Ein Fach­wer­khaus auf Zei­treise

In Ermatingen TG hat Solararchitekt Peter Dransfeld ein 400 Jahre altes Wohnhaus erneuert und an die neueste Energietechnik angehängt. Trotz versiertem Umgang mit historischer Substanz: Wie widerspruchsfrei lässt sich ein Baudenkmal mit modernem Klimaschutz verbinden?

Date de publication
04-10-2020

Die Bevölkerung am Bodensee hat wohl ein feines Gespür für Gefahren entwickelt; über Jahrhunderte bedrohten fremde Kriegsmächte und gefährliche Naturgewalten die deutsch-schweizerische Grenzregion. Im Spätmittelalter griffen schwedische und französische Heere wiederholt das reiche Schwabenland an. Mindestens so häufig haben Überschwemmungen, Seuchen und Plagen den Landstrich heimgesucht. Solch verheerende Ereignisse haben einige Zeitzeugen trotzdem fast unbeschadet überstanden; bis heute säumen drei- bis vierhundertjährige Landschlösser, Kirchen, Fischerhäuser und Riegelbauten das Südufer des «schwäbischen Meers».

Die Baudenkmäler zeugen aber nicht nur von einer aufregenden Geschichte, sondern auch vom Umgang damit in jüngerer Zeit. Das 400 Jahre alte Mesmerhaus in Ermatingen warnt neuerdings vor der nächstbekannten Gefahr, dem Klimawandel: Das Wohnhaus, das Kriege und Hungersnöte überdauerte, ist nun – fachgerecht restauriert und umfassend erneuert – ein fossilfreier Plusenergiebau.

Neu mit Plusenergiestatus

Wesentliche Teile von Hülle und Kern stammen aus dem frühen 17. Jahrhundert; die Jahrringe im Holzgebälk lassen sich bis 1610 ­zurückdatieren. Auch deshalb hat die Thurgauer Denkmalpflege das «stattliche und sehr altertümliche Fachwerkhaus», das seit jeher neben der Pfarrkirche steht, unter Schutz gestellt. Der jüngere Zustand des vierstöckigen Wohnhauses erschien allerdings mehr als Bürde denn als Spiegel gepflegter Baukultur. Lang blieb es ungenutzt, hinter rankenden Reben bröckelte der Fassadenputz. Und auch im Innern war einiges aus den Fugen und in Schieflage geraten. Die wertvolle Substanz in ihrer Struktur und in ihrem Ausdruck wieder ins rechte Bild zu rücken erforderte viel Aufwand und einiges architektonisches Geschick.

Zwei Jahre nahmen die Arbeiten für Restaurierung und Erneuerung in Anspruch. Der Thurgauer Architekt Peter Dransfeld, der die Liegenschaft erwarb, begnügte sich nicht damit, die historischen Mauern, Decken und Oberflächen in­stand- und wiederherzustellen. Zusätzlich wollte er das Wohnhaus mit modernem Komfort und allerneuester Energietechnik ergänzen, ohne das geschützte Aussehen wesentlich zu verändern. So wie das Mesmerhaus bereits in seiner früheren Geschichte mit Laube und Queranbau auf der Westseite erweitert wurde, gesellt sich neuerdings ein Ostflügel dazu. Dieser repräsentiert nun die Kombination aus Alt und Neu.

Wenig liess sich an der historischen Struktur verändern: Nach wie vor sind die gemauerten Wände grob verputzt und viele Ecken und Kanten schräg bis schief. Erhalten blieben der Holzbalkon und mit ihm sichtbare Spuren aus Verwitterung und physischer Beanspruchung. Der denkmalpflegerischen Sanierung zuträglich war, dass sich Art und Tiefe der Eingriffe jeweils erst nach Sichtung vor Ort bestimmen liessen. Gleichwohl war die Zielvorgabe für die Gebäudehülle äusserst ambitioniert. Unter anderem sollte das erneuerte Fachwerk mindestens so gut vor Wärmeverlusten schützen wie ein Neubau. Auf zusätzliches Dämmen konnte nicht verzichtet werden. Allerdings genügte an der Südfassade eine teilweise nur 10 cm mächtige Aussenschicht. Das Riegelwerk an den drei übrigen Gebäudeseiten ist derweil inwendig gedämmt. Einzig der gut hundertjährige Westflügel wich einer Ersatzkonstruktion.

Nach ihrer bauphysikalischen Ertüchtigung ist die Gebäudehülle derart luftdicht, dass sie sogar den Unterdrucktest problemlos bestand. Das Aufspüren kleinster Leckagen wird für die erfolgreiche Minergie-A-Zertifizierung verlangt (TG-058-A). Vollständig erhalten blieb der originale Dachstuhl mit Balken aus dem 17. Jahrhundert. Er ist im überhohen Attikageschoss sichtbar, wobei dessen Ausbau zum Wohnstudio ein wärmeres Einfassen des Unterdachs erforderte. Darüber schützen dieselben Ziegel wie zuvor das erneuerte Mesmerhaus.

Fremdkörper für die Technik

Ob die Adresse seit jeher Sitz der Ermatinger Kirchen­diener war, ist ungewiss. Nach der umfassenden Restaurierung ist jedoch eine moderne Nutzung als Mehrfamilienhaus möglich. Die drei Etagenwohnungen bieten eine zeitgemässe Ausstattung und grosszügige Grundrisse, fast vergleichbar mit einem Neubau. Zwar mindert das alte Holzgebälk die interne Schallübertragung ­weniger gut; Wände und Decken
aus Holztäfer, Fachwerk und rohe Balken sorgen dafür für historisches Ambiente. Der rekonstruierte Westflügel sowie der neue zwei­geschossige Anbau bieten Platz für die Nasszellen. Letzterer erweitert die Nutzfläche zusätzlich um je einen offenen Koch-, Ess- und Wohnbereich.

Die Erweiterung ist ein industriell gefertigter Holzelementbau, dessen Materialisierung an ähnliche Anbauten in unmittelbarer Umgebung erinnert. Zum Mutterhaus selbst verhält sich der Trabant durch seine Gradlinigkeit fremd­artig. Sein Charakter beruht auf technischer Einbettung: Dach und Südfassade sind mit Solarzellen versehen, um das Gebäude eigenständig mit Energie für Strom und Wärme zu ver­sorgen. Die vertikal aufgehängten matten PV-Module sind nicht als Serienprodukt erhältlich. Sie erzeugen Strom und Wärme in einem. Ersterer wird zum Betrieb einer Wärmepumpe benötigt; Letztere füllt den Energiespeicher im Keller.

Die Energieversorgung bedient sich zweier Quellen: Die Grundwärme stammt aus dem Boden; von hier wird sie mit Erdsonde und Wärmepumpe aufbereitet und bei einer Temperatur von 35 °C im Heizkreislauf verteilt. Die Sonne liefert zusätzliche Wärme auf hoher Temperatur, sie wird von der Wärmepumpe jeweils mit geringem Zusatzaufwand für das Warmwassersystem aufbereitet. Ohne diese Optimierung würde die kleinflächige Solarfassade ihr Jahressoll, mehr Energie zu liefern als vor Ort benötigt, nicht erreichen.

Zur Hauptsache bleibt die Technik im Verborgenen: Die Energiezentrale versteckt sich im gemauerten Gewölbekeller des Baudenkmals. Der vordere Bereich wird als repräsentativer Veranstaltungsraum genutzt; dahinter bleibt Raum für Speichertank, Wärmepumpe und ein Lüftungsgerät. Von hier aus wird das Wohnhaus nicht nur mit Wärme und frischer Aussenluft versorgt; auch die Abwärme der zentralen Lüftungsanlage gewinnt man hier zurück. In den darüberliegenden Wohnräumen verteilt eine Bodenheizung die Wärme. Die kontrollierte Wohnungslüftung hinterlässt fast ebenso wenige Spuren. Sichtbar sind einzig kleine Metallkästen an den historischen Wänden. Dahinter stecken Ventilatoren, die den Luftwechsel von Raum zu Raum antreiben.

Auf weitere Jahrhunderte?

Nach der jüngsten Umbaurunde präsentiert sich das über 400 Jahre alte Mesmerhaus als Baudenkmal mit Nullenergiebilanz. Der geschützte Kern wurde sorgfältig restauriert und soweit erforderlich rekonstruiert. Ansonsten bleibt er von zusätlichem Ballast weitgehend verschont, weil der östliche Anbau ein Outsourcing der technischen Installationen erlaubt. Baulich und funktional lässt sich so die Kluft zwischen Historie und Energiezukunft überwinden; kulturell gelingt dieser Zeitsprung nur bedingt. Umso wichtiger wird dadurch die Nachhaltigkeit der Erweiterung. Umso mehr ist zu hoffen, dass der neue Begleiter das Mesmerhaus nun auf eine dauerhafte Zeitreise führen kann.

Am Bau Beteiligte

 

Bauherrschaft
Peter Dransfeld, Ermatingen


Architektur
dransfeld architekten, Ermatingen


Tragkonstruktion Massivbau
BHAteam Ingenieure, Frauenfeld


Tragkonstruktion
Paul Grunder, Teufen


HLK-Planung
Naef Energietechnik, Zürich


Bauphysik
Zehnder & Kälin, Winterthur


Konservierung, Restauration
Rolf Zurfluh, Helsighausen

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