SIA: Drei We­ge zum Ent­wer­fer

Die Architekturausbildung in der Schweiz folgt verschiedenen Konzepten – vom vorgegebenen «Bauauftrag» über einen urbanistischen Fokus bis zum gesellschaftlich geprägten Ansatz. Welches ist heute zeitgemäss?

Publikationsdatum
14-05-2014
Revision
05-11-2015

In den 1960er-Jahren vergab der SIA in Lausanne erstmals einen Preis für Architektur-Diplomarbeiten. Seitdem jurieren Mitglieder der SIA-Berufsgruppe Architektur Diplom- bzw. Masterarbeiten an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne und der Accademia di Architettura in Mendrisio. Der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein will mit der Vergabe dieses Preises den Nachwuchs guter, praxisorientierter Architektinnen und Architekten fördern. 

Die Zusammensetzung und Kontinuität der Jury ermöglicht es, einen Vergleich zu ziehen zwischen sämtlichen Masterarbeiten, die an diesen drei Hochschulen eingereicht werden. Im Folgenden sollen die Vielfalt wie auch die Unterschiede der akademischen Architekturausbildungen in der Schweiz skizziert werden. 

Die Masterarbeit an der ETH Zürich wird innert zehn Wochen erarbeitet. Die Studierenden bewerben sich bei einer Professur und können unter drei vom Architekturdepartement gestellten Themen wählen. Beim Thema A ist die Entwurfsaufgabe ein städtebauliches Projekt, das sich mit der Gestaltung von Gebäudegruppen, Siedlungen und öffentlichen Räumen befasst. Thema B behandelt ein architektonisches Objekt, etwa ein Hotel, eine Schule oder ein Wohnhaus. Das Thema C bildet eine relativ kleinmassstäbliche Entwurfsaufgabe, die konstruktiv detailliert durchgearbeitet wird. Die Studierenden haben auch die Möglichkeit, eine Ideenskizze als Vorschlag für ein freies, selbst gewähltes Thema einzureichen; in diesem Fall erarbeiten sie unter Leitung des Masterprofessors ein Semester lang ein Arbeitsprogramm, das sie im folgenden Semester als Masterarbeit bearbeiten.

Auftrag vom imaginären Bauherren 

Die Pläne der Masterarbeiten – meist ergänzt um ein Situationsmodell im Massstab 1:500 und ein Präsentationsmodell – werden in den Lichthöfen der ETH Zentrum während etwa drei Wochen nach Themen und Lehrstuhl geordnet ausgestellt. Es gibt keine Schlusskritik, jedoch zwei bis drei fundierte Zwischenkritiken. Die Masterarbeiten an der ETH Zürich mit ihren drei gestellten Themen orientieren sich stark an den Anforderungen der späteren Berufspraxis in der Deutschschweiz: Die Studierenden erhalten einen «Auftrag» – im Sinn eines Wettbewerbs- oder Bauprojekts – in einer vorgegebenen Situation sowie z.B. Wünsche und Vorstellungen eines imaginären Auftraggebers.

Ganz anders die Herangehensweise an der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL): Hier werden die Themen und das Programm von den Studierenden selbst entwickelt. Sie reichen ihrem Masterprofessor ein selbst gewähltes Thema ein. Der Masterprofessor oder die Masterprofessorin begleitet das Projekt zusammen mit einem weiteren Professor, einer externen Architektin und einem Experten. Die Masterarbeit gliedert sich in zwei Teile: Im neunten Semester erarbeiten die Studierenden unter Anleitung des Betreuungsteams die theoretischen Grundlagen der Arbeit. In einem zweiten, 17-wöchigen Block entwickeln sie daraus ein individuelles Projekt.

Die freie Wahl der Themen führt dazu, dass die Masterarbeiten an der EPFL sehr vielfältig ausfallen. So entwickelten beispielsweise zwei Studenten im Wintersemester 2013 als «realistische Utopie» Auslandsvertretungen für Länder, die vom Anstieg des Meeresspiegels betroffen sind. Die Masterarbeiten werden für etwa drei Wochen ausgestellt. Es findet eine mündliche, nichtöffentliche Prüfung statt, an der die Kandidaten ihre Projekte dem Betreuerteam vorstellen.

Das Konzept des «Projet de Master» an der EPFL appelliert an die gesellschaftliche Verantwortung des Architekten. Die angehenden Architekten leiten ein Beraterteam, das die gesellschaftlichen, ökonomischen und gestalterischen Probleme unserer Umwelt löst – ähnlich, wie man es in der Experimentierphase der späten 1970er-Jahre favorisierte.

Sensibilität für städtische Räume 

Die Masterarbeit an der 1995 gegründeten Accademia di architettura dell’Università della Svizzera italiana (AA) wird innert 30 Wochen erarbeitet. Die Studierenden bewerben sich dazu in einem der Studios. Sämtliche Studios eines Jahreskurses bearbeiten eine vom Architekturdepartement bestimmte Situation, meistens eine Stadt oder einen vorgegebenen Planungsperimeter. 

Die Studierenden einer «Meisterklasse» führen im Wintersemester gemeinsam eine städtebauliche Analyse durch und entwickeln ein zur Situation passendes Arbeitsprogramm, das im Sommersemester als individuelle Masterarbeit weiterverfolgt wird. Die Ausstellung der Masterarbeiten an der AA Mendrisio überzeugt durch ihren klaren gestalterischen Anspruch. Sämtliche Projekte werden auf identisch dimensionierten Tafeln präsentiert und von grossformatigen Modellen begleitet. Es findet eine öffentliche Schlusskritik statt, an der sämtliche Masterprofessoren und Studierenden teilnehmen können. Das Modell des «Projetto Master» an der AA Mendrisio stellt die Sensibilität für städtische Räume und ihre Gestaltung in den Vordergrund. Der Architekt entwirft ein städtisches Raumgefüge, das unter Einbezug des Vorhandenen präzisiert wird, sodass die Stadt und nicht das einzelne bauliche Projekt als der Nährgrund erscheint, aus dem die Architektur erwächst.

Der Master an den drei Schulen wird also auf sehr unterschiedliche Weise erlangt. Auf der einen Seite die Arbeiten an der ETH Zürich, gut gestaltete Objekte, die sich innerhalb des städtischen Kontexts abheben; auf der anderen Seite die Tradition eher gesellschaftlich orientierten Arbeiten an der EPFL; schliesslich das Interesse der AA Mendrisio für die Stadt als räumlich-soziales Gefüge. Die drei Schulen spiegeln völlig unterschiedliche Architekturauffassungen, die sich Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts herauskristallisiert haben. 

Nicht leicht zu beantworten ist die Frage, welches für die heutige Berufspraxis der Architekten das brauchbarste Modell ist – wobei von den Qualitäten der Fachhochschulen noch gar nicht die Rede war. So strukturiert und vielseitig das Konzept der thematischen Aufträge an der ETH sein mag, erscheinen die eher experimentelle, freie Herangehensweise an der EPFL sowie der mehr urbanistisch geprägte Blickwinkel an der Accademia in Mendrisio als gleichermassen wertvoll, um bei angehenden Architektinnen und Architekten ein reflektiertes Entwurfsverständnis zu wecken.

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