Nach 114 Jah­ren wie­der im Um­lauf

Aufzüge sind kaum je der dauerhafteste Bestandteil eines Bauwerks. Doch in Hamburg überstand ein Paternoster zwei Weltkriege und zahlreiche Eigentümerwechsel. Nun fährt er wieder – wie schon 1908.

Publikationsdatum
14-09-2022

Man musste schon fachkompetente Röntgenaugen haben, um den Paternoster im «Flüggerhaus» am Rödingsmarkt in der Hamburger Innenstadt zu entdecken. Denn jahrzehntelang war das Bürogebäude verschlossen. Und von den etwa 120 Paternostern, die das Hamburger Geschäftsleben um 1900 am Laufen hielten, bestehen heute gerade noch 20. Die in den 1880er-Jahren in England entwickelte Technik machte in Hamburg Karriere, denn die Erfindung des Paternosters fiel mit derjenigen des «Kontorhauses» zusammen: des typisch hanseatischen Bürobaus, dessen zahlreiche Etagen effizient erschlossen werden mussten. Deren komplett flexiblen Grundrissen standen nur wenige gestaltete Elemente gegenüber: eine repräsentative Fassade, ein aufwendiges Entree – und beinahe immer ein Paternoster. «Es ist kein Geschäftsgebäude ohne einen oder mehrere solcher Aufzüge zu denken», hiess es 1914 in der Publikation «Hamburg und seine Bauten».

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Gigantische Zahnräder, armdicke Ketten

Heute aber ist derlei auch hier alles andere als selbstverständlich. Was nicht im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, ersetzten moderne, geschlossene Aufzüge. Den Kunsthistoriker Robin Augenstein, der auch Technikgeschichte studierte, faszinierten die alten Beförderungsanlagen ebenso wie das Flüggerhaus schon lang. Dieses Kontorhaus aus dem frühen 20. Jahrhundert ist von der hier oberirdisch fahrenden U-Bahn gut einsehbar, war aber über Jahrzehnte unzugänglich, mit Ausnahme einer Kunstgalerie im Erdgeschoss. Einem Hinweis auf einer Amateur-Website folgend, klopfte Augenstein 2018 bei der Galerie an und stieg mit dem damaligen Mieter in den Keller. Dort stiess er auf Zahnräder von fast menschenhohem Durchmesser: den Maschinenraum des Paternosters.

Gleichwohl war da noch nicht klar, dass auch die an der Kette aufgehängten Kabinen noch vorhanden waren. Denn der Aufzug war, als er zu altertümlich wurde, gründlich zum Vergessen verdammt worden: Die zum Treppenhaus offenen Zugänge hatte man in den 1970er- Jahren mit einer Holzverkleidung überdeckt, die den Paternoster komplett unsichtbar machte. Erst der Fund im Keller führte zur Inspektion der oberen Etagen. Und tatsächlich eröffnete sich hier, wie in einer Zeitkapsel verborgen, der Aufzugschacht mit 14 Kabinen an einer annähernd armdicken Kette.

Augensteins Recherchen in den Bauakten gaben Gewissheit über das Alter der Anlage: Sie stammt aus dem Baujahr des Flüggerhauses, 1908. Damit handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um den ältesten erhaltenen Paternoster der Welt. Bislang hatte das für eine Anlage im Wiener «Haus der Industrie» von 1910/1911 gegolten. Augenstein informierte umgehend die Denkmalpflege und kontaktierte den Norddeutschen Rundfunk, um auch die Öffentlichkeit an der Weltsensation mit Lokalkolorit teilhaben zu lassen. Das Haus wurde 2019 von der als Besitzerin von Luxusimmobilien tätigen Signa Gruppe übernommen. Die neue Eigentümerin liess sich von der Begeisterung anstecken und entschied zugunsten einer Restaurierung des Aufzugs. «Ein Paternoster ist in Hamburg immer eine Attraktion», meint Augenstein zu den vermutlichen Beweggründen, «und hier gibt es einen Superlativ.»

Handle with care

Die einzigartige Technik wieder in steten Umlauf zu versetzen erforderte Sensibilität und Kompetenz. «43 Jahre lang stand der still – da wirkt der Schmutz auf den Führungsschienen wie Schleifpapier», weiss Augenstein. Einfach einschalten und ausprobieren war also nicht möglich. Vielmehr wurden nach einer sorgfältigen Bestandsaufnahme die hölzernen, mit einem Metallrahmen versehenen Kabinen ausgehängt und zur Reparatur eigens nach Stuttgart transportiert, zum Sitz des Aufzugsrestaurators. Derweil lag die Kette zur Reinigung in einem Tauchbad. Zahnräder wurden auf Risse kontrolliert, Getriebe gespült, die gesamte Anlage gereinigt, insbesondere die hölzernen seitlichen Führungsschienen.

Die sind nun wieder wie ursprünglich mit Grafit gefettet. Das schmiert nicht nur, sondern imprägniert auch das Eichenholz, das wiederum einen ruhigeren Lauf garantiert, als es Metallschienen könnten. Der Motor ist neu, aber «ab Getriebe ist alles original», so Patric Wagner, der Aufzugsrestaurator, mit deutlichem Stolz. Hinzu kommen nur Sicherheitsschürzen aus durchsichtigem Makrolan.

Die sind notwendig, weil es sich um einen Paternoster in offener Bauweise handelt, auch das für Kenner eine technische Besonderheit: Die einzelnen Kabinen haben keine Decke, sondern nur einen die hölzernen Seitenwände abschliessenden Stahlkranz, und zwischen zwei Kabinen liegt der Schacht einfach offen. Wer nicht aufpasst, kann also beim Warten vor dem Einstieg theoretisch in die nächsttiefere Kabine stürzen. Das ist wenig wahrscheinlich, aber die an die Kabinen montierten, plexiglasähnlichen Makrolanscheiben verhindern das in Zukunft, indem sie den offenen Abschnitt zwischen den Fahrboxen nach aussen abschliessen – ohne den spannungsreichen Blick in den offenen Schacht einzuschränken.

Nach wie vor sieht man die Kette und bei der (ungefährlichen) Überfahrt oben oder unten die riesigen Zahnräder. Die Fahrt ist also ein Erlebnis, dumpfes Poltern und leichtes Ruckeln inklusive. Technisch abgeschlossen ist die Restaurierung voraussichtlich im September dieses Jahres, bis Mitte 2023 sollen auch alle ästhetischen Details fertig sein. Gekostet hat der Aufwand nach Aussage von Wagner etwa zwei Drittel dessen, was ein Ersatz mit einem neuen Aufzugssystem verlangt hätte.

Was für ihn freilich nicht vergleichbar wäre. «Diese endlose Bewegung – da kann ich stundenlang zuschauen», schwärmt der Experte. Augenstein hebt in umgekehrter Perspektive die wechselnden Blickachsen hervor, die sich den Fahrgästen bieten; den steten Rhythmus von hell und dunkel, die Erlebbarkeit der Bewegung durch die Architektur, während man selbst stillsteht. Zudem seien Paternoster, so Wagner, gerade weil sie stetig laufen, extrem energieeffizient: «Das ist wie Tempo 80 auf der Autobahn.»

Die hinabgleitenden Kabinen gleichen das Gewicht der hinaufgezogenen aus, allein die beförderten Menschen sind relevant, wenn zu Stosszeiten mehr aufwärts fahren als abwärts. Nicht zuletzt sei eine solche Anlage, wie sich zeige, aussergewöhnlich dauerhaft und reparierbar. Er gebe ihr guten Gewissens weitere hundert Jahre Laufzeit.