Die Frei­heit vor und hin­ter Mau­ern

Publikationsdatum
24-05-2018
Revision
24-05-2018

Über dem Tor dieser Schule in Marseille hängt ein Schild mit der Parole der Revolution von 1789: «Liberté, Egalité, Fraternité.» Vor allem das erste Wort hat mich stutzig gemacht angesichts der mit einem Gitter überhöhten Mauer, dem Tor und der Abschrankung davor. Man kann einwenden, dass die Mauer nur gegen die Gefahr von aussen schütze; erst kürzlich wurde in Frankreich der Ausnahmezustand aufgehoben. Und das erste Wort auf dem Schild beziehe sich auf die geistige Freiheit.
Was genau mit «Liber­té» gemeint ist, weiss ich nicht – die Welt hat sich seit 1789 gewandelt. Ich frage mich aber, wie es um die Freiheit steht, wenn Schulen wie Gefängnisse aussehen – letztlich ist jede Mauer Ausdruck geistiger und realer Befangenheit. Mir fällt Friedrich Dürrenmatts Rede für Václav Havel ein: Er verglich die Schweiz mit einem Ge­fängnis, in dem alle Gefangene ihre eigenen Wärter sind. Vermutlich ist das in Frankreich nicht anders.
Dagegen stehen die Graffiti auf der Mauer für eine direkte Interpre­ta­tion des Begriffs: einen Moment dem Drang nachgeben und die eigene «Wahrheit» anbringen. Ob die Verfasser wohl ehemalige Schüler der Schule sind, die das Schild auf ihre Art und Weise interpretiert haben und sich so ein wenig für die Zeit hinter Gittern revanchieren?
 

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