Him­mel­fahr­ten für je­der­mann

Paternoster: Kaum ein technisches Bauwerk dürfte einen solch bedeutungsschweren, dazu noch lateinischen Namen tragen. Der Paternoster ist der Beweis, dass gerade der Technik der frühen Moderne ein Zauber innewohnt, der archaische Faszinationen in ganz neue Sphären beförderte.

Publikationsdatum
13-09-2022

Der Name stammt, der Fachmeinung zufolge, von der Aufreihung der Fahrkabinen an einer Kette in Analogie zu den Perlen einer Gebetskette.1 Man mag aber auch andere Kongruenzen als Ursache dieses einzigartigen Amalgams aus Technik und Religion sehen. «Paternoster qui es in caelis» ist schliesslich der Beginn des Vaterunsers, und der Verortung des heiligen Vaters im Himmel entspricht diese ganz besondere Auffahrt.

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Dass es sich dabei um eine technische und büroalltägliche Himmelsleiter handelt und nicht um eine Apotheose, macht die Verbindung um so reizvoller. Von wegen Moderne als Entzauberung, wie das der Soziologe Max Weber meinte! Dass eine Fahrt im Paternoster auch heute noch mit einem Kribbeln im Bauch verbunden ist, verdankt sich gewiss einem Gefühl der Gefahr, aber eben auch dem hier sehr deutlichen Bewusstsein der Bewegtwerdens: eine Bewegung durch den Raum, die auch eine innere Bewegung auslöst. Eine kleine Himmelfahrt für jedermann.

Diese Verschwisterung von Technik und Erlebnis, die ganz wesentlich auch die moderne Kunst und Architektur inspiriert hatte, fand im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ein Ende. Nicht zufällig setzte ein zunehmendes Sicherheitsdenken in den 1970er-Jahren ein, dem Jahrzehnt des Triumphs der Postmoderne in der Architektur. Technik wurde so perfektioniert, dass sie verschwand. In der Architektur wurde sie verpackt mit einem Formenapparat aus dem vortechnologischen Zeitalter. Und im Aufzug verpackt seitdem die Kabine den Fahrgast, der von Ketten und Zahnrädern nichts mehr wahrnimmt, wenn es sie denn überhaupt noch gibt.

Ab 1974 durften in der Bundesrepublik Deutschland keine Paternoster mehr errichtet werden. Allein dem fortdauernden Einbau neuer Paternoster in der DDR – wohl nicht zuletzt aus politischer Sympathie für den «Proletenbagger» – war zu verdanken, dass zumindest die Nutzung von Paternostern infolge der Wiedervereinigung für die Mieter eines Gebäudes und nach Einweisung gestattet blieb. In der Schweiz kann die Öffentlichkeit allein in Bern noch im Modegeschäft Bayard in der Marktgasse 27 im Kreis auf- und niederfahren, allerdings aus Sicherheitsbedenken nurmehr in absurdem Schneckentempo. In wertvollen baukulturellen Nischen im Ausland finden sich Paternoster bis heute. Mitfahrende Besucher bewegen sich freilich in einer rechtlich vagen Zone. Die folgende Liste mag einige Himmelfahrten auf eigene Verantwortung inspirieren.

Hamburg
Laeiszhof, Trostbrücke 1
Paternoster der Firma Kehrhahn von 1950 in einem pompösen Kontorhaus von 1898 mit eindrucksvollem Treppenhaus und Lichthof, in den sich wechselnde Perspektiven bieten.

 

Bremen
Haus des Reichs, Rudolf-Hilferding-Platz 1
Drei sehr schöne Anlagen von Kehrhahn von 1929 mit Mahagoni-Kabinen und Art-déco-Elementen, nur nach Voranmeldung zu besichtigen.

 

Stuttgart
Rathaus, Marktplatz
Drei Anlagen aus den 1950er-Jahren von Zaiser bzw. Stahl. Letztere hat einen Breitkorb mit pastellfarbenen Kabinen.

 

Wien
Haus der Industrie, Schwarzenbergplatz 4
Galt vor der Entdeckung des Paternosters im Hamburger Flüggerhaus als älteste erhaltene Anlage (Freissler 1910/1911), besonders aufwendig gestaltete Kabinen mit geschlitzten Schürzen.

(Hinweise von Robin Augenstein, Hamburg)

 

Anmerkung

1 Jeannot Simmen: Der Paternoster – ein Dinosaurier am Ende, in: Vertikal: Aufzug, Fahrtreppe, Paternoster, hg. von Vittorio Magnago Lampugnani und Lutz Hartwig, Berlin 1994, S. 132-139