SIA: Die Zu­kunft hat ges­tern be­gon­nen

In der Ära der Cyberurbanität werden der physische Raum zur Funktion des digitalen Raums und die Architektur Teil einer grossen Erzählung: Ein Blick in die Zukunft begleitete das zweite SIA-Dîner für Firmenmitglieder.

Publikationsdatum
11-06-2015
Revision
05-11-2015

Der Ausspruch ist schon legendär – der legendärste Irrtum in der Geschichte des Films: «Wer zum Teufel will Schauspieler sprechen hören?!», spottete Harry Warner, Boss des Holly­wood-Studios Warner Brothers, hämisch hinter seinem gewaltigen Schreibtisch, als die Konkurrenz 1927 den ersten Tonfilm ankündigte. Keine drei Jahre später lief der letzte Stummfilm in den Kinos. Niemand hatte sich vorstellen können, dass der Wandel des Mediums dessen bisherige Form vollständig obsolet machen würde. Übrigens: Auch Warner Brothers passte sich den veränderten Vorlieben flugs an. 

75 Jahre nach dem Stummfilm erwischte es die analoge Fotografie: Die Tradi­tionsunternehmen Kodak und Agfa, denen die Herstellung von Rollfilmen goldene Jahrzehnte beschert hatte, sahen in der ab 1990 aufkommenden digitalen Fotografie nur eine unaus­gereifte Modeerscheinung, was beide Konzerne bekanntlich auf kür­zestem Weg in den Abgrund führte. 

Hätten die Kodak-Bosse oder hätte Harry Warner jemanden wie Thomas Sevcik vom Thinktank ­«Arthesia» im Management-Board sitzen gehabt, wären sie womöglich aufgeschlossener gewesen für die Kunst des Um-die-Ecke-Denkens. Und für die Erkenntnis, dass bestimmte Innovationen unsere Welt viel radikaler und vor allem schneller verändern werden, als man es sich im Moment vorstellen kann. 

Was ist der nächste Megatrend 

Die entscheidende Frage ist nur: Wo genau wird das Epizentrum des nächsten Technologieschubs, eines Megatrends, liegen  Thomas Sevciks Vortrag hatte den Titel «Architektur jenseits von Architektur» und war ohne Zweifel ein Höhepunkt des Dîners für SIA-Firmenmitglieder, das am 27. Mai zum zweiten Mal am Gottlieb Duttweiler Institut in Rüschlikon ZH stattfand. Diese Zusammenkunft soll nicht zuletzt den Dialog zwischen SIA-Geschäftsstelle und den Firmenkunden anregen. Eingeladen waren die 100 grössten Architektur- und Ingenieurbüros des SIA. 

Zwei Damen und gut 80 Herren waren der Einladung des SIA nach Rüschlikon gefolgt, um die Festvorträge zu hören und sich über die aktuellen Aktivitäten des SIA zu informieren. Zu denen gehört, wie SIA-Geschäftsführer Hans-Georg Bächtold ausführte, neben der Charta «Faire Honorare für ­kompetenten Leistungen» und mancher baupolitischer Positionierung auch die ­Förderung von Frauen in Ingenieurberufen. 

Erdrutschartige Entwicklungsdynamik

Dem Vortrag von Thomas Sevcik ging jener von Patrick Warnking, Landeschef von Google Schweiz, ­voraus. Unter dem Motto «Digitale Transformation» sprach er am Beispiel des Internets über das Phänomen exponentieller Entwicklungskurven. Seit rund 20 Jahren gibt es das öffentlich genutzte Internet, doch 2014 gab es noch immer fünf Milliarden Menschen, die noch nie im Netz waren. «Exponentielle Entwicklung» bedeutet, dass es keine fünf Jahre mehr dauern wird, bis der Webzugang fast alle Übrigen erreicht hat. Solche erdrutschartigen, fast explosiven Entwicklungsdynamiken sind kennzeichnend für die digitalen Technologien. «Das Smartphone wird das Gerät sein, um in kurzer Zeit weitere fünf Milliarden Menschen online gehen zu lassen», konstatierte Warnking. 

Asien führt

Nahezu 60% der Weltbevölkerung, so Warnking weiter, lebten heute in Südostasien, was dazu führen werde, dass sich die Hauptrichtung technologischer Impulse fortan geografisch umkehre – bereits beginnen die Unternehmen Asiens, den globalen Wettbewerb zu dominieren, die technische Vorreiterrolle der USA und Europas steht auf der Kippe. Fast genüsslich warf Warnking die Logos von Top-Unternehmen an die Wand, die zwar lange am Puls der Entwicklung waren, an einer entscheidenden Gabelung aber die falsche Richtung gewählt hatten oder eine Spur weniger innovativ waren als ihr Konkurrent – Nokia vs. ­Apple, Bang & Olufsen vs. Sonos, Brockhaus vs. Wikipedia – und so weiter. Und das Rezept supererfolgreicher Unternehmen im 21. Jahrhundert  ­Patrick Warnking: «Sie kennen 100 Prozent ihrer Kunden!» – über die Kundenhotline, das gebuchte Tarifpaket, ihre Suchbewegungen im Web. «Alle Kunden da draussen sind Teil unserer Forschungs- und Entwicklungsabteilung, weil sie uns direkt wissen lassen, was ihnen gefällt, was sie benötigen.» 

Gebäudeautomation Swiss-Made 

Gemessen an solcher Echtzeitkommunikation mit einer gläsernen Kundschaft erscheint die Marktbeziehung von Architekten mit ihrem tradierten Gefüge von Vergabeverfahren, Bauherrschaft und Nutzer fast schon nostalgisch. Warnking empfiehlt den Zuhörern denn auch, in ihrem Unternehmen die digitale Transformation zu forcieren. Architekten und Ingenieuren, die ihre ­neuen Märkte erkennen, gehöre die Zukunft. Die Schweiz, so Warnking, könne führend werden auf den Feldern der digitalen Gebäudeausrüstung sowie EDV-gestützter Haustechnik und Sicherheitssysteme. Gut aufgestellte Ingenieurbüros, moderne Informatiklehre an den Unis, Experten-Cluster – «wir haben hierzu­lande alles beisammen, um führend zu werden beim digitalen Know-how für Gebäude», meint Warnking.

Thomas Sevcik, der einst in Berlin Architektur studiert hatte, heute aber mit Wohnsitzen in Los Angeles, Zürich und Hongkong («Dahin gehen, wo die Action ist!») vor allem als Berater und Zukunftsforscher tätig ist, knüpfte fast nahtlos an Warnkings Gedanken an. Auf das Publikum zugeschnitten thematisierte er die Wechselwirkung zwischen Digitalisierung und Urbanität: Längst wirke die Mikrowelt der Computer auf die äussere Welt ein und forme sie. Datenautobahnen und superschnelle Kommunikation, so Sevcik, führten in Verbindung mit räumlicher Nähe und Dichte zu einer Superurbanität, die sich an wenigen Städten und Regionen der Erde mit extremen Bedeutungsüberschuss bündele: New York, Hongkong, Shanghai, London, Los Angeles. Das lässt sich bis auf die Ebene des ­Individuums nachverfolgen: Eine aktuelle Untersuchung der drei wich­tigsten US-amerikanischen ­Eliteuniversitäten ergab, dass aus den jüngsten Absolventenjahrgängen niemand mehr für ein Unternehmen im Landesinnern der USA arbeitet – alle gingen nach Los Angeles, San Francisco, New York – oder gleich nach London oder Hongkong. 

Das Digitale determiniert den Raum 

Und was bedeutet das für Ingenieure und Architekten? Bisher, sagt Thomas Sevcik, sei der digitale Raum – Renderings, CAD-Zeichnungen – stets ein Abbild des realen ­Raums gewesen. Jetzt aber erlebten wir, dass sich diese Beziehung umdrehe, der physische Raum zu einer Funktion des digitalen Raums werde. Das habe zur Folge, dass Raum künftig weniger kon­struiert, vielmehr komponiert werde. Und da komme das «Narrativ» ins Spiel, wie es Sevcik bezeichnet: Wenn Unternehmen, Städte, Planungen erfolgreich sein wollten, dann müssten sie über eine klare, greifbare Botschaft verfügen, die sich auch gut in Bildern fassen lässt. Narrative im Sinn konstruierter Gedankenwelten, die Themen und Inhalte transportieren, eingebunden in eine grössere Botschaft, durchdringen schon heute viele Bereiche der Lebenswelt. 

Architektur und Städtebau werden damit zur «Erzählung des Raums»; Grossprojekte, aber auch Städte werden dann erfolgreich sein, wenn sie eine überzeugende «User Story» bieten. Und wo bleiben bei all dem der gute alte Architekt und sein Bauingenieur? Sind sie künftig nur noch nachgeordnete Mitarbeiter der Urban-Interface-Designer? Zukunftsaussichten, die das Audito­rium in angeregte Aufmerksamkeit versetzen, aber die ver­sammelten Ingenieure auch daran erinnerten, dass es ein ungemütliches Erwachen geben kann, falls man in der Komfortzone vertrauter Traditionen die eigene Zukunft verschläft. Als am Tisch kurz darauf die Gläser zum Anstossen erhoben wurden und der Rotwein aus den Kelchen duftete, raunte mir mein Tischnachbar zufrieden zu: «Wenigstens das geht nach wie vor nur analog!» 

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