zu suchen vorgeben: Die Erfahrung der Sinnhaftigkeit und des Reichtums der Welt. Die Sucht nach immer neuen Reizen hat unsere Fähigkeit, schauend und sinnend zu verweilen, abgestumpft. Zu den ungeheuren Opfern, die wir der Fetischisierung von Mobilität zu bringen gewillt sind, gehört die «intensive Erfahrung der Nähe, der Gerüche und Geräusche, der Wahrnehmung des Weges, überhaupt des ganzen Reichtums, den die Sinne in ihrem synästhetischen Zusammenspiel erschliessen»; alles, woraus überhaupt Zusammenhang und Sinn entstehen.13

Ausserstande, die jeweiligen Orte und Zeiten unserer Existenz in ihrer Tiefendimension und Besonderheit wirklich wahrzunehmen, sie zu erinnern und in unsere Lebenserzählung einzuordnen, haben wir uns der Welt zunehmend entfremdet. Je mehr und je schneller wir reisen, desto weniger erfahren wir. «Der Gehalt des Realen hat sich in der schwindel-
erregenden Beschleunigung verflüchtigt»,14 die menschliche Wahrnehmung, der Sinn für Zusammenhänge verkümmern. In dem Masse, in dem wir uns die Welt verfügbar machten, entleerten wir sie des Sinns.

Dass Bewegung auch anders gedacht werden kann als im Sinne des akzelerierten Verschiebens von Körpern im Raum, veranschaulicht das griechische Wort «Kinesis»:  Es meint das, was Menschen bewegt, was sie in Gang hält, worum es ihnen wirklich geht, was sie berührt und verändert. Bewegung geht von der Seele aus und ist - neben Ernährung, Fortpflanzung und Wahrnehmung - eines der vier Charakteristika von Lebendigkeit.15

Diesen aristotelischen Gedanken hat die Gegenwartsphilosophin Martha Nussbaum16 aufgegriffen und weiterentwickelt: Voraussetzung für ein gutes menschliches Leben - im Unterschied zu einem bloss menschlichen Leben - sei das lebendige und freie Zusammenspiel möglichst vieler menschlicher Fähigkeiten und Kräfte; Glücks-, Genuss- und Erlebnisfähigkeit seien Ausdruck eines «bewegten» Lebens im Sinne der «Kinesis»: Als selbsttätige, zugleich spannungsvolle und harmonische Interaktion des Selbst mit sich selbst, mit den Anderen und mit der Welt.

Etwas in diesem Sinne mag Goethe gemeint haben, als er vor rund 200 Jahren ahnungs-
voll das Absterben der Erlebnisfähigkeit im Zeitalter der Beschleunigung beklagte (er sprach von der damals neu eingeführten Eisenbahn): «Einer eingepackten Ware gleich schiesst der Mensch durch die schönsten Landschaften. Länder lernt er keine mehr kennen. Der Duft der Pflaume ist weg.»17

Anmerkungen

  1. Tages-Anzeiger vom 1.7.2014
  2. Rupert Wimmer: «Und wir bewegen uns doch», in: Metron-Themenheft Nr. 29/2013. Hsg: Metron AG, Brugg
  3. Tages-Anzeiger vom 16.5.2014
  4. Jean-Claude Carrière, Drehbuchautor, in einem Gespräch im Filmpodium Zürich, 14.3.2014
  5. Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der Neuzeitlichen Identität, Frankfurt1994. Vergriffen. Neuausgabe 2012 im Suhrkamp-Verlag
  6. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen II, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution.
  7. Paul Virilio:
    Der Negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung.
    Fischer, Frankfurt 1995. Vergriffen. Erhältlich im Hanser Verlag
    Rasender Stillstand. Fischer, 4. Aufl. 2008
  8. Olaf-Georg Klein: Zeit als Lebenskunst. Wagenbach Verlag, Berlin 2011. Auch als eBook erhältlich
  9. Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Suhrkamp, Frankfurt 2002. Taschenbuch 8. Aufl. 2010. Auch als eBook erhältlich
  10. Paul Virilio: Der Negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung. Fischer, Frankfurt 1995. Vergriffen. Erhältlich im Hanser Verlag
  11. Michel Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur. DTV, München 2000
  12. Roland Barthes: Mythen des Alltags.
  13. Ingeborg Breuer u.a.: Paul Virilio, in: Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie, Hamburg 1996. Vergriffen,
  14. Paul Virilio: Der Negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung. Fischer, Frankfurt 1995. Vergriffen. Erhältlich im Hanser Verlag
  15. Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. Suhrkamp, Berlin 2014. Auch als eBook erhältlich
    François Jullien: Die stillen Wandlungen. Merve, Berlin 2010
  16. Martha Nussbaum: Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Gender Studies. Suhrkamp, 6. Aufl., Frankfurt 2010
  17. Zitiert nach Ilma Rakusa: Langsamer! Gegen Atemlosigkeit, Akzeleration und andere Zumutungen. Literaturverlag Droschl, Wien 2008
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