«Ar­chi­tek­tur lässt sich nicht mit ei­nem ein­zi­gen Bild er­fas­sen»

Bruno Morassutti (1920–2008) arbeitete in den 1950er-Jahren als Fotograf bei Frank Lloyd Wright. Espazium.ch sprach mit dem Mailänder Architekten und Fotografen Marco Introini über Morassuttis Werk und das Wechselspiel zwischen Fotografie und Architektur, gestern und heute.

Publikationsdatum
20-03-2022


Francesca Acerboni: Beginnen wir bei Bruno Morassutti, der als frisch in Venedig diplomierter Architekt 1949 in die Vereinigten Staaten aufbricht und dort die Gelegenheit erhält, im Architekturbüro von Frank Lloyd Wright in Taliesin zu arbeiten. Er verbringt viel Zeit on the road auf der Suche nach den Werken des Meisters, auch mit den Mitteln der Fotografie.

Marco Introini: Morassutti ist ein junger Architekt, der fast im Geist eines Pioniers zu Frank Lloyd Wright in Taliesin in Arizona aufbricht. Er schiesst viele interessante Fotos. Manche sind im Studio von Wright selbst entstanden – man sieht Wright mit dem berühmten Hut –, andere stammen von seinen Reisen durch die Vereinigten Staaten.
Ein prächtiges Foto zeigt den Lieferwagen, den der Architekt in eine Art Camper verwandelt hat. Fast in den gleichen Jahren unternimmt auch der Mailänder Architekt Luigi Figini (1903–1984), im Gegensatz zum jungen Morassutti bereits anerkannt, eine Reise in die Vereinigten Staaten. Dabei ist die unterschiedliche Motivwahl der beiden Architekten interessant: Figini hält in seinen Bildern New York und die Bauten der Schule von Chicago fest, während Morassutti Wright fotografiert. Diese Fotos werden in den Zeitschriften Domus und Casabella publiziert.


Es handelt sich um Fotos, die circa 70 Jahre alt sind. Hat man sie für den heutigen Gebrauch restauriert?

Diese Fotografien wurden mit digitaler Technologie vom Archivio Progetti der Universität Venedig sehr gut restauriert. Man hat sie gereinigt und die Farben restauriert, ohne dabei jedoch zu übertreiben und ohne den Bildern die Patina der Entstehungszeit zu rauben.
Die Architekten benutzten damals fast alle denselben Fotoapparat: die zweiäugige Spiegelreflexkamera Rolleiflex, ein kompaktes und einfach zu bedienendes Modell, das hohe Qualität garantiert. Auch heute noch ist dieses Modell ein hervorragender Fotoapparat. Man benutzte dafür einen 6 x 6 cm-Film bzw. ein quadratisches Format, das relativ schwierig zu verwenden ist. Man muss den Akzent auf die Symmetrien setzten – oben/unten, rechts/links: ein sehr komplexes Format, das die Architekten sehr schätzten und auch heute noch gerne verwenden.
Anspruchsvollere Architekten benutzten Apparate der Marke Hasselblad. Die Objektive konnte man wechseln, aber sie waren schwer und somit nicht gut zum Reisen geeignet.


Welche Rolle spielte in jenen Jahren die Architekturfotografie? Und wie fotografierte Morassutti – als Architekt oder als Fotograf?

In Italien waren Giorgio Casali (1913–1995) und Paolo Monti (1908–1982) die wichtigsten Vertreter der Architekturfotografie, sie arbeiteten hauptsächlich für Zeitschriften. Gio Ponti, der Direktor der Zeitschrift Domus, erklärte, er selbst habe Casali das Fotografieren beigebracht. Die Architekten hingegen benutzten die Fotografie primär zur Dokumentation ihrer Projekte. Unter diesem Aspekt diente die Fotografie als Mittel der Information, das zum Einsatz kam, um eigene Bauten abzubilden oder solche, die ihnen auffielen. Aus den 1950er- und 1960er-Jahren findet man viele Fotografiebestände in den Archiven der Architekten. Dabei handelte es sich um Studienreisen, die sie fotografisch sorgfältig dokumentierten. Morassutti jedoch fotografierte auch für Zeitschriften und er ging in seiner Arbeit sehr sorgfältig vor.

Als ersten Fotografen/Architekten kann man John Ruskin betrachten, der in Venedig viele Fotos schoss, die er für sein Buch «The Seven Lamps of Architecture» nutzte. Auch Le Corbusier setzte auf seinen Reisen die Fotografie zu Studienzwecken und als Arbeitsinstrument ein. Wenn die Architekten heute zum Fotografieren zu ihrem Mobiltelefon greifen, sind die so entstandenen Bilder zwar von guter Qualität, aber es handelt sich dabei um Fotos, die ein einzelnes Gebäude oder ein Detail davon dokumentieren, nicht aber den Gesamtraum oder die Wirkung der Architektur darin.


Sie unterrichten Architekturfotografie am Mailänder Polytechnikum. Welche Rolle spielt die Architekturfotografie innerhalb der Disziplin?

2015 und 2016 haben mich die Region Lombardei sowie das italienische Kultusministerium MIBAC mit einer Fotokampagne beauftragt, in der die Dokumentation von Nachkriegsarchitektur im Zentrum stand. Dabei handelt es sich um Bauten, die vom Vergessen bedroht sind, da sie nie unter Schutz gestellt wurden. Zweck dieses Projekts war es, ein Archiv aufzubauen, um so auf das Problem der Restaurierung und der Konservierung dieser Nachkriegsarchitektur der Moderne aufmerksam zu machen. Dabei handelt es sich um eine besonders vernachlässigte Phase, obschon gerade sie Form und Gestalt die Stadt Mailand mitgeprägt hat. Gefährdet ist zum Beispiel ein Gebäude wie der Wohnblock INA Casa von Piero Bottoni.
Die Dokumentation dient also der Konstruktion eines Gedächtnisses und nicht einer einzelnen Erinnerung, zwei sehr unterschiedliche Ansätze: Die Erinnerung ist von nostalgischen Gefühlen geprägt, während das Gedächtnis das Fundament bildet, von dem man ausgehen muss und an dem sich die Weiterentwicklung des städtischen Raumes zu orientieren hat. Nicht alles kann und muss erhalten werden. Dies käme einem Anhalten der Zeit gleich.


Wie ist das Verhältnis zwischen Architektur und Fotografie, in der Vergangenheit, aber auch in Ihrer Arbeit?

Aus historischer Sicht entsteht die Fotografie aus der Architektur, schon allein aus einem technischen Grund: die Beleuchtungszeiten waren sehr lang – Minuten oder gar Stunden– und die Architektur hatte den Vorteil, dass sie am Ort verharrt und sich nicht bewegt. So entwickelt sich mit der Fotografie auch ihre Beziehung zur Darstellung von Architektur. Die Fotografie nimmt damit eine unverzichtbare Rolle in diesem Wechselspiel ein.

Im Jahr 1851 wurde in Frankreich die Mission héliographique ins Leben gerufen, ein Projekt, dessen Ziel es war, den Zustand des Denkmälerbestands zu dokumentieren und Massnahmen zur Restaurierung einzuleiten. Damit wurden die Weichen für einen Prozess gestellt, der bis heute andauert.
Was meine Arbeit betrifft, bevorzuge ich es, eher von der «Darstellung des Raumes» als von der «Darstellung der Architektur» zu sprechen. Was im Vordergrund steht, ist das reale Verhältnis und seine Wahrnehmung: den Abstand, den du vom architektonischen Objekt erreichen kannst oder die Schwierigkeiten, die sich beim Betrachten stellen. Aus einer engen Strasse beispielsweise gewinnt man keinen Gesamtüberblick, sondern nur eine Teilansicht. Einer solchen Wahrnehmung muss die Fotografie nachspüren. Die Architektur lässt sich nicht mit einem einzigen Bild erfassen, es benötigt eine ganze Sequenz von Fotos, insbesondere um ihre Einbindung im Raum nachzuvollziehen.

 

Marco Introini, Architekt und Dokumentarfotograf, lehrt Architekturfotografie am Politechnikum in Mailand. Unter seinen neueren Arbeiten: «Repubbliche Marinare», gezeigt an der Architektur-Biennale in Pisa, kuratiert von Alfonso Femia (2019) und Mantova Imago Urbis (2018). Weitere Infos: www.marcointroini.net

 

 

Zum Werk von Bruno Morassutti: www.brunomorassuttiproject.it

 

Publikationen

A. Colombo, F. Scullica, Bruno Morassutti 100+1! La cultura del progetto in Italia dal secondo dopoguerra. Electa, Milano 2021.

 

Angelo Maggi, The American Journey, Bruno Morassutti e Frank Lloyd Wright. Lettera 22, Siracusa 2019.

 

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