«Fern­wär­me­kun­den be­grüs­sen das Sorg­los-Pa­ket»

Zürich nimmt den Umbau der Wärmeversorgung auf dem ganzen Stadtgebiet an die Hand: Bis in 20 Jahren sollen Energieverbundnetze rund die Hälfte der heute noch fossil bereitgestellten Wärme abdecken.

Publikationsdatum
26-11-2021

espazium: Frau Banfi Frost, die Stadt Zürich will die CO2-Emissionen bis 2040 auf Netto-Null senken. Wie lässt sich die Wärmeversorgung fossilfrei organisieren?

Silvia Banfi Frost: Wir wissen, dass derzeit rund 21 000 Heizanlagen fossil betrieben werden und diese bis 2040 auf erneuerbare Energien umgerüstet werden müssen. Wo Liegenschaften aber für sich selbst keine Energie aus dem Erdreich oder dem Grundwasser beziehen dürfen oder keine anderen lokalen Energieressourcen für das Heizsystem zur Verfügung stehen, möchten wir eine fossilfreie Versorgungsinfrastruktur anbieten. Deshalb plant die Stadt einen starken Ausbau der thermischen Netze. Bis in 20 Jahren sollen Energieverbundnetze rund die Hälfte der heute noch fossil bereitgestellten Wärme abdecken.

Wie hoch ist der Versorgungsanteil der Fernwärmenetze heute?

Das bestehende Fernwärmenetz erschliesst knapp 30 % des Siedlungsgebiets und deckt knapp 20 % des städtischen Energiebedarfs. Der Netzausbau ist aber nicht unbeschränkt: Auch in Zukunft müssen nicht alle Liegenschaften in den Versorgungsgebieten an das Fernwärmenetz angeschlossen werden. Liegenschaftsbesitzerinnen und -besitzer können weiterhin frei wählen, woher sie ihre Wärme beziehen. Die Stadt konzentriert sich derweil auf Anschlüsse von grossen Liegenschaften mit hohem Energiebedarf und von solchen, die faktisch keine Alternative für eine fossilfreie Wärme­versorgung besitzen.

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Die Stadt Zürich strebt also eine Verdoppelung des öffentlichen Wärmeangebots an. Woher soll diese Energie kommen?

Tatsächlich nutzen wir die wichtigsten Quellen bereits, wie das Kehrichtheizkraftwerk Hagenholz, das Zürich-Nord und Zürich-West versorgt, respektive die Klärschlammverwertungsanlage oder das gereinigte Abwasser zur thermischen Versorgung der Quartiere Altstetten und Höngg. Auch Seewasser wird im ufernahen Siedlungsgebiet thermisch gut genutzt. Ein Ausbau in benachbarte Quartiere ist jedoch geplant. Zudem haben wir letztes Jahr eine Machbarkeitsanalyse abgeschlossen, die das Heizen und Kühlen des City-Bereichs weitgehend mit See­wasser für möglich hält. Ein weiteres Potenzial für thermische Netze bietet die Limmat. Und wir denken darüber nach, den Energieträger Holz mit dem Netzausbau zu kombinieren.

Wie konkret sind die Pläne für eine stadtweite fossilfreie Energieversorgung?

Die Politik spricht von einem Jahrhundertprojekt: Die drei städtischen Energieversorgungsunternehmen werden etwa 1.5 Mrd. Franken investieren und bis 2040 Dutzende grösserer Verbundnetze in Betrieb nehmen. Vorausgesetzt, die politischen Gremien und die Stadtbevölkerung geben grünes Licht dafür. Bis Mitte Jahrzehnt nutzen wir die Zeit vor allem für Planungs- und Koordinationsarbeiten. So haben wir noch nicht einmal alle Stadt­gebiete identifiziert, für die ein Netz­anschluss als notwendig erachtet wird.

Können bisherige Netze auf demselben Stand, auf dem sie jetzt funktionieren, künftig weiterbetrieben werden?

Nein, auch diese Herausforderung ist gross, um Energie in bestehenden Netzen bis zur letzten Kilowattstunde fossilfrei bereitzustellen. Aktuell besteht die Fernwärme von Entsorgung + Recycling Zürich (ERZ) aus 75 % Abwärme der Kehricht- und Holzheizkraftwerke; der Rest ist fossiler Herkunft. Auch Seewasser-Wärmeverbundnetze benötigen übers Jahr etwa 20 % Gas für die Spitzenabdeckung. Konzepte zur fossilfreien Deckung der Spitzenlast sind zurzeit in Erarbeitung.

Welche Risiken sind mit einem Ausbau der thermischen Netze verbunden?

Technologisch wissen wir, wie Fernwärmenetze funktionieren. Der Zeitfaktor ist aber das zentrale Thema: Wie wird der Netzausbau mit anderen Bauaufgaben im öffentlichen Strassenraum koordiniert? Oder stellen die städtischen Energieunternehmen ihre Netzanschlüsse schnell ge­nug bereit, damit sich Liegenschaftsbesitze­rinnen und -besitzer nicht schon vorher für eine Alternative entschieden haben?Zu schaffen machen uns auch knappe Räume im dichten Siedlungsgebiet: Wo finden wir Platz für zusätzliche Energiezentralen zur Wärmeaufbereitung und -verteilung? Es ist absehbar, dass längere Verbindungsleitungen zusätzlich realisiert werden müssen. Doch wir stecken auch hier erst in der Vorbereitung und müssen noch einige Aspekte abklären.

Die Abwärme aus Rechenzentren und anderem Gewerbe wird oft als zukunftsträchtige Quelle bezeichnet. Hat die Stadt Zürich solche Reserven?

Wir haben im Energieversorgungskonzept 2050 das Potenzial der Abwärme­nutzung aus IKT-Anlagen auf jährlich etwa 1000 GWh Energie geschätzt. Das entspricht in etwa einem Viertel des Wärmebedarfs der Stadt und dem Doppelten der Abwärme aus der Abfallverbrennung. Grosse Quellen wie das Rechenzentrum der Stadt oder der Swisscom werden bereits genutzt. Daneben sind kleinere Nahverbundnetze in Betrieb, die aus privatwirtschaftlicher Initiative entstanden sind. Effektiv ist das Ausbaupotenzial deshalb nicht mehr allzu gross.

Die Investitionen für die Wärmenetze sollen das fossilfreie Angebot erhöhen. Aber auch die Abnahme muss gut vorbereitet sein: Sind Wärmenetze auf dem Heizungsmarkt konkurrenzfähig?

Der geplante Ausbau soll weder zu einem Monopol führen, noch will die Stadt einen Anschlusszwang ausüben. Thermische Netze stehen immer im Wettbewerb zu anderen Lösungen. Ein Heizkostenvergleich, den wir letztes Jahr erstellen liessen, hat gezeigt, dass thermische Netze mit anderen fossilfreien Heizvarianten heute schon mithalten können. Die Stadt fördert zudem einen Netzanschluss finanziell ebenso wie Wärmepumpen oder andere individuelle Heizsysteme. In Gebieten mit thermischen Netzen werden aber grundsätzlich nur Netzanschlüsse finanziell unterstützt. Wenn das kantonale Energiegesetz der­einst wie geplant eingeführt und um­gesetzt wird, wird ein Heizungsersatz mit fossilen Energien faktisch nicht mehr möglich sein. Spätestens dann stellt der Anschluss an ein thermisches Netz eine sehr interessante Lösung dar.

Wie reagiert die Immobilienwirtschaft auf den angekündigten Ausbau der Wärmenetze?

Wo die Energieunternehmen bereits Anschlüsse anbieten können, ist die Nachfrage gross. Dies bestätigt die städtische Haltung, auf eine Anschlusspflicht zu verzichten. Wir erhalten von Fernwärmekunden zudem ein positives Feedback, wonach das Wärmeangebot als «Sorglos-Paket» begrüsst wird. Die gute Resonanz unter Eigentümerinnen und Eigentümern der City-Liegenschaften gab schliesslich den Ausschlag, die Idee, die ganze Innenstadt mit Seewasser zu kühlen, weiterzuentwickeln.

Die Stadt Zürich betreibt ein eigenes Erdgasnetz. Wie sehr steht dieses dem Umbau der Wärmeversorgung im Weg?

Dort, wo thermische Netze entstehen, werden Gasverteilnetze stillgelegt. Ab 2040 soll es keine Erdgasversorgung mehr geben; davon ausgenommen sind einzig Gebiete, die vorderhand auf keine erneuerbaren Energieressourcen zurückgreifen oder an kein anderes Versorgungsnetz angeschlossen werden können. Allerdings werden wir dort Biogas oder in Zukunft eventuell auch synthetische Gase einsetzen müssen.

Die Stadtverwaltung selbst erarbeitet nur die Energieplanung. Umsetzen sollen den Netzausbau die Energieversorgungsunternehmen, die die Stadt selbst besitzt: das Elektrizitätswerk ewz als Elektrizitätsdienstleister und Wärmeverbundbetreiber, Entsorgung + Recycling Zürich ERZ als Fern­wärmelieferant und Energie 360°, das für Erdgas verantwortlich ist. Wie wird das koordiniert?

Mit dem geplanten Ausbau der thermischen Netze haben wir uns ein sehr ambitioniertes Ziel gesetzt. Deshalb brauchen wir das Know-how und die Ressourcen aller drei Unternehmen. Dass wir mehrere Energieversorger haben, die in der Lage sind, thermische Netze zu bauen und zu betreiben, ist ein Vorteil. Sie können uns für eine schnelle operative Umsetzung unterstützen. In Ergänzung dazu soll eine behördeninterne Geschäftsstelle Hauseigentümerinnen und -eigentümer sowie die Bevölkerung ab 2022 beraten.

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