Für eine Ar­chi­tek­tur, die sich unent­behr­lich macht

Dass es die «Autonomie der Architektur», wie sie in Theorie, Geschichte und Lehre vermittelt wird, seiner Ansicht nach nicht gibt, bildete für Stefan Kurath den Ausgangspunkt, sich vertieft mit der Wirkung und den Möglichkeiten der architektonischen Praxis auseinanderzusetzen. Die Ergebnisse und seine individuelle Position, die er daraus entwickelt hat, füllen nun die Seiten einer lesenswerten Neuerscheinung.

Date de publication
14-04-2022

Schon nach der Lektüre weniger Sätze ist man so in den Bann dieses Buchs gezogen, dass man es am liebsten gar nicht mehr aus der Hand legen würde. Stefan Kurath, Architekt und Urbanist aus Praxis, Forschung und Lehre, setzt sich in «jetzt: die Architektur!» äusserst kritisch und zugleich fundiert mit der «richtigen Stadt» und der «guten Architektur» auseinander. Er hinterfragt, was viele – insbesondere Architektinnen und Architekten – als gesetzt betrachten, welchen Stellenwert der Berufsstand heute überhaupt noch hat und welchen er zu haben glaubt, und er erläutert, wie Architektur wieder relevanter und für alle Menschen ein Gewinn werden könnte.

«Architektur ohne Gesellschaft»

Dafür gliedert er sein Buch, das sich wie ein einziger langer Aufsatz liest, in drei grosse Abschnitte: Kritik, Forschung und Position, betitelt mit «Verkürzungen», «Verbindungen» und «Verlängerungen». Im ersten Teil beschreibt Kurath anhand zahlreicher Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Epochen die Verkürzungen in der Theorie und der Geschichte der Architektur sowie die Diskrepanz zwischen Architekturvorstellung und Stadtwirklichkeit, die sich daraus als Folge ergibt. Die Beispiele reichen von Georges-Eugène Haussmann und «seinem» Paris über Oswald Mathias Ungers und Aldo Rossi bis hin zur Architektengruppe Krokodil und ihrem Manifest für das Glatttal.

An Bedeutung gewinnen

Im zweiten Teil befasst sich der Autor anhand von ausgewählten Beispielen und deren architektonischen Akteurinnen und Akteuren mit der Übersetzung von der erdachten in die gebaute Architektur. Ausgewählt wurden unter anderem die Erneuerung des Dorfes Vrin, Zumthors weltweit bekannte und hochgelobte Therme Vals sowie das Projekt «Ouest lausannois».

Dabei betont Kurath, es gehe ihm «um eine andere Sichtweise auf vermeintlich Bekanntes», keine Wiederholung von bereits Geschriebenem. Als Basis für die Projektanalyse dient die Akteur-Netzwerk-Theorie mit ihren fünf Phasen, die kurz erläutert werden und sich im Aufbau der Texte widerspiegeln. Einen Schwerpunkt legt Kurath in seiner Betrachtung auf die nicht menschlichen Akteure des Bauens, wie Materialien, Gesetze und Infrastrukturen, denen er ein eigenes Kapitel widmet und von denen er verschiedene Beispiele heranzieht.

Gesellschaftlich anschlussfähig

Im dritten und letzten Hauptteil des Buchs zeichnet der Autor anhand seiner eigenen, teils erst durch diese Auseinandersetzung veränderten Position ein Bild davon, was gute Architektur und guten Städtebau auszeichnet, welche positive Wirkung sie auf Stadt- und Grünräume, Mensch und Umwelt, Wirtschaft und Tourismus haben könnten – wenn die Architektinnen und Architekten von der «Autonomie der Architektur» absehen würden.

Dabei spannt er den Bogen von neuen Ordnungsprinzipien über die Bedeutung des Entwerfens bis zu politisch agierenden Planerinnen und Planern. Den Abschluss bilden Kuraths neues «Programm der Architektur» mit 19 Punkten, die er sehr bestimmt vermittelt, sowie – analog zu den beiden vorhergehenden Kapiteln – eine Bilderstrecke mit grossformatigen Fotografien.

256 lesenswerte Seiten

Ein als Intro bezeichnetes Vorwort, eine Einleitung und ein Gespräch mit Thomas Sieverts als Extro umrahmen die drei genannten Hauptteile des Buchs, das mit dem üblichen Anhang abschliesst. Der als Glossar bezeichnete Abschnitt stellt allerdings bei Weitem keine «Sammlung von Worterklärungen» dar, wie Brockhaus und Duden den Begriff definieren und man es vielleicht erwarten würde.

Er umfasst lediglich drei ausführliche Einträge, die auf häufig gestellte Fragen in der Architektur eingehen: Was ist gut und was schlecht? Was richtig oder falsch, was schön oder hässlich? Etwas zu detailliert ist dagegen das Inhaltsverzeichnis, in das alle Zwischenüberschriften der Texte aufgenommen wurden. Man findet so zwar eine Textstelle sehr schnell und gezielt wieder, andererseits wird das Inhaltsverzeichnis dadurch sehr lang und erstreckt sich bei diesem Buch mit rund 250 Seiten auf drei Seiten. Doch das ist die einzige Stelle der gesamten Neuerscheinung, an der weniger mehr gewesen wäre.

Stefan Kurath: jetzt: die Architektur! Über Gegenwart und Zukunft der architektonischen Praxis, Park Books, Zürich 2021. 256 S., 28 farbige und 27 s/w-Abbildungen und Pläne, 18 x 27,5 cm, broschiert, ISBN 978-3-03860-242-2 , Fr. 35.–

 

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