Epo­chen­über­dau­ernd

Saaneviadukt, Gümmenen (BE)

Gute Baukultur ist dauerhaft und hält Jahrhunderten stand. Der Saaneviadukt  demonstriert dies exemplarisch, indem er relevante Eingriffe seiner Zeitachse aufgreift, zeigt und dadurch seinen mate­riellen und immateriellen Wert steigert. Mit der ak­tuellsten Erneuerung und dem Ausbau auf Doppelspur wurde das denkmalgeschützte Bauwerk in eine neue Epoche überführt und darf weiterhin faszinieren und beeindrucken.

Publikationsdatum
16-02-2022

Den Kreativen gehört die Zukunft – beim Saaneviadukt in Gümmenen zeigt sich das exemplarisch immer wieder aufs Neue. Wäre das Bauwerk nicht schon zu seiner Entstehungszeit beeindruckend und clever gewesen, stünde es heute nicht mehr. Und wäre es aktuell nicht in sensibler Weise erneuert, erweitert und modernisiert worden, wäre die Aussicht, künftig ein noch wertvolleres Kulturgut zu sein, kaum vorhanden. Jetzt aber gehört dem Viadukt die Zukunft mit dem Potenzial, zum dauerhaft bestehenden Erbgut der Baukultur zu werden.

Das Baukulturerbe

Der zwischen 1899 und 1901 erbaute Natursteinviadukt ist der grösste Kunstbau der BLS-Bahnstrecke Bern–Neuenburg. Das Ensemble aus einem imposanten, 400 m langen Damm, den Steinviadukten mit den 25 m hohen Pfeilern sowie dem 65 m weit spannenden Stahlfachwerk quert die Gümmenenau mit dem Flusslauf der Saane. Das lang ­gezogene Bauwerk gilt als Zeuge der industriellen und verkehrstechnischen Entwicklung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Es stellt eine beachtliche ingenieurtechnische Leistung dar, ist einfach und klar gestaltet und prägt die umliegende Landschaft. Der Viadukt ist denn auch ein Schweizerisches Baudenkmal von nationaler Bedeutung.

Im Video erklärt Clementine Hegner-van Rooden, weshalb das Projekt in ihren Augen für hohe Baukultur steht.

Das Bauwerk des Saaneviadukts war aber in die Jahre gekommen. Insbesondere drang Wasser durch die schadhafte Brückenabdichtung der Schottertröge, was das Mauerwerk irreversibel schädigte. Gleichzeitig hatte das aus Flussstahl gefertigte Fachwerk das Ende seiner Nutzungsdauer erreicht, weshalb eine Lastbeschränkung die Überfahrt limitierte. Als die BLS als Besitzerin die Strecke schrittweise auf Doppelspur mit einer Streckengeschwindigkeit von 160 km/h ausbauen wollte, um die Kapazität für den stetig zunehmenden Nah- und Fernverkehr zu erhöhen, hätte dies für den einspurigen, auf 90 km/h ausgelegten Saaneviadukt durchaus den Todesstoss bedeuten können. Doch es kam anders – dank einem Gutachten seitens der Denkmalpflege und dank dem Mentalitäts­wechsel der Bauherrschaft. Die Zu­standserfassung zeigte, dass die Natursteinviadukte die Mehrlast aufnehmen konnten. Einzig das Fachwerk musste für die höheren Lasten des Doppelspurausbaus ersetzt werden.

Die Nutzung rettet

Für die Erhaltung kulturell wertvoller Bauwerke ist die Anpassung an neue Umstände oder an eine veränderte Umgebung von zentraler Bedeutung. Kulturerbe sollte nicht eingefroren werden. Ohne eine lebendige Nutzung würde es oft einen stillen Tod sterben, sein Erhalt wäre nicht erstrebenswert, sehr umständlich oder im schlimmsten Fall gar unmöglich. Der Saaneviadukt ist seit jeher in Betrieb und kann sich verkehrsspezifischen Anforderungen anpassen und uneingeschränkt funktionieren. So suchte man 2013 über einen zweistufigen Studienauftrag eine Lösung, die ihm betrieblich, gestalterisch und konstruktiv gerecht wird. Die eidgenössische Kommission für Denkmalpflege und die eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission begleiteten das Verfahren fachkompetent mit dem Ziel, den historischen und ästhetischen Wert des Viadukts zu erhalten.

Mehr Artikel zum Thema Baukultur: Qualität und Kritik finden Sie in unserem E-Dossier.

Das aus dem Studienauftrag her­vorgegangene und vom Planungsteam mit Ingenieuren, Architekten und Landschaftsarchitekten sensibilisiert ent­wickelte Projekt beinhaltete die Instandsetzung des bestehenden Natursteinmauerwerks, den Ersatzneubau mit neuen beidseitig 3.5 m über das Mauerwerk ­auskragenden Schottertrögen in Stahl­betonbauweise sowie den Ersatz des bestehenden Fachwerks durch eine neue Brücke in Stahl-Beton-Verbundbauweise. Mit diesen Massnahmen erhält der Viadukt weitere 100 Jahre Nutzungsdauer, in denen das Erscheinungsbild vom originalen Zustand kaum abweicht. Lediglich bei der Hauptspannweite über dem Fluss ergibt sich eine markante Veränderung. Markant, aber dennoch sinnig und folgerichtig.

Analogie zum historischen Vorbild

Wie das historische Vorbild überbrückt die neue Saanequerung die Hauptöffnung zwischen den Flusspfeilern der ­Natursteinviadukte mit einem Stahlfachwerk, das als einfacher Balken gelagert ist. Es übernimmt die Proportionen des Vorgängers, ist jedoch modern gestaltet und in dem aktuellen Stand der Technik entsprechender Stahl-Beton-Verbundbauweise erstellt.

Das Stahlfachwerk besteht aus den jeweils zwei Ober- und Untergurten sowie den sich kreuzenden Fachwerkdiagonalen. Diese sind bei den Auflagern steiler und deshalb dichter angeordnet. Gegen Feldmitte sind sie hingegen flacher, wodurch die Knoten weiter auseinanderfallen. Die Gurtquerschnitte wiederum nehmen gegen Feldmitte hin zu. Der Kräfteverlauf in den Trägern ist durch diese sich verändernde Neigung der Diagonalstäbe und die angepassten Querschnitte der Untergurten ablesbar – hohe Schubkräfte bedingen mehr vertikale Tragkomponenten, hohe Momente bedingen kräftigere Gurte.

Die Maschenweite des Fachwerks passt sich an die Schubbeanspruchung an. Damit werden die Tragelemente gleichmässig und statisch sinnvoll ausgenutzt, was einheitliche Stabquerschnitte ermöglicht. Dadurch erhält die Kon­struktion einerseits einen ruhigen Rhythmus, andererseits ermöglicht es die ermüdungsgerechte Gestaltung der Fachwerkknoten, insbesondere der Anschlüsse der Diagonalen an die Ober- und Untergurte, aber auch der Kreuzpunkte der Streben – ein unabdingbarer konstruktiver Aspekt bei Bahnbrücken.

Die Fahrbahnplatte, die im Verbund mit den Stahlfachwerken wirkt, ist zudem schlank und gleich wie die neuen Schottertröge auf den Natursteinviadukten gestaltet. Deren Randborde sind beidseitig gleich, fein gegliedert und bilden eine verbindende, gerade Linie über die gesamte Länge des erneuerten Viadukts. Die Wirkung als Ensemble wird gestärkt.

In die Moderne transferiert

Der modernisierte Viadukt fesselt mehrfach. Ohne beim Ausbau auf historisierende Elemente zurückzugreifen, nimmt die moderne Konstruktion Form und Materialisierung der ursprünglichen Konstruktion auf und setzt sie – wie schon im Original – gemäss dem gegenwärtigen Stand der Technik und ent­sprechend der konstruktiven Kreativität der Ingenieure um. Eine neue Epoche beginnt, in der der Saaneviadukt mit einem angepassten Bild erscheint, seinen Charakter aber bewahrt. Die Baugeschichte wird weitergeführt. So ist der Saaneviadukt nicht nur ein Zeitzeuge der Entstehungszeit, sondern ebenso ­einer aus jeder Instandsetzungszeit, eine Widerspiegelung der Eingriffe aus jeder Epoche. Womit sich letztlich – wie bei einem Oldtimer – auch sein bedeutender immaterieller Wert schrittweise steigert.

Dieser Artikel ist erschienen im Sonderheft «Baukultur: Qualität und Kritik». Bestellen Sie jetzt!

Saaneviadukt, Gümmenen (BE)
Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
BLS Netz

 

Projektverfasser
Fürst Laffranchi Bauingenieure, Aarwangen

 

Architektur
Flury und Rudolf Architekten, Solothurn

 

Unternehmung
Frutiger, Thun

 

Stahlbau
Senn Stahlbau, Oftringen

 

Projektdaten
Fertigstellung
Dezember 2020

 

Bausumme
35 Mio. Fr.

Verwandte Beiträge