Lernen von Mendrisio
Vor 30 Jahren lancierte die Schweiz die Elektromobilität mit einem Pilotprojekt im Südtessin. Davon profitieren bis heute viele – vom privaten Autolenker bis zur öffentlichen Hand.
Wer durch die Gassen des Städtchens Mendrisio spaziert, die malerischen Häuser und Innenhöfe betrachtet oder eine der traditionellen Osterprozessionen besucht, kann sich kaum vorstellen, wie viel Innovationskraft hinter den historischen Mauern steckt. Doch von hier aus gingen früher Baumeister und Architekten in die Welt und waren dank ihrem Können überall gefragt.
Pioniere waren auch die Gründer vor Ort der zu Beginn nicht allzu ernst genommenen Akademie für Architektur. Und eigentlich passt es bestens zur regionalen Charakteristik, dass Mendrisio vor über 20 Jahren Standort eines nationalen Pilotprojekts für die Elektromobilität war. Über 400 Elektrofahrzeuge wurden in dieser Zeit in den Markt eingeführt, zwei Drittel davon für private Nutzerinnen und Nutzer.
Der Grund für diesen Versuch war aber weniger technische Kühnheit als eine akute Notlage: Das Mendrisiotto ist hohen Umweltbelastungen durch die Transitautobahn von und nach Italien und den intensiven Grenzgängerverkehr ausgesetzt. Regelmässig überschreiten die Feinstaubemissionen und die Ozonwerte jegliche gesetzliche Limiten.
Ziele wurden erreicht
Von 1994 bis 2001 dauerte der Praxistest für Leicht-Elektrofahrzeuge (LEM), der aus der Tessiner Gemeinde Mendrisio die damals grösste E-Modellregion in ganz Europa machte. Dabei kamen Autos unterschiedlichster Hersteller und Batterietechnologien zum Einsatz, um die unterschiedlichen Systeme vergleichen zu können. Neben der Alltagstauglichkeit wurden zusätzlich Anreize und Fördermassnahmen sowie künftige umweltschonende Verkehrskonzepte untersucht.
Einige Ziele konnten erreicht werden, unter anderem die Alltagstauglichkeit: Die meisten privaten Teilnehmenden wählten zwar das LEM als Zweitauto – und tun dies gemäss Angaben der Tessiner Umweltbehörden bis heute. Auch der Impact aus den elektrisch zurückgelegten Kurzstrecken war positiv, etwa in Bezug auf einen sinkenden Energieverbrauch und geringere Umweltbelastungen.
Das Pilotprojekt von Mendrisio zeigte allerdings auf, dass der Mehrpreis für eine Anschaffung gegenüber herkömmlichen Fahrzeugen nicht allzu hoch sein darf. Die wenigsten entscheiden sich aus rein ideellen Überzeugungen zum Kauf eines LEM – der bestimmende Umstiegsfaktor ist wirtschaftlicher Natur. So braucht es kundengerechte Finanzierungsmodelle, um die im Vergleich zu den Betriebskosten hohen Anschaffungskosten auszugleichen, ergab die Begleitforschung.
Für den erfolgreichen Vertrieb von Elektrofahrzeugen bedarf es ausserdem eines ausreichenden Netzes an qualifizierten Händlern und Servicestellen sowie einer zuverlässigen Ladeinfrastruktur. Aus der Synthese der mehrjährigen Praxisanalysen ergibt sich folgendes Fazit: Innovationen bei der Fahrzeugtechnologie allein reichen nicht für einen Marktdurchbruch. Alle Bereiche und Elemente des Mobilitätssystems müssen verändert werden, um die Elektromobilität weiter zu fördern.
Förderung weit fortgeschritten
Der Südkanton nutzt diese Erkenntnisse bis heute. Die staatliche Förderpolitik ist im nationalen Vergleich weit fortgeschritten. So wird der Kauf eines Elektroautos ebenso subventioniert wie die Installation einer Ladestelle, auf privater Liegenschaft oder im beruflichen Umfeld. Vergleichbares bietet sonst nur der Stadtkanton Genf an. Vor zwei Jahren erhielt der Tessin sogar die nationale Auszeichnung «Goldener Stecker» als Anerkennung der Elektromobilitätsbranche für den bisherigen Leistungsausweis.
Vor allem im dicht besiedelten Sottoceneri sind öffentlich zugängliche Elektroladestationen ebenso häufig wie im Schweizer Mittelland. Und selbst vor einem Grotto findet sich ein Autoparkplatz mit E-Ladestation. Gleichwohl besteht Luft nach oben: Mittlerweile sind im Tessin erst 6 % aller Fahrzeugneuzulassungen elektromobil, was nicht ganz dem nationalen Durchschnitt entspricht.
Die Effizienz der kantonalen Massnahmen beeindruckt trotzdem: Zwar steht nur ein Sechstel des Fördertopfs von 3 Mio. Franken für den Ausbau der Ladeinfrastruktur zur Verfügung, dennoch kommt auf jedes zweite neue Elektroauto eine weitere Ladestation dazu. Das Amt für Luft, Klima und erneuerbare Energien fasst zusätzliche elektromobile Pläne. Abermals hat man Mendrisio auserkoren, um von hier aus ein kantonsweites, öffentliches E-Bike-Sharing-angebot zu lancieren.
Warnsystem gesetzlich verankert
Eine Kinderkrankheit zeigte das ursprüngliche LEM-Modellprojekt Mendrisio aber auch auf: Bei niedrigen Geschwindigkeiten sind Elektrofahrzeuge geräuscharm unterwegs. Doch was an sich vorteilhaft ist, kann für Fussgänger oder Radfahrer lebensgefährlich sein – wenn es von hinten angefahren kommt. Noch riskanter wird es für blinde oder sehbehinderte Passanten, die ein elektrisch betriebenes Fahrzeug überhaupt nicht wahrnehmen können.
Für das Pilotprojekt brachte man damals an einigen Standardmodellen nachträglich eine akustische Warnanlage an. Inzwischen ist der Einbau eines AVAS-Warnsystems (Acoustic Vehicle Alerting System) gesetzlich verankert. Es erzeugt einen Dauerschall, der im Geschwindigkeitsbereich bis 20 km/h hörbar sein muss. Ab diesem Sommer ist ein solches Warnsystem für alle neu verkauften Elektroautos und Hybridfahrzeuge in der Schweiz und der EU Pflicht.
Was sich bis heute von Mendrisio auch noch lernen lässt: Die während des Pilotversuchs erhobenen Daten und Umfrageergebnisse sind ein weiterhin nutzbarer Erfahrungsschatz und die Basis für viele Entwicklungen in der Elektromobilität. Zudem findet jeweils am 16. Juni der nationale Tag der Elektromobilität in der Schweiz statt; der «Swiss eDay» wurde zur Erinnerung an das Mendrisio-Projekt eingeführt.
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Nr. 3/2020 «Immobilien und Energie: Strategien der Transformation»
Nr. 4/2021 «Immobilien und Energie: Mit Elektromobilität auf gemeinsamen Pfaden»
Die Artikel sind im E-Dossier «Immobilien und Energie» abrufbar.