Mehr Re­le­vanz, we­ni­ger Re­fe­renz

Die Architektur will mithelfen, die Welt gerechter und nachhaltiger zu machen. Am Weltkongress der Union Internationale des Architectes wurde erklärt, wie dieser Beitrag aussehen soll: mit einem stärkeren Fokus auf Mensch und Material.

Publikationsdatum
25-07-2023

Falls Sie noch auf Ideensuche für die Herbstferien sind: Kopenhagen ist die aktuelle Weltkapitale der Architektur. Die UNESCO verleiht diesen Titel alle drei Jahre an den Austragungsort des Weltkongresses für Architektur, der diesen Sommer stattfand. Die Wahl erscheint angesichts der jüngsten urbanen Entwicklung in der dänischen Hauptstadt berechtigt: Vor zwei Jahrzehnten stiess Kopenhagen einen Wachstums- und Transformationsschub an, mit dem Ziel, die Stadt der kurzen Wege und der durchmischten Funktionen wiederaufleben zu lassen. Entstanden ist seither vieles, das zu besichtigen sich lohnt: selbstbewusste Architektur mit gewagten Formen, abwechslungsreiche Stadträume oder Siedlungsareale mit ausbalancierter Dichte und fliessender Einbettung in das benachbarte Naherholungsgebiet.

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Für das UNESCO-Jahr wurde ein reichhaltiges Aufklärungsprogramm auf die Beine gestellt. So erzählt das dänische Architekturzentrum in der Ausstellung «So Danish» die Geschichte, wie der Nordic Style zum Fixpunkt für eine lebensfrohe Architektur des 21. Jahrhunderts wurde. Der Ort am ehemaligen Hafen ist selbst ein spektakuläres Beispiel dafür, mit welchen Ambitionen das «hyggelige» Design auftritt. 

Von Perlen und Klötzen

Die jüngste Stippvisite an den Kongress und den Veranstaltungsort ergab deshalb die Gelegenheit für eine spontane Bilanz: Neben wahren Perlen machen sich allmählich auch Prunk- und Protzhäuser im Stadtkörper breit, die nicht mehr darstellen wollen als sich selbst. Und Leute beobachten lässt sich nicht nur auf neu geschaffenen Stadtplätzen und Spielwiesen, sondern auch in daneben hingeklotzten Shopping-Malls. Die Weltkapitale der Architektur weckt inzwischen Zweifel, ob das nachhaltige Versprechen wirklich flächendeckend gelingt. Die Verantwortlichen selbst sind sich dessen bewusst und laden deshalb zum Besuch einiger zwischengenutzter Plätze, die das ganze Jahr zum Nachdenken anregen sollen.

Eingestreut in den Stadtkörper sind Pavillons, die sich mit hängigen Zukunftsfragen der Architektur beschäftigen: Wie klimafreundlich ist die Disziplin? Wie sozial integrativ wirkt sie? Und wieviel Platz wird den menschlichen Bedürfnissen darin eingeräumt? Einige Erklärungen, weshalb das «Weiter wie bisher» sowohl in der Architektur als auch im Städtebau zu hinterfragen ist, lieferte der Architektur-Weltkongress von Anfang Juli.

Systematische  Benachteiligungen

Dreieinhalb Tage wurde wie an einem Politgipfel über globale Krisen gesprochen und deren Ursachen und Lösungen diskutiert. In den meisten Debatten kamen der Klimawandel zur Sprache, etwas seltener der biologische Artenschwund, durchwegs jedoch wurde gewarnt vor einer systematischen Benachteiligung von Teilen der Erdbevölkerung. «Leave no one behind» war das zentrale Anliegen der von der Union Internationale des Architectes (UIA) organisierten Konferenz. Das Motto orientiert sich an der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und war der rote Faden für die riesige Auswahl an Gesprächsrunden, Ansprachen und Werkschauen von Architektinnen und Architekten aus 135 Ländern und fünf Kontinenten.

Durchaus erhellend, manchmal nostalgisch war der Versuch, die Leistung von Städtebau-Pionieren wie Jan Gehl zu würdigen. Umso frischer tritt die junge Generation auf: «Let’s fight reference-man», forderte Nyasha Harper-Michon vom niederländischen Architekturbüro UN-Studio. Die «Archtivistin» spielte auf den modular vermessenen Menschen der Nachkriegsarchitektur an und verwendete ihn als Synonym für «the old white cis-man». Harper-Michon rief zu einem inklusiveren Ansatz für das Entwerfen auf: «Designing with empathy for all humans, instead only for reference man.» Am UIA-Kongress sprach auch Bjarke Ingels, der Architekturstar aus dem Gastgeberland. Sein Votum ging in dieselbe Richtung: Die Architektur müsse sich in Zukunft mehr um politische und gesellschaftliche Relevanz bemühen, anstatt sich im Feuilleton als Kunstform zu präsentieren.

Graben zwischen Nord und Süd

Deutlich wurde ein weltweiter Entwicklungsgraben: Die Weltarchitektur leidet unter gemeinsamen Krisen, aber versucht, lokal dagegen etwas zu unternehmen. Die Fachwelt im globalen Norden und Süden trennt vor allem die Entwicklungsperspektive: Die erste Region entdeckt die Grenzen des Wachstums; die zweite gerät unter einen existenziellen Anpassungsdruck.

Wortführer aus der reichen Hemisphäre waren dänische Architekten, etwa Sören Nielsen, Mitgründer von Vandkunsten Architects: «In Europa sollten wir auf Neubauten verzichten und das Anrecht auf eine weitere Nutzung von Ressourcen den Entwicklungsländern im Süden übergeben.» Landsmann Anders Lendager forderte seinerseits, «jedes neue Gebäude nur noch aus Abfall und/oder Holz zu erstellen». Sein Büro ist Pionier für die Reuse-Baumethode und realisiert Grossbauten, deren Materialbedarf zu fast 80 % aus alten Bauteilen besteht. «Reduce, recycle, reuse», lautet das Mantra, das als zwingender Beitrag der Architektur zum Klimaschutz inzwischen auf der Weltbühne vermittelt wird.

Architektinnen und Architekten aus Asien oder Afrika sorgten sich auf der Kongressbühne ebenfalls über das Ausmass des weltweiten Ressourcenverzehrs. Noch mehr sorgen sie sich aber über den dramatischen Wandel des Berufsalltags: Die gebaute Umwelt ist nicht länger frei gestaltbar, sondern leidet bereits unter den Folgen der Erderwärmung. Kunle Adeyemi, Gründer des nigerianischen Büros NLÈ, zeigte anhand seines Projekts «Water Cities» beispielhaft auf, dass die Architektur ein Mittel ist, sich vor dem Klimawandel in Sicherheit zu bringen: Wo Stürme toben oder andere Klimakatastrophen wüten, ist der Wiederaufbau von resilienter Infrastruktur und sicherem Wohnraum gefragt. «Reuse, recycle – and adapt», fasst Adeyemi seine Arbeit auf dem afrikanischen Kontinent zusammen.

«Nicht alles allein bestimmen»

Was kann ein Weltkongress für Architektur sonst noch Gutes für diesen Planeten bewirken? An dreieinhalb Tagen haben 6000 Personen direkt oder indirekt über das Ziel «Leave no one behind» gesprochen. Daraus entstanden die «Copenhagen Lessons», zehn Prinzipien, die das gemeinsame Verständnis für eine nachhaltige Entwicklung fördern sollen. Dazu lässt sich der positive Eindruck aus weiteren Veranstaltungen ergänzen: Die Architektur will auf der globalen Nachhaltigkeitsbühne eine wichtige Rolle spielen, ohne sich als allmächtig zu überschätzen. «Architektur kann nicht alles allein bestimmen», bestätigte Bjarke Ingels. Doch welche andere Disziplin besitze diese Fähigkeit, eine nachhaltig gebaute Umwelt auf die Bedürfnisse des Menschen abzustimmen?

Am Kongress wurde mehrfach glaubwürdig betont, wie zwingend ein Wandel zugunsten der Umwelt und der Gesellschaft herbeizuführen ist. Gleichzeitig scheint man darauf gefasst, dass die gesuchten Rezepte die Architektur selbst verändern werden – nachhaltiger als dies ein Solardach oder eine Grünfassade mit einem Gebäude tut. Auf den Bedarf an zusätzlichem Ingenieurwissen wurde häufig, aber nicht vorschnell verwiesen.

Vielmehr erfolgten wiederholte Hinweise auf eine Neuinterpretation von vernakulärer Architektur: Die Bedürfnisse vor Ort und die lokalen Ressourcen, der Mensch («human factor») und das Material, sind in den Fokus zu stellen, wenn eine tiefgreifende Verbesserung der globalen Entwicklung angepeilt werden soll. Eine solche Erkenntnis war die Reise nach Kopenhagen auf jeden Fall wert.

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