Ler­nen von Scha­roun

Die Philharmonie in Berlin mit ihrer golden schimmernden Aussenhaut, dem geschwungenen Zeltdach und dem polygonalen Konzertsaal ist der wohl bekannteste Bau des Architekten Hans Scharoun (1893–1972). Doch sein Werk umfasst noch viel mehr: Kirchen, Bibliotheken, Theater, Museen und Wohnungsbauten. Rechtzeitig zu seinem 50. Todestag liegt nun eine knapp 500 Seiten umfassende Monografie über Scharouns gebautes Werk vor.

Date de publication
14-02-2023

Die neue Publikation entstand in über zehnjähriger intensiver Auseinandersetzung mit dem Werk und der Person von Scharoun. Erstmals werden darin alle 32 erhaltenen Gebäude Scharouns im Detail vorgestellt – von Ikonen wie der Philharmonie und dem Haus Schminke in Löbau bis zu weniger bekannten Bauten wie dem Haus Mattern in Potsdam-Bornim.

Der französische Architekturfotograf Philippe Ruault reiste dafür zwischen 2012 und 2020 an die Orte von Scharouns Werk, von Stuttgart über Bremerhaven bis Berlin. Jedes Projekt ist eingefasst von ausgedehnten Fotostrecken, rund 180 neu gezeichneten Plänen und ausführlichen Texten. Herausgeber, Autor und Architekt Ralf Bock las dafür Scharouns Texte neu, befasste sich intensiv mit der von Scharoun entwickelten Entwurfsmethode des «Gestaltfindens» und sprach mit den heutigen Nutzer:innen der Gebäude.

Ein eigener Weg

Unter den Architekten der Moderne gilt Scharoun als Aussenseiter. Als Verfechter eines sogenannten «organischen Funktionalismus» war er ein Visionär, der bis heute mit seinem Werk Architekt:innen auf der ganzen Welt inspiriert. Der neue Band folgt zunächst biografisch seinem Leben in verschiedenen Gesellschaftssystemen – von seinem Beitritt zu Bruno Tauts Künstler- und Architektenvereinigung «Gläserne Kette» über sein Mitwirken am Wiederaufbau in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Bauen für die neue Demokratie.

Bock begibt sich in weiteren Kapiteln auf eine akribische Spurensuche, die den intellektuellen und weltanschaulichen Grundlagen von Scharoun folgen, die Einflüsse von Goethe, Paul Klee, dem Architekten Hugo Häring und dem Philosophen Jean Gebser beleuchten, Scharouns gemeinsam mit den Gartenplanern Herta Hammerbacher und Hermann Mattern entwickelte gleichberechtige Zusammenarbeit von Architekt und Gartenplanern – eine Symbiose von Natur und Architektur – und Scharouns Überlegungen zu Einfamilienhäusern und Wohngehöften.

Visionär und aktuell

Man findet im Band allerlei Erhellendes, wie beispielsweise zu Scharouns Überlegungen zum grossstädtischen Wohnen. In seinem Spätwerk interpretierte er seine Wohnhochhäuser-Anlagen in Stuttgart und Berlin als vertikale Wohngehöfte. In der Wohnhochhaus-Gruppe «Romeo und Julia» (Stuttgart 1954–61) zeigt sich seine Idee vom «Bauen für die Demokratie» deutlich: Als gebaute Antithese zum gerasterten funktionalen Wohnungsbau der Zeit nimmt Scharoun den Menschen als Individuum in einer Gemeinschaft wahr. Er möchte den Bewohner:innen ein Gefühl von Weite und Geborgenheit geben – ein Prinzip, das er schon früh bei seine Einfamilienhäusern entwickelt hatte.

Scharouns Wohngehöfte haben eine offene und helle Erschliessung. Die Wohnungen verfügen über grosse Flexibilität, da für Scharoun Wohnen ein Prozess darstellt, der ständigen Veränderungen unterworfen ist. Dazu gehören das Verbinden und Trennen von Zimmern und Raumnischen je nach Lebenssituation. Ein weiteres grosses Thema, das ihn beschäftigte, war die nachbarschaftliche Gemeinschaftsbildung. So schaffen hier halböffentliche Räume Möglichkeiten, damit Nachbarschaft in den Gebäuden und um sie herum entstehen kann.

Nicht zuletzt in Gedanken wie diesen zeigt sich die Bedeutung von Scharouns Werk heute. So ist der Band nicht ein weiteres Werk über diesen Meister der Moderne – es ist nichts weniger als ein substanzielles Grundlagenwerk.

Ralf Bock: Hans Scharoun. Gestalt finden. Park Books, Zürich 2022. 488 S., 696 farbige und 192 sw-Abbildungen und Pläne, 24 x 30 cm, ISBN 978-3-03860-289-7, Fr. 75.–

 

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