Rei­se ins Reich der Schla­cken

Rätselhafte Staub- und Aschehäufchen, Schmelzreste und angesengte Geräte – auf rund dreihundert augenhoch gebauten Tischchen ist bei Archizoom an der EPFL die Ausstellung «Ultimate Matter» zu sehen. Es handelt sich um Überreste aus Müllverbrennungsanlagen, präsentiert wie Preziosen aus einer fremden Welt.

Publikationsdatum
24-10-2022

«Ultimate Matter« ist eine Ausstellung über menschengemachte Geologie, ein Querschnitt durch unseren Müll (Konzept, Szenografie und Inhalt: Raum 404, Zürich).1 Die Ausstellung zeigt den Werdegang von Gütern wie sie am Ende des menschlichen Verwertungsprozesses, durch Hitze neu produziert, zu einer neuen Art geologischer Materie werden. Es handelt sich um die Reste aus den Öfen der Müllverbrennungsanlagen, um Objekte, die von einem anderen Planeten zu stammen scheinen. Es ist die Schlacke, die Rückstände unserer Konsumgüter, die von den Arbeiterinnen und Arbeitern in der Anlage «Bois de Bay« in der Nähe von Genf «les monstres» genannt werden.

Landesweite Müllverbrennung

In der Schweiz sind derzeit 30 Kehrichtverbrennungsanlagen (KVA) in Betrieb. Seit dem Jahr 2000 darf Siedlungsabfall in der Schweiz nicht mehr deponiert werden, sondern muss verbrannt werden. Rund 80 bis 90 Millionen Tonnen Abfall fallen in der Schweiz jährlich an. Der grösste Teil geht auf das Konto der unverschmutzten Aushub- und Abbruchmaterialien sowie auf den Rückbau. Mit über 700 kg Abfall pro Person hat die Schweiz eines der höchsten Abfallaufkommen aus Siedlungen weltweit.2

Am Ende des Recyclingprozesses können die Materialien des Hausmülls noch weiter aufgeteilt und wirtschaftlich verwertet werden. Dennoch bleiben immer noch kolossale Mengen an verbranntem Material übrig: rätselhafte Objekte, Konglomerate oder feiner Staub. Die in den Materialien enthaltene Energie kann durch Verbrennung freigesetzt und anschliessend in Fernwärmenetzen weiterverteilt werden. Abfälle werden somit in hohem Masse aufgewertet und verstoffwechselt, insgesamt eine der Grundlagen für das Funktionieren unserer Städte und Gesellschaften. Sie sind ein kaum sichtbarer, aber doch beträchtlicher Bestandteil der urbanen Organisation.

Perfektes Recycling ist nicht möglich

Das letzte Stadium einer Materie zu untersuchen, bedeutet auch, sich der Unmöglichkeit eines perfekten Recyclings und der hundertprozentigen Wiederverwendung von Materie bewusst zu werden. Es bedingt, das ständige Wachstum anfallender Materie, deren Quellen und Wege und die damit verbundenen Auswirkungen zu verstehen zu versuchen.

Als Reaktion auf die zunehmende Verstädterung der Welt entwarf bereits 1969 die italienische Gruppe Archizoom Associati3 eine kritische Utopie, die den heutigen Zustand der Urbanisierung von Stadt und Land widerspiegelt. Sie entwarf eine neue Lebensweise auf einem völlig anthropogenen, grenzenlosen Territorium, die «No-stop City». Die Ausstellungsinstitution Archizoom bezieht sich mit ihrem Namen und indirekt auch mit dem aktuellen Ausstellungsthema auf diese Florenzer Architektengruppe rund um Andrea Branzi.

Umweltsünden wie Schmuckstücke

Die Szenografie der Ausstellung wirkt wie Ausschnitte aus einer Schlackenlandschaft, aufgelöst in einzelne kleine Objekte. Sie sind je nach ihrem jeweiligen Grad der Umwandlung noch erkennbar, meist aber völlig verändert und nicht mehr in ursprünglicher Form vorhanden. Auf kleinen Tischchen in Augenhöhe präsentiert, verführen diese kleinen «Monster» eher dazu, sie als harmlose Schmuckstücke aufzufassen. Harmlos, das sind sie nun sicherlich nicht.

Bildlegenden erläutern die Herkunft und Zusammensetzung der Ausstellungsstücke, allerdings in derart winziger Schrift, dass sie im Dämmerlicht des Raums nur schlecht lesbar sind. Hingegen dokumentieren grossformatige Fotografien eindrücklich ehedem bestehende Schutthalden in der Schweiz wie sie vor dem Jahr 2000 noch bestanden haben: «La Pila» in Hauterive (FR); «En Colliare» in Penthaz (VD); «Stadtmist» in Solothurn; «Widen» in Erlenbach (ZH), «Etang des Mangettes» in Monthay (VS). Eine handliche Broschüre erläutert die Absicht recht anschaulich und verhilft so zum einfacheren und besseren Verständnis des Themas.

Sollten künftige Generationen derartige Sedimentschichten ehemaliger Umweltsünden finden, dürften damit die Auswirkungen unserer Lebensweise auf den Boden erahnbar werden. Zum 50. Jahrestag der Veröffentlichung von «Die Grenzen des Wachstums»4 durch den Club of Rome illustriert diese Ausstellung, wie aktuell die dort umschriebenen Probleme nach wie vor sind.

Ausstellung «Ultimate Matter»
Archizoom, EPFL Ecublens
Bâtiment SG (SG 1211-1212)
Station 15
EPF Lausanne

Noch bis 2. Dezember 2022

 

Öffnungszeiten
Mo bis Fr, 9:30–17:30 Uhr
Sa 14–18 Uhr

Eintritt frei

Archizoom

1974 war die EPFL eine der ersten Schulen, die ein eigenes öffentliches Architekturprogramm einrichtete. Im Jahr 2007, nach einer Retrospektive über die italienische Gruppe «Archizoom Associati», wurde dieser Name für den Ausstellungsraum übernommen. In den 1970er-Jahren betrachteten die Architekten von Archizoom Associati Design als untrennbar mit Forschung und politischem Aktivismus im weitesten Sinne verbunden: «Architektur zu schaffen bedeutete nicht nur, Häuser zu bauen oder nützliche Objekte zu erschaffen; es bedeutete, sich auszudrücken, zu kommunizieren, zu debattieren, den eigenen kulturellen Raum frei zu gestalten, basierend auf dem Recht eines jeden Einzelnen, seine eigene Umgebung zu gestalten» (Andrea Branzi).

 

Inspiriert von diesem offenen und kritischen Geist, lädt Archizoom an der EPFL dazu ein, Architektur zu verstehen und vorgefasste Meinungen zu hinterfragen, um die gebaute Umwelt in all ihren Dimensionen zu erfassen. Mit Ausstellungen und Vorträgen soll entsprechendes Wissen in einem avantgardistischen Geist geschaffen und verbreitet werden. Archizoom stellt Forschung und Theorie der Erfahrung der Besucher gegenüber um praktisches Know-how mit akademischem Denken zu verbinden. Ein kultureller Diskurs über Architektur soll gemeinsam entwickelt werden um die Grundlagen der Konzepte und Systeme, die wir erschaffen, zu überprüfen.

 

(Quelle: Cyril Veillon, Direktor Archizoom)

Anmerkungen

 

1 Ausstellungskonzept Lucile Ado und Oscar Buson (Raum 404 Architekten, Zürich) mit Solène Hoffmann (Fotos) und Cyril Veillon, Archizoom

 

2 BAFU, Bundesamt für Umwelt

 

3 Die Gruppe Archizoom Associati wurde 1966 in Florenz gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe zählen Andrea Branzi, Paolo Deganello, Gilberto Corretti und Massimo Morozzi. Die Gruppe gilt als Begründer des Anti-Designs. Neben Architektur und Produktdesign beschäftigte sich Archizoom auch mit Stadtplanung.

 

4 «Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.» (Schlussfolgerung aus: «Die Grenzen des Wachstums», Club of Rome, 1972)

 

Verwandte Beiträge