Kon­flik­te ­zwi­schen Le­bens- und Nut­zungs­zy­klus

Sanieren oder abreissen und neu bauen? Fachleute von Wüest Partner zeigen auf, welche ökologischen, ökonomischen und sozialen Faktoren für eine Entscheidungsfindung an Bedeutung gewinnen.

Publikationsdatum
08-12-2023

TEC21: Beginnen wir mit der ökologischen Position, die grossen Anklang findet: Bestehende Gebäude sind zu erhalten. Aber gibt es eine einfache Formel, die diese Forderung bestätigt?

Jörg Lamster: Die Bilanz einer Gebäudeerneuerung ist in der Regel immer besser als ein Ersatzneubau, wenn die dadurch verursachten CO2-Emissionen pro Quadratmeter Energiebezugsfläche (EBF) betrachtet werden. Aber in meinem Planungsalltag habe ich auch gelernt: Je länger wir uns mit der Frage «erhalten oder ersetzen» beschäftigen, umso uneindeutiger wird der Befund. Wenn qualitative Kriterien wie die Nutzbarkeit in die Evaluation einfliessen, ergibt sich oft ein anderes Gesamtbild. Bisweilen kann ein zuerst ökologisch eindeutiges Ergebnis sogar kippen.

Inwiefern kann die CO2-Bilanzierung von Gebäuden jeweils ein verlässliches und eindeutiges Resultat liefern?

Lamster: Eine Bilanz dient ja oft dazu, verschiedene Eingriffsvarianten zu vergleichen. Und effektiv ist es so, dass solche Variantenvergleiche nicht immer derart markant ausfallen, wie viele erwarten. Rechnet man für das Erstellen eines Neubaus mit Emissionen zwischen 10 und 12 kg CO2/m2, schlägt eine Bestandsertüchtigung mit 4 bis 6 kg/m2 zu Buche, und für die Aufstockung sind es etwa 7 bis 8 kg/m2. Die Unterschiede scheinen gering, sind aber von grosser Bedeutung auf dem Weg zu Netto-Null. Hinzu kommen weitere Aspekte: Es ist etwa nicht immer geklärt, ob einheitliche Bilanzierungsregeln, Zeithorizonte oder Systemgrenzen angewandt werden. So darf man durchaus nachfragen, ob bei einem Gebäudeerhalt auch Zusatzeffekte berücksichtigt werden, die Aspekte wie beispielsweise eine Nutzungsverdichtung mitberechnen.

Weitere Beiträge zum Thema «Immobilien und Energie» sind im gleichnamigen E-Dossier abrufbar.

Wie sieht die ökonomische Perspektive aus: Drängt sich hier eine Formel auf, die generell gegen Ersatzneubau, aber für eine Gebäudesanierung spricht?

Julia Selberherr: Aus wirtschaftlicher Sicht spielen Faktoren wie der Zustand der Bausubstanz eine wichtige Rolle. Am besten ist, wenn nicht nur der Rohbaukern erhaltenswert ist. Zu beachten sind auch die Grundrisse: Sind sie zeitgemäss oder zumindest einfach veränderbar? Oft entscheidet jedoch die Ausnützungsreserve auf der betreffenden Bauparzelle: Wie viel Platz bietet sie für eine Erweiterung des Bestands? Oder lohnt sich ein Neubau, weil der Mietertrag gesteigert werden kann?

Bei der Debatte über Entwicklungsoptionen von bestehenden Wohnsiedlungen wird ab und zu vermerkt, ein Weiterbauen sei für Mieterinnen und Mieter nicht immer günstiger als ein Ersatzneubau. Was ist da dran?

Selberherr: Generell ist zu unterscheiden, ob ein Gebäude im bewohnten oder unbewohnten Zustand saniert werden soll. Im ersten Fall ist die mietrechtliche Vorgabe zur Überwälzbarkeit von Erneuerungskosten massgebend. Bei Leerkündigungen ist dagegen ebenso wie bei Ersatzneubauten das Festsetzen einer Marktmiete möglich. Doch Investoren achten immer häufiger auf das soziale Gefüge des Standorts. Ersatzneubau oder eine Sanierung mit Leerkündigung gilt als risikobehaftet, weil mit Widerstand oder Terminverzögerungen zu rechnen ist. Die soziale Balance in der Siedlungsentwicklung wird für viele Städte politisch wichtiger. Deshalb beginnen Investoren darauf ebenso zu achten wie auf ökonomische und ökologische Kriterien, wenn sie Entscheide über den Gebäudebestand treffen.

Wie gewichten Investoren diese drei Aspekte untereinander?

Selberherr: Ökonomische Faktoren haben das grösste Gewicht, wäre meine spontane Antwort bis vor Kurzem gewesen. Doch inzwischen findet ein Umdenken statt: Der Kreis derjenigen wächst, die nicht nur Renditeziele anstreben, sondern ebenso verbindliche ökologische Kennwerte einhalten wollen. Vertiefte Analysen sind für eine Reihe von Investoren beinahe selbstverständlich geworden. Allerdings stimmt das nicht für die gesamte Immobilienbranche. Noch ist die Regel: Ersatzentscheide werden vorschnell getroffen, ohne sich auf genauere Abklärungen abstützen zu wollen.

Das Berechnen von CO2-Emissionen und das Bilanzieren des Klimafussabdrucks gewinnen dennoch an Popularität. Was ist zu tun, damit die ökologischen Faktoren im Moment einer Entscheidung mehr Gewicht bekommen?

Lamster: Es tut sich schon viel. Manchmal werden sogar laufende Entscheidungs- und Auswahlverfahren auf den Kopf gestellt, um zusätzliche Abklärungen über die Klimawirkung der eingereichten Vorschläge einzuholen. Oder Architekturwettbewerbe werden derart umprogrammiert, dass Vorschläge für das Weiterbauen angemessener berücksichtigt werden können. Über das Ganze gesehen erkenne ich jedoch nur einen starken Hebel, der einen Abriss von Gebäuden verhindert: Die Denkmalpflege ist heute das einzige Regulativ, das den Erhalt von Bestandsbauten verlangt. Die Klimapolitik kennt kein vergleichbares Instrument. Wobei ein generelles Abrissverbot trotzdem eher ungeeignet wäre …

Weshalb?

Lamster: Einige Gebäude lassen sich nur erhalten, wenn die tragende Struktur massiv aufgewertet wird, was schlussendlich ähnlich viele Ressourcen benötigt wie ein Ersatzneubau. Zielführender ist ein Verständnis des Weiterbauens, das über die Architektur und die Konstruktion hinausgeht. Dabei geht es darum, beispielsweise den Zyklus einzelner Bauteile der Sekundärstruktur zu verlängern. Hierfür sind jeweils die Entwicklungsoptionen im Bestand abzuklären. Ein wichtiger Schritt für das Weiterbauen ist deshalb, die existierende Gebäudestruktur dem erwünschten Nutzungsprogramm gegenüberzustellen.

Selberherr: Dieser Aspekt ist ökologisch und ökonomisch grundsätzlich sinnvoll. Denn so werden die Ressourcen über einen Bestandserhalt effizient genutzt. Schwierig wird es jedoch, wenn der Lebenszyklus von Gebäuden und der wirtschaftliche Nutzungszyklus zeitlich nicht übereinstimmen. Bisweilen fällt Letzterer sogar kürzer aus als anfänglich gedacht. So sollen nicht einmal 20-jährige Bürobauten abgebrochen werden, weil sie aktuelle Nutzerbedürfnisse nicht mehr erfüllen.

Wie ist der Trend, Bürobauten in Wohnhäuser zu transformieren, diesbezüglich zu beurteilen?

Selberherr: Ökologisch spricht vieles dafür, obwohl eine Umwandlung nicht weniger kostet als ein kompletter Neubau. Dass solche Umnutzungskonzepte immer häufiger realisiert werden, bestätigt deshalb, wie Investoren ihre Risikobereitschaft zugunsten von Klimaschutz erhöhen.

Mit Unterstützung von energieschweiz und Wüest Partner sind bei espazium – Der Verlag für Baukultur folgende Sonderhefte erschienen:

Nr. 1/2018 «Immobilien und Energie: Strategien im Gebäudebestand – Kompass für institutionelle Investoren»

Nr. 2/2019 «Immobilien und Energie: Strategien der Vernetzung»


Nr. 3/2020 «Immobilien und Energie: Strategien der Transformation»


Nr. 4/2021 «Immobilien und Energie: Mit Elektromobilität auf gemeinsamen Pfaden»

Nr. 5/2022 «Immobilien und Energie: Strategien des Eigengebrauchs»

 

Nr. 6/2023 «Immobilien und Energie: Wertschätzung für das Bestehende»


Die Artikel sind im E-Dossier «Immobilien und Energie» abrufbar.

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