Graue Ener­gie – Öko­bi­lan­zie­rung für die Ers­tel­lung von Gebäu­den

Im August 2020 ist das neue Merkblatt SIA 2032 erschienen – zehn Jahre nach seiner ersten Ausgabe. Die Revision hat sich gelohnt: Das Merkblatt ist einfacher und klarer als sein Vorgänger, gleichzeitig ist die Anbindung an methodische Grundlagen gestärkt.

Date de publication
28-01-2021
Katrin Pfäffli
dipl. Architektin ETH SIA, Nachhaltigkeitsberaterin, Mitglied der SIA Kommission 2040

Während das erste Merkblatt SIA 2032 von 2010 Pionierarbeit leistete, stand seine Überarbeitung im Zeichen einer Konsolidierung, Bereinigung und gezielten Weiterentwicklung. Ein wichtiger Punkt war die Begriffsklärung. Das zeigt sich schon im Titel des neuen Merkblatts: Während der Anfang «Graue Energie» dem bekanntesten Indikator bei der Bilanzierung von Umweltauswirkungen eine Referenz erweist, zeigt der weitere Teil «Ökobilanzierung für die Erstellung von Gebäuden», dass die im Merkblatt erarbeiteten Grundsätze genauso für andere Indikatoren gelten. Allen voran – und im Merkblatt explizit ausgewiesen – für die Treibhausgasemissionen, die eine zentrale Ursache des Klimawandels sind.

Ganzer Lebenszyklus erfasst

Erstmals explizit definiert wurde auch der Begriff «Erstellung», der in Übereinstimmung mit dem Merkblatt SIA-Effizienzpfad Energie verwendet wird. Der Bereich «Erstellung» umfasst gemäss SIA 2032 die gesamten Stoff- und Energieflüsse: von der Rohstoffbeschaffung, der Herstellung von Baustoffen, deren Einbau und Ersatzmassnahmen auf der Baustelle bis zum Rückbau des Gebäudes und zur Entsorgung. Zusammen mit dem Betrieb des Gebäudes – der nicht im Merkblatt thematisiert wird – ist damit der gesamte Lebenszyklus erfasst.

Die im Merkblatt behandelte Bilanzierung von Gebäuden übernimmt die Begriffe und den modularen Aufbau der europäischen Norm für Umweltproduktdeklaration. Die Zuordnung zu den fünf Modulen A in der Herstellungs- und Errichtungsphase, dem Modul B4 in der Nutzungsphase sowie den vier Modulen C in der Entsorgungsphase hat, so formalistisch das klingen mag, geholfen, Missverständnisse und Widersprüche zu lösen.

Als grosse Hilfe in der Kommunikation erweist sich die Darstellung eines Lebenswegansatzes als Grafik. Auch Laien in der Ökobilanzierung – wohl ein Grossteil der Merkblatt-­Anwenderinnen und -Anwender – können so die einzelnen Phasen und Schritte nachvollziehen.

Auslassungen zugunsten der Vergleichbarkeit

Das Merkblatt SIA 2032 zeigt eine Systematik, die eine vergleichende Betrachtung ganz unterschiedlicher Gebäude ermöglicht. Ein gewisses Mass an Pragmatismus ist nötig, denn eine bis ins Detail umfassenden Ökobilanzierung ist nicht das Ziel des Merkblatts. Zum Teil vereinfacht es die Bilanzierung nach SIA 2032 und vernachlässigt Prozessschritte, obwohl sie im Einzelfall durchaus bedeutend sein können; etwa die Transporte von Materiallagern auf das Grundstück oder ein Grossteil der Arbeitsschritte auf der Baustelle selbst.

Eine Pauschalisierung dieser Aufwendungen ist jedoch nicht möglich. Zugunsten einer relativ einfachen Bilanzierung, der Durchgängigkeit der Berechnungen über alle Phasen gemäss SIA 112 und der Vergleichbarkeit der Resultate werden diese Vereinfachungen in Kauf genommen. Sie erlauben es Standards und Labels, Grenzwerte für ganze Gebäudekategorien zu definieren. Oder sogar, wie es der SIA-Effizienzpfad Energie macht, die Aufwendungen in der Erstellung mit jenen im Betrieb ins Verhältnis zu setzen und so über den Lebenszyklus optimale Entscheidungen zu treffen.

Neu in die Bilanzierung aufgenommen wurden Vorarbeiten wie Baugrubensicherungen und Pfählungen, die bedeutende Aufwendungen darstellen und für die differenzierte Ökobilanzdaten zur Verfügung stehen. Ebenso werden Fenster neu mit dem zugehörigen Sonnenschutz bilanziert.

Bestandsbauten inklusive

Während sich die Berechnung von Neubauten und Umbauten in den letzten Jahren gut etablierte, war die Bilanzierung von Bestandsbauten bisher methodisch ungeklärt. Gerade in grösseren Portfolios oder auf der Ebene von Quartier- oder Arealbetrachtungen war es unbefriedigend, Bestandsbauten nicht einbeziehen zu können und – dies darf durchaus symbolisch ver­standen werden – deren «Wert» im Bereich Erstellung vernachlässigen zu müssen. Mit drei Berechnungsvarianten wird die Bilanzierung von Bestandsbauten im neuen Merkblatt nun eingekreist.

Die Bilanzierungsgrundsätze zeigen unterschiedliche Resul­tate je nachdem, ob Gebäude einen kontinuierlichen Werterhalt geniessen, der Restwert ermittelt wird oder aber der Wiederbeschaffungswert errechnet werden soll. In welchem Fall welche der drei Bilan­zie­rungs­methoden zur Anwendung kommt, legt das Merkblatt bewusst nicht fest: Standards, Labels und andere Anwender wählen die für ihren jeweiligen Verwendungszweck geeignete Variante.

Mit der «Wegleitung für den Bereich Erstellung» wurde das für Bestandsbauten in 2000-Watt-Arealen bereits umgesetzt und damit bewiesen, dass das Merkblatt SIA 2032 das notwendige Rüstzeug liefert. Selbst für die Bilanzierung von neuen Themen wie der Wiederverwendung von Bauteilen zeigt sich die erarbeitete Methodik als robust und interpretationsfähig. Obwohl diese neue Anwendung nicht ausdrücklich erwähnt ist, kann ein mit den Bestimmungen des Merkblatts konsistentes Vorgehen abgeleitet werden.

Nachvollziehbare Vorprojektwerte

Schon in der ersten Ausgabe des Merkblatts SIA 2032 wurden im Anhang Vorprojektwerte publiziert. Die für eine erste Abschätzung praktischen Hilfswerte wurden rege ­verwendet, und es wurden dafür verschiedene Rechenhilfen hinterlegt. Unbefriedigend blieb, dass die Herleitung der Werte und die zugrunde gelegten Konstruktionen nicht zugänglich waren. Die im Anhang D des neuen Merkblatts hinterlegten Werte sind nun detailliert dokumentiert und transparent hergeleitet. Das entsprechende Excel-Dokument kann kostenlos auf energytools.ch heruntergeladen werden.

Die differenzierte Berechnung verhilft zu mehr Transparenz und erlaubt, eigene Konstruktionen besser einzuordnen. Die Vorprojektwerte wenden die baustoffbasierten Ökobilanzdaten im Baubereich (KBOB-Empfehlung 2009/1:2016) auf die wichtigsten und häufigsten Konstruktionen und Bauteile an. Sie leisten damit eine Art Übersetzungsarbeit von Baustoffen zum Bauelement und weisen die Resultate in anwendungsfreundlichen Einheiten, beispielsweise Quadratmeter Bauteilfläche, aus.

Die Verfügbarkeit solcher Vorprojektwerte ermöglicht eine phasengerechte Berechnung der Grauen Energie und der Treibhausgasemissionen in der Erstellung anhand üblicher Flächenkennwerte und Konstruktionen. Ihre Anwendung setzt keine Kenntnisse der methodischen Festlegungen im Merkblatt voraus. Solche leicht zugänglichen und auch für Laien nutzbaren Daten – das zeigt die Rechenhilfe SIA 2040 eindrücklich – sind Türöffner für eine breite Anwendung eines Merkblatts.

Grundlage für die Anwendung

Dass sich bisher alle Anwendungen in der Schweiz auf die Methodik im Merkblatt SIA 2032 abstützen und sich dieses als Referenz für Berechnungen der Grauen Energie etabliert hat, ist bemerkenswert. Dank der breiten Zusammensetzung der Kommission und dem intensiven Vernehmlassungsprozess dürfte auch der Neuauflage des Merkblatts diese breite Anerkennung zuteilwerden.

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