Offener Brief Sozialwissenschaften an Architekt:innen und Auftraggeber:innen
Aufgepasst bei der Partner:innenwahl oder: Wie sollen Architektur und Sozialwissenschaft zusammenkommen?
Die folgende Szene spielt in Zürich, ist fiktiv, aber alltäglich. Heidi A. sitzt am Computer, ihr Handy klingelt. Am anderen Ende ist Maurice F. vom Architekt:innenkollektiv Team3: «Hey, unser Büro will sich an der PQ für den Studienauftrag Höhenfluh beteiligen. Wir brauchen noch eine Person für den Sozialraum. Was denkst du, machst du mit?» Heidi A.: «Danke, freut mich total, dass ihr mich anfragt, echt super! Aber sorry: Ihr seid das dritte Büro, das mich allein heute kontaktiert und ich habe schon einem anderen Team zugesagt.» Maurice: «Aha, okay – aber Mehrfachbewerbungen sind erlaubt. Kannst du nicht trotzdem bei uns mitmachen? Der Aufwand ist nicht gross und nachher schauen wir dann, wie wir uns organisieren.» So oder ähnlich spielt sich die Partner:innenwahl regelmässig ab.
Zunächst: Wir schätzen es sehr, dass die Bedürfnisse der Nutzer:innen und die sozialräumliche Perspektive in Planungsverfahren an Bedeutung gewinnen und unsere fachliche Expertise vermehrt nachgefragt wird. Gerade deswegen möchten wir klären, was diese Expertise leisten kann, und was nicht.
Wir beobachten: Immer mehr Auftraggeber:innen und Programmentwickler:innen von Planungs- und Architekturprojekten sehen die Notwendigkeit, in Innenentwicklungsprozessen die Perspektiven der bestehenden und zukünftigen Nutzer:innen zu berücksichtigen. So gelingt es eher, Konfliktpotenziale zu entschärfen und langfristige Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Dazu ist sozialwissenschaftliche Expertise nötig. Wir meinen aber: Um möglichst viele Vorteile für möglichst viele Menschen zu erreichen, müssen der Einbezug und die Vorgehensweisen, die Potenziale und auch die Grenzen dessen, was sich mit räumlichen Mitteln gesellschaftlich erreichen lässt, möglichst früh geklärt werden. Am besten schon vor der Programmformulierung an einem Tisch mit den jeweiligen Expert:innen. Bereits an diesen Tisch gehören Sozialwissenschaftler:innen.
Uns fällt auf: In vielen Prozessen ist der fachliche Blick der Sozialwissenschaften lediglich auf der Stufe Qualifikationsverfahren gefragt. Wir meinen aber: Wenn sozialwissenschaftliche Expertise nicht über Entwurf und Planung hinaus in die Ausführung und den Betrieb mitgenommen wird, geht die Qualitätssicherung im Prozess verloren; ganz besonders bei Richtungsänderungen oder Weiterentwicklungen, die angesichts des dynamischen gesellschaftlichen Wandels richtigerweise immer häufiger vorkommen.
Wir beobachten mit Unbehagen: Für Planungsteams besteht ein Missverhältnis zwischen dem Angebot an Fachleuten Sozialwissenschaften und der Nachfrage nach ihnen. Das benachteiligt junge Teams mit wenig Erfahrung und kleinen Netzwerken, denn für die Sozialwissenschaftler:innen ist es rationaler, sich mit erfahrenen Teams und entsprechenden Referenzen zu bewerben. Die Erfolgschancen sind schlicht grösser. Wir möchten erklären: Die vermeintliche Lösung des Nachfrageüberhangs, für Fachleute der Sozialwissenschaften Mehrfachbewerbungen zu ermöglichen, beruht auf einem Missverständnis. Sozialwissenschaftliche Expertise bietet nicht einfach teamunabhängige Standardlösungen an, die replizierbar sind. Vielmehr entwickeln wir situations- und kontextspezifisch im interdisziplinären Prozess Vorgehens- und Lösungsvorschläge, und zwar am Tisch, zusammen mit Architektinnen, Landschaftsarchitekten, Verkehrsplanerinnen, Nachhaltigkeitsexperten, Ingenieurinnen, Künstlern und Haustechnikerinnen.
Kommt hinzu: Die Methoden, die wir einsetzen, sind je nach Ausgangsfrage und Fachperson unterschiedlich. Wir unterstützen die Kooperation im Planungsteam, wir holen die Nutzer:innenperspektiven ein; wir recherchieren, führen Interviews, beobachten und bringen ausgewertete Ergebnisse in den Entwurfsprozess und vertreten sie anwaltschaftlich über den Prozess hinweg; wir helfen beim Schärfen, Beschreiben und Erklären der Entwurfsideen. Zuweilen stellen wir die Aufgabenstellung fundamental in Frage und öffnen neue Denkräume. So wie acht präqualifizierte Architekturbüros achtmal unterschiedlich auf die gleiche Aufgabe eingehen, tun dies auch acht Sozialwissenschaftler:innen. Dass dies gut und richtig ist, müssen wir nicht erklären. Eine möglichst grosse Bandbreite an Ergebnissen zu erzielen, ist ja das Ziel von Selektionsverfahren.
Was wir uns wünschen:
- Programme, die klären, mit welchem Ziel sozialwissenschaftliche Expertise einbezogen werden soll. Wir helfen gerne, diese bereits in der Ideen- und Programmentwicklungsphase zu formulieren. Dafür verfügen wir über einen breiten Erfahrungsschatz, den wir bereitwillig zugänglich machen.
- Jurys, in denen die sozialwissenschaftliche Expertise gleichberechtigt dabei ist und in den Debatten um die Rangierung – welches Projekt landet warum auf welchem Platz und Rang – mitentscheidet.
- Ein erweitertes Prozessverständnis: Sozialwissenschaftliche Expertise braucht es von A wie «am Anfang steht das Aushandeln der Aufgabe» bis W wie «Wirkungsanalyse: Was lernen wir aus dem zustande gekommenen Projekt für weitere Prozesse?». Je nach Prozessfokus sind andere sozialwissenschaftliche Zugänge und Wissensbestände gefragt.
- Ein «Problem-Finding», das im interdisziplinären Prozess herausgearbeitet wird: Wenn wir gemeinsam das Problem und mögliche Lösungen dafür ausloten, entstehen robustere und auf allen Dimensionen nachhaltigere Projekte.
Darum: Wir freuen uns über das Interesse, und wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit. Wir können viel voneinander lernen!
Unterzeichner:innen aus dem Netzwerk von Fachpersonen Sozialwissenschaft in Architektur und Planung:
Cornelia Alb, Albprojekte Raum.Mensch.Kultur, Zürich
Eveline Althaus, Sozialanthropologin, Bern
Philippe Cabane, Soziologie und städtebauliche Prozesse, Basel
Gabriela Debrunner, Institute for Spatial and Landscape Development, ETH Zürich
Barbara Emmenegger, Soziologie und Raum, Zürich
Sanna Frischknecht, Soziologin, Bern
Stephanie Hering, sofa*p | Soziologie für Architektur und Planung, Zürich
Alice Hollenstein, Urban Psychology, Zürich
Philippe Koch, Professor für Stadtpolitik und urbane Prozesse ZHAW, Winterthur
Isabel Marty, Fachstelle Sozialplanung Stadt Bern
Sabina Ruff, Laboratorium für Zukunftsgestaltung, Zürich
Christina Schumacher, sofa*p | Soziologie für Architektur und Planung, Zürich
Claudia Thiesen, Thiesen & Wolf, Zürich
Sabeth Tödtli, Urban Equipe, Zürich
Stephanie Weiss, Dozentin und Projektleiterin Institut Soziokulturelle Entwicklung, Hochschule Luzern
Sabine Wolf, Thiesen & Wolf, Zürich
Peter Zeugin, Soziologe, Zeugin-Gölker Immobilienstrategien, Zürich