«Du kannst dei­nen Job wech­seln, aber un­ter kei­nen Um­stän­den dei­ne Woh­nung»

IBA’27 StadtRegion Stuttgart

Der hundertste Geburtstag der Stuttgarter Weissenhofsiedlung ist  Anlass und Ausgangspunkt der zweiten internationalen Bauausstellung in der Region Stuttgart. Im Fokus steht die Frage: Wie wollen wir zukünftig leben, wohnen und arbeiten? TEC21 sprach mit Andreas Hofer, dem Intendanten der Ausstellung, über die IBA’27.

Publikationsdatum
12-07-2023

Die Wohn- und Baugenossenschaften Kraftwerk1 und «mehr als wohnen« in Zürich zeigen, wie eine soziale und funktionale Mischung gelingen kann – von Anfang an dabei der Architekt Andreas Hofer. Die Region Stuttgart wünscht sich auf ihren Arealen Nutzungsvielfalt statt reiner Gewerbegebiete – auch hier möchte Andreas Hofer wegweisende Projekte anstossen, dies in seiner Funktion als Intendant der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (vgl. Infobox unten). Beim Gespräch dabei war auch Pressesprecher und Geograf Tobias Schiller, der die IBA seit ihren Anfängen begleitet und als ehemaliger Mitarbeiter der Wirtschaftsförderung mit der Region bestens vertraut ist.


Herr Hofer, die Leserinnen und Leser von TEC21 kennen Sie im Zusammenhang mit Projekten rund um das genossenschaftliche Bauen mehrheitlich in Zürich. Wie kommt es, dass Sie nun in Stuttgart arbeiten?

Andreas Hofer: Zu Beginn der IBA’27 hat man in Stuttgart entschieden, jemanden externen zu engagieren, der bei der Durchführung unterstützt und man schrieb die Stelle europaweit aus. Ich wurde angefragt, mich zu bewerben. Mit meinen grossen Projekten habe ich immer schon an der Frage nach der Entwicklung der Stadt, der Dichte, der Quartierqualität und der Mischung gearbeitet. Heute bin ich als Intendant und Geschäftsführer für die inhaltliche Leitung der IBA’27 zuständig. Für die wirtschaftlichen Bereiche ist die kaufmännische Geschäftsführerin Karin Lang verantwortlich. Wir werden von einem interdisziplinären Expertenteam aus der Architektur, Geografie, Kommunikation, Stadtplanung und -forschung sowie Szenografie unterstützt. Meine persönliche IBA-Geschichte reicht aber weiter zurück. Ich habe 1986/1987 in Berlin gewohnt, als dort die IBA stattfand. Als junger Architekt habe ich die damaligen Diskussionen zur Stadterneuerung verfolgt, was meine Arbeit stark beeinflusst hat.


Herr Schiller, Sie kennen die Region sehr gut. Warum braucht Stuttgart eine Bauausstellung?

Tobias Schiller: Die Region ist ein dicht besiedelter, von der Automobilbranche geprägter Industriestandort. Man findet in vielen Städten und Dörfern immer wieder Firmen, die in irgendeiner Nische Weltmarktführer sind. Und die derzeit händeringend nach Flächen und Fachkräften suchen, andererseits aber in einem tiefgreifenden Wandel stecken. Es geht um die Transformation dieser Industrieregion, mit der sich auch wichtige ökologische und soziale Fragen verbinden, etwa die nach bezahlbarem Wohnraum.

Andreas Hofer: Die Nachkriegsgeneration, die den Wohlstand in der Region aufgebaut hat, geht nun in Rente, wohnt aber weiterhin im Einfamilienhäuschen. Wir fragen uns: Wo haben zusätzliche Personen Platz? Auch im Gewerbegebiet? Da kommt man auf Clusterwohnungen, Mikroapartments im industriellen Kontext oder neue Formen der Werkswohnungen. Der grösste Hinderungsgrund bei der Fachkräfterekrutierung ist die Wohnungsnot.

Tobias Schiller: Die strukturellen Veränderungen der Region verlangen ein Umdenken. Eine IBA kann dabei helfen, einen Turnaround anzustossen.


Die Schlusspräsentation der IBA im Jahr 2027 fällt mit dem 100. Geburtstag der Werkbundsiedlung am Weissenhof zusammen. Zufall?

Tobias Schiller: Das war natürlich ein Geschenk. Eine gute Geschichte. Aber der Ort, die Region Stuttgart und der Zeitpunkt sind günstig, um einen Schritt in ein neues städtebauliches Denken zu gehen. Unsere Projekte sind zumeist Urbane Gebiete (Seit 2017 kennt das deutsche Baurecht das urbane Gebiet. Erleichterungen beim Schallschutz, hohe Dichten und reduzierte Abstandsvorschriften sollen Mischnutzungen mit städtischen Qualitäten ermöglichen. Anm. der Red.). Hier können wir Wohnen und Arbeiten zusammenbringen, im Quartiermassstab arbeiten und dabei Synergien nutzen, Wege kurzhalten, effiziente Energiesysteme einsetzen und auf knapper Fläche viel Raum schaffen.


Wie kamen Sie zu den Projekten?

Andreas Hofer: Als ich 2018 meine Stelle antrat, hiess es, die Region sei voll. Es gibt keinen Quadratmeter Bauland, man kann gar nichts machen. Wir gingen mit einem sehr offenen Aufruf an die Öffentlichkeit: Meldet eure Projekte, Grundstücke oder Ideen, die sich ernsthaft mit Zukunftsfähigkeit befassen. Ich habe mit sehr vielen Einzelobjekten gerechnet und vielleicht vier oder fünf grossen Projekten. Diese Einschätzung hat sich nicht bewahrheitet. Wir haben heute 17 IBA-Projekte und alle sind mehrere Hektar grosse Quartiere. Wir schliessen das Qualifizierungsverfahren nun langsam ab, da uns die Projektperspektive bis zum Ausstellungsjahr 2027 wichtig ist.


Tobias Schiller: Wichtig ist noch: Die IBA’27 wurde von der Stadt und der Region Stuttgart, der Universität, der Architektenkammer und weiteren Beteiligten als GmbH gegründet und ist als Institution über zehn Jahre finanziell abgesichert. Aber wir bauen nicht selbst und verteilen keine Fördergelder.


Um welche Art von Arealen handelt es sich? In Stuttgart liegt die Vermutung nahe, dass es hauptsächlich um die Automobilindustrie geht.

Andreas Hofer: Die Autoindustrie ist nicht dabei. Die meisten Flächen sind Konversionsgebiete etwa der ehemaligen Textil- oder Lederindustrie. Es gibt aber auch bestehende Gewerbe- und Wohngebiete, die umgebaut werden. Für die Kommunen ist mit der IBA der richtige Moment gekommen, um diese Aufgaben in die Hand zu nehmen und die darin steckenden Flächenpotenziale zu heben. Wir treten dabei als Vermittler auf und unterstützen fachlich.


Sie haben sich in der Schweiz ebenfalls mit der Transformation von Industriegebieten beschäftigt. Was ist neu?

Andreas Hofer: Wir haben uns in Baden, Winterthur oder Oerlikon mit den Folgen der Deindustrialisierung beschäftigt. Hier gibt es eine nach wie vor lebendige Industrie. Wir versuchen daher, eine neue Form für die Weiterentwicklung von Arealen mit Verdichtungspotenzial zu finden und Wohnen und Arbeiten zusammenzubringen. Bezahlbarer und passender Wohnraum ist Mangelware. Die Leute sind quasi eingefroren in ihren Wohnungen. Es gilt die Devise: «Du kannst deinen Job wechseln, aber nicht deine Wohnung – unter keinen Umständen.» Hier entstehen nun also gemischte Gebiete, oft aber mit deutlichem Gewerbeschwerpunkt. Das ist ein völlig neues Thema.


Wie gehen Sie und Ihre Partner vor?

Andreas Hofer: Wir entwickeln jeweils gemeinsam mit den Projektträgern ein passendes Verfahren. Meist versuchen wir internationale Architekturwettbewerbe durchzuführen und mit offenen Verfahren auch einer jungen Generation eine Chance zu geben. Die Qualitäten orientieren sich an den Nachhaltigkeitszielen sowie baukulturellen und prozessualen Themen, die wir in einer Vereinbarung festhalten. In den vergangenen zwei Jahren haben wir 15 Architekturwettbewerbe durchgeführt und waren an 25 weiteren beteiligt.


Gibt es ein konkretes Beispiel?

Tobias Schiller: Auf dem Areal der Neckarspinnerei in Wendlingen stehen denkmalgeschützte Industriegebäude und ein eigenes Wasserkraftwerk. Das Gelände war planungsrechtlich ein reines Gewerbegebiet. Mit der IBA konnte man in der Kommune die Diskussion führen, dass das Areal neben der gewerblichen Nutzung auch für das Wohnen zur Verfügung stehen sollte. Die Besitzer haben mit uns einen Wettbewerb ausgeschrieben. Neben dem Umbau des Bestands werden nun Gewerbebauten in einem Umfang wie ursprünglich vorgesehen erstellt – es kommen nun aber zusätzlich noch 30 % der Geschossfläche für Wohnen hinzu.

Andreas Hofer: Wenn wir mit solchen Projekten die einfachen monofunktionalen Konzepte verlassen, wird die Projektentwicklung allerdings komplexer. Das geht über das Bauliche hinaus.


Inwiefern?

Andreas Hofer: Weil die veränderte Perspektive plötzlich alle vertrauten Vorgehensweisen in Frage stellt. Wie entwickelt sich zum Beispiel ein Anbieter von preisgünstigem Wohnraum, wie die Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft SWSG, die rund 19'000 Wohnungen in der Stadt betreut? Nun baut sie in einem IBA-Projekt mit 420 Wohnungen 13 Häuser neu. Eines davon hat sie uns als IBA-Haus zur Verfügung gestellt. Hier darf experimentiert werden: barrierefreies, altersgerechtes, temporäres, gemeinschaftliches oder flexibles Wohnen. Interessanterweise sind viele Ideen während des Planungsprozesses aus diesem Experimentierhaus in die anderen zwölf diffundiert. Das zeigt, wie IBA funktionieren kann.


Die IBA ist auf zehn Jahre ausgelegt. Das ist wenig, um zu bauen.

Andreas Hofer: Dieser Ausnahmezustand auf Zeit birgt eine gewisse Ambivalenz. Einerseits gibt es den Anspruch, Dinge ausserhalb der gängigen Systeme zu machen. Aber beim Bauen gibt es trotzdem keinen geschützten Raum. Die Normen, Regeln etc. müssen auch bei einer IBA eingehalten werden und die Gebäude sollen langfristig bestehen. Es gibt einen Graubereich, aber die groben rechtlichen Rahmenbedingungen können wir nicht aushebeln. Die Planungsabläufe und Prozesse dauern in der heutigen Gesellschaft sehr lange. In Bezug auf die IBA kommen wir tatsächlich an die zeitliche Grenze. Zehn Jahre sind für einen Hausbau in Deutschland heute schon fast unrealistisch. Wenn eine Gesellschaft es in zehn Jahren nicht mehr schafft, baulich auf neue Herausforderungen zu reagieren, hat sie natürlich ein Problem. Ein wenig kommt der zeitliche Rahmen den Trägern der IBA-Projekte aber zugute: Sie können die Beschränkung von zehn Jahren strategisch geschickt als sanftes Druckmittel nutzen: 2027 soll ja etwas zu sehen sein.


Bis 23. Juli läuft die Zwischenpräsentation. Was gibt es zu sehen?

Tobias Schiller: Wir haben aus einer Zwischenpräsentation ein ganzes Festival gemacht, das sich vor allem an das hiesige Publikum richtet. Es gibt in der ganzen Region Ausstellungen, Workshops, Strassenfeste, Führungen, Diskussionen – das volle Programm.

Andreas Hofer: Wir haben von Anfang an einen partizipativen Prozess gepflegt. Trotzdem ist es noch so, wenn man auf dem Rathausplatz fragt, wissen 90 % der Menschen nicht, was die IBA’27 ist. Das Dilemma des langen Vorlaufs ist, dass wir das stärkste Argument einer internationalen Bauausstellung, das gebaute Beispiel, noch nicht präsentieren können. Wir haben bis jetzt einen Fachdiskurs geführt und waren in den Projektkommunen präsent. Mit dem Festival ändert sich das aber nun spürbar und wir hoffen, dass die IBA als Zukunftschance in der gesellschaftlichen Breite ankommt.


Das heisst, Sie müssen jetzt mit Hochdruck bauen?

Andreas Hofer: Das ist die grosse Hoffnung. Wir werden aber nicht alle Bauprojekte bis 2027 abgeschlossen haben. Zum Beispiel beim Krankenhausareal in Sindelfingen. Das ist eine ähnliche Situation wie bei der Umnutzung des Felix-Platter-Spitals in Basel. Das bisherige Krankenhaus zieht aus seinem Gebäude aus, der Neubau des Grossklinikums ist aber frühestens 2025 fertig. Da wird 2027 also vermutlich noch nichts Gebautes zu sehen sein. Wir werden jedoch den Prozess, wie man eine Struktur aus den 1970er-Jahren transformieren kann, begleiten und dokumentieren.


Tobias Schiller: Die aktuelle Krisensituation, steigende Baupreise, fehlende Materialien und Fachkräfte machen uns ebenfalls zu schaffen. Das Ausmass der veränderten Rahmenbedingungen gefährdet die Bauwirtschaft als Ganzes. Diese Krisensituation ist aber natürlich auch Teil der Geschichte dieser IBA.


Herr Hofer, eine persönliche Frage zum Schluss. Fehlt Ihnen im Vergleich zu Zürich etwas in Stuttgart, und wenn ja, was?

Andreas Hofer: Ganz klar der Bezug zum Wasser. Der Neckar fliesst an Stuttgart vorbei. Die Qualität des Wassers und die Nutzung als Wasserstrasse verhindern das Baden. Das kennen wir in der Schweiz so nicht. Der Fluss ist ein technischer Kanal, an dem sich die Industrie entwickelte. Da frage ich mich schon, ob man da irgendwie drankommt. Das hat eine biologisch-ökologische, aber auch eine lebensweltliche Komponente. Der Einbezug des Neckars ist ein wichtiger Teil der Identität dieser Region.

IBA’27 StadtRegion Stuttgart

 

In der Region Stuttgart wächst derzeit ein dichtes Netz von unterschiedlichen Projekten, die Antworten auf die Frage nach der Zukunftsfähigkeit vorhandener Formen des Zusammenlebens suchen. Wie kann die Stadt in einen lebenswerten und zukunftsfähigen Raum transformiert werden? Braucht es radikale Veränderungen bisheriger Wohntypologien, Mobilitätsansprüche und Infrastrukturüberlegungen?

 

Diese Fragen stellte man sich in Stuttgart vor fast hundert Jahren schon einmal. Die weit über Architekturkreise hinaus bekannte Weissenhofsiedlung wurde 1927 als Teil einer Ausstellung vom Deutschen Werkbund initiiert. In nur einem Jahr Planungs- und Bauzeit entstanden 21 Häuser mit 63 Wohnungen. Die hier gesetzten Massstäbe entwickelten sich über die Charta von Athen zum universellen Anspruch der Moderne. Nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltete sie ihre ganze Wucht: beim Wiederaufbau der zerstörten Städte, in Trabantenstädten und dem Umbau der Innenstädte zu autogerechten Räumen. Die grossen Gebäudekomplexe der 1960er- und 1970er-Jahre waren Höhe- und gleichzeitig Endpunkt dieser Entwicklung. Seither ringen wir mit dem Erbe dieses kurzen, modernen zwanzigsten Jahrhunderts, wie es auf der Website der IBA’27 heisst.

 

Und weiter: Neben dem Erhalt einer baukulturell wichtigen Epoche wie bereits verbauter «grauer» Energie inspirieren uns dabei die häufig vergessenen sozialen Ansprüche der Moderne, beispielsweise ihre gemeinschaftlichen Wohnexperimente. Im kleinen Massstab und im Hinblick auf das Präsentationsjahr 2027 stellen sich diese Fragen auch auf dem Weissenhof. Kriegszerstörungen, Überformungen und nicht immer glückliche bauliche Entwicklungen im Umfeld machen den Weissenhof zu einem Symbol einer widersprüchlichen Epoche.

 

Die IBA’27 Stadtregion Stuttgart beschäftigt sich neben dem Erbe der Moderne oder dem Umgang mit der Weissenhofsiedlung mit vier weiteren Themenfeldern:

 

Die produktive Stadt
Die Produktion kehrt in die Stadt zurück und Industrieareale werden zu Stadtbausteinen. Dieser Paradigmenwechsel hat weitreichende Folgen für die Stadtstruktur. In vielen Punkten sind Planungsrecht und Investorenlogik noch nicht auf diese neuen Formen eingestellt. Eine IBA sei das richtige Format, um eine Wende einzuleiten, sind die Initiatoren überzeugt.

 

Die Zukunft der Zentren
Durch grosse Einkaufszentren vor der Stadt, Onlinehandel und veränderte Einkaufsgewohnheiten sind die Innenstädte unter Druck geraten. Einige Kommunen in der Region Stuttgart suchen zusammen mit der IBA’27 nach neuen Strategien, um Orte der Begegnung, Identitätsstiftung und des gesellschaftlichen Zusammenhalts neu zu definieren.

 

Orte der Bewegung und Begegnung
Als Bauausstellung fokussiert sich die IBA’27 beim Thema »Mobilität« auf die räumlichen Auswirkungen bei den Knoten des öffentlichen Verkehrs. Diese sind im S-Bahn-Netz häufig reine Halte-, Ein- und Ausstiegspunkte, umgeben von Busbahnhöfen und Park-and-ride-Anlagen mit minimaler Infrastruktur. Abgesehen vom funktionalen Druck, den steigende Passagierzahlen auslösen, haben diese Bahnhöfe ein grosses Verdichtungspotenzial.

 

Der Neckar als Lebensraum
Die Rückgewinnung des Neckars und seiner Nebenflüsse als Lebensraum und identitätsstiftendes Band der Region Stuttgart ist eine Generationenaufgabe. Die IBA’27 will mit Pilotprojekten die Transformierbarkeit des Flusses beweisen und seinen ökologischen Umbau weiter vorantreiben.