Bauen: ve­gan und se­cond­hand

Bis ins letzte Jahrhundert nutzte man in Europa Reststoffe aus landwirtschaftlichen und industriellen Produktionen oder Gebrauchtteile aus Rückbauten, um daraus neue Gebäude herzustellen. Angesichts des heutigen immensen, meist nicht natürlich abbaubaren Abfalls durch konventionelle Bauweisen entdecken Industrie und Handwerk solche Techniken neu.

Date de publication
02-06-2021

Wodurch zeichnen sich kreislauffähige Baumaterialien aus? Der Abbau ihrer Rohstoffe und ihre anschliessende Produktion, aber auch ihre Wiederverwendung oder Entsorgung belasten Umwelt und Natur möglichst wenig. Darüber hinaus benötigen sie über den gesamten Lebenszyklus wenig Energie und Wasser.

So setzt die Empa bei ihrem Forschungsbau NEST voraus, dass die zur Herstellung benötigten Ressourcen wiederverwend-, wiederverwert- oder kompostierbar sind. Solche kreislaufwirtschaftlich ausgerichteten Herstellungsverfahren und Produkte verändern bereits heute den Baumarkt. Doch in der Praxis erfüllen sie noch nicht immer alle Kriterien und sind nur teilweise kreislauffähig, ihre Eigenschaften müssen in Zukunft optimiert werden.

Eine Auswahl an Produkten zeigt, wie vielfältig das Thema ist. Was Vertreter der Bauwirtschaft bisher etwas herablassend als «alternativ» bezeichneten, wird zunehmend als «kultiviertes Baumaterial» substanziell oder findet unter den Begriffen «Abfallaufbereitung» und «Urban Mining» einen Platz.

Kultivierte Materialien

Hanf wird in erster Linie als Nahrungsmittel, für Kosmetika und Textilien genutzt. Sein Anbau erfordert weder Pestizide noch Herbizide und regeneriert die Bodenbeschaffenheit. Mit der Pflanze können, kombiniert mit Kalk, in einem Kaltluftverfahren auch Ziegel gepresst werden. Die richtige Mischung und ein bestimmter Mineralgehalt des Kalks verleiht den Steinen eine homogene Qualität, was abhängig von der Trocknungszeit die optimale Dämmwirkung mit sich bringt.

Die guten thermischen Eigenschaften erfordern keine zusätzliche Isolation, denn bei einer Dicke von ca. 40 cm erreicht eine Mauer Energieklasse A. Die Verbindung aus Hanfschäben, Naturkalk und Mineralien ist feuerfest, steinhart und beständig gegenüber Umwelteinflüssen.

Der atmungsaktive Hanf-Kalk hat ausserdem bezüglich Luftreinigung und Feuchtigkeitsregulation ähnliche Eigenschaften wie Lehm. Die vollständig biologisch abbaubare Mischung bindet mehr CO2, als sie abgibt. Nach dem Ende des Lebenszyklus können die Ziegel wiederverwendet als Komposit oder geschreddert als Naturdünger genutzt werden.

Auch mengenmässig gibt das Material etwas her: Laut Werner Schönthaler produziert seine Firma Hanfstein zurzeit täglich 400 m² Bausteine. Ein Pilotprojekt mit drei Mehrfamilienhäuser entsteht in Spanien – ab dem Frühling 2021 auch eines in Zürich. Mit Tobias Luthe von der ETH Zürich werden aktuell in einem zweijährigen Projekt die Zusammenhänge des Materials mit der Kreislaufwirtschaft und der Entwicklung der statischen Eigenschaften untersucht.

Auch bestimmte vollständig biologisch abbaubare Pilzmyzelien gehören in diese Gruppe. Schon im Jahr 2014 haben die New Yorker Firma Ecovative und das Architekturbüro Arup mit dem 15 m hohen Hy-Fi-Tower in Brooklyn aus 10 000 Pilz-Steinen Möglichkeiten aufgezeigt: Die fadenförmigen Zellen der Pilzgeflechte verwachsen, gemischt mit landwirtschaftlichen Nebenprodukten wie Maisstroh oder Getreidehalmen, innerhalb von einigen Tagen im Dunkeln zu einem leimartigen Geflecht. Dieses wird dehydriert und erhitzt. Je nach Zuschlag variieren Textur, Dichte, Steifigkeit und Stabilität, womit sich seine Form steuern lässt. Laut Produzent ist das regenerative Material brandsicher und eignet sich für die Herstellung von Dämmstoffen, Akustikfliesen und Sandwichpaneelen.

Neues aus Zivilisationsabfall

Eine weitere Möglichkeit, Baustoffe herzustellen, ist die Verwertung von Zivilisationsabfall. Die UNEP schätzt, dass 640 000 t verlorene Fischernetze in den Meeren schwimmen. Bis sie zersetzt sind, sollen 500 Jahre vergehen. Seit 2012 hat die Organisation Net-Works im Auftrag der Zoological Society of London ein Lieferantennetzwerk für Nylonnetze aufgebaut. 1500 Familien in den Philippinen und in Kamerun sammelten und reinigten bis 2020 142 000 kg Fischernetze an Stränden. Das generiert Einkommen und sorgt für saubere Strände.

Verschiedene Firmen wie Econyl oder Interface verarbeiten das Material weiter zu Nylongarn, dessen Qualität jenem von neuem ebenbürtig ist. Nach Angaben der Firma Econyl werden mit 10 000 Tonnen 70 000 Barrel Rohöl gespart und Emissionen von 65 100 t CO2 eq. vermieden. Nach Gebrauch kann das Produkt ohne Qualitätsverlust neu aufbereitet werden, womit ein theoretisch endloser Kreislauf entsteht. Wie energieintensiv der Prozess der Aufarbeitung ist, konnte die Firma Econyl nicht beziffern. Zahlreiche Firmen aus der Auto-, Mode- und Bauindustrie verarbeiten das Garn weiter zu Kleidern und Teppichen.

Eine anderes Recyclingprodukt sind unterschiedlich zusammengesetzte Leichtbauplatten aus Wellpappe. Manche davon können im Holzverbund als raumtrennende Wände oder als statische Fertigelemente für modulares Bauen sowie für Decken mit einer Spannweite bis zu 6 m verwenden werden.

Die stabilen, leichten Platten, die zu 90% aus Luft bestehen, sind durch eine feuerhemmende mineralische Beschichtung brandsicher und weisen eine gute Ökobilanz auf. Nach Angaben des Herstellers Ecocell bindet das System pro m² Wand- oder Deckenfläche 30 kg CO2. Zum Vergleich – eine Backsteinwand verursacht pro m² 38 kg und eine Betondecke 64 kg CO2. Die Luft in den Hohlräumen der Pappe sorgt für die Wärmedämmung. Werden die Elemente in regionalen Wellpappeanlagen hergestellt, sind auch die Transportkosten niedrig – solche Anlagen, die es weltweit gibt, lassen sich mit wenig Aufwand auf die Produktion der Elemente umstellen.

Die durch Steckverbindungen zusammengehaltenen Platten lassen sich demontieren und wiederverwenden. Ein Nachteil ist, dass sich der Verbund aus Holz, Karton, mineralischer Beschichtung und Leim nach Gebrauch nicht trennen lässt und deshalb verbrannt wird. In St. Margrethen SG und in Uttwil TG wurden die ersten Wohnhäuser mit dem Ecocell-System als Wand- und Deckenelementen gebaut. Einige der Plattensysteme können auch für Industrie und Gewerbe verwendet werden.

Ressource Urban Mining

Eine andere Gruppe bilden Materialien aus Altbauten. Dazu gehören Projekte, bei denen ein Anteil an Re-use-Elementen verbaut wird. Aber auch gehobenes Kunsthandwerk kann dabei zum Tragen kommen. Die beiden Designerinnen Rasa Weber und Luisa Rubisch fertigen aus Bauschutt direkt auf der Baustelle individuelle Terrazzoplatten.

Jede Serie ist anders, wird über Muster entwickelt und widerspiegelt über die Abbruchstücke aus Wänden und Böden im Bindemittel die einstige Materialisierung des Baus, der gerade renoviert wird. Sie fertigen die Platten aus Gebäudematerialien direkt vor Ort und vermeiden so Transportwege – zumindest für die Steine im Terrazzo. Leider ist eine vollständige Zirkularität wegen der Bindemittel noch nicht umsetzbar.

Ein heterogenes Feld und seine Chancen

Der selektive Blick zeigt, wie unterschiedlich die Produzenten sind – kleine Einzelfirmen, Handwerker mit bescheidenen finanziellen Mitteln und grosse kapitalkräftigere Unternehmen mit hochtechnologischen Verfahren. Dass neben diesen auch KMU eine Chance haben, sich mit guten Ideen zu etablieren, ist eine wünschenswerte wirtschaftliche Tendenz.

Ein weiteres Merkmal vieler Produkte ist die menschliche Handarbeit. Sie stellt eine klimaneutrale Energie dar und bietet ein neues Feld für Arbeitsplätze, erfüllt also bei entsprechenden Arbeitsbedingungn auch die soziale Nachhaltigkeit. Gerade darum hat Lowtech neben Hightech grosses Potenzial.

Für den ganzheitlichen Blick auf einen Bau spielen natürlich Kriterien wie Modularität, Vorfertigung, Sortenreinheit, Qualität und Lebensdauer der Materialien und das energetische Gesamtkonzept eine Rolle. Im Detail zeigen diese Materialien aber auf, dass die Kreislaufwirtschaft auf dem Baumarkt Veränderungen initiiert und weg von Wegwerfqualität und -mentalität führt.