«Die Krise bringt die Schwachs­tel­len un­se­rer Pro­zesse zu­tage»

Laut Guy Nicollier, einem der Gründer des Lausanner Architekturbüros Pont12, verdeutlicht die Corona-Krise die Schwachstellen eines Architekturprozesses, der allzu sehr auf Just-in-time-Prozesse setzt. Er weist auf mindestens drei extrem problematische Punkte hin: Liquiditäts-, Zeit- und Materialmangel.

Date de publication
01-04-2020

Espazium: Herr Nicollier, welche Massnahmen haben Sie in Ihrem Büro ergriffen, um den Betrieb fortsetzen zu können?

Guy Nicollier: Pont12 besteht aus etwa 80 Leuten. Wir brauchten gut eineinhalb Tage, um die Arbeit zu organisieren: Wer arbeitet wie viel, wo und wie, was ist dringend, wer hat zusätzliche Kapazitäten? Die Zusammenarbeit zwischen den Teams sollte aufrechterhalten werden. Gewisse Leute sind am Ende eines Projekts angekommen. Wir mussten ihnen Arbeit verschaffen, was im Moment nicht einfach ist.

Dann haben wir einen Terminplan aufgestellt, damit die Leute ihre Computer und Unterlagen holen können und sich möglichst wenig über den Weg laufen. Alle haben mitgemacht, und so hat das gut funktioniert. Parallel dazu hat der Informatiker – der zu Hause isoliert war – alle Arbeitsplätze mittels Fernzugriff installiert. Dann mussten wir auch Prozesse erstellen, Kurzanleitungen, FAQ, Tutorials usw.


Und wie erleben Sie die Isolation?

Wir nutzen mehrere Kommunikationsmittel wie Telefon, Skype oder Teams von der OfficeSuite. Wir haben aber nichts vorgegeben. Jedes Team nutzt sie, wie es will. Das klappt eigentlich sehr gut. Ich habe sogar festgestellt, dass öfters Gruppensitzungen auf Teams gewünscht werden und dass es Spass macht. Eine Art Herdenverhalten. Man sieht wieder, dass Zusammenarbeiten sehr motivierend ist.


Wie läuft es mit der Betreuung der Baustellen? Wie bereiten Sie sich auf deren Stillstand vor?

Nach dem Entscheid des Staatsrats, und vor allem nach der eindringlichen Rede der Waadtländer Staatsrätin Nuria Gorrite am Mittwochabend des 18. März, haben wir unseren Bauherren empfohlen, alle Baustellen dicht zu machen. In Genf ist das bereits geschehen (Théâtre de Carouge). Im Kanton Waadt ist die Situation weniger klar. Wir haben es den Bauherren nahegelegt, denn die Verantwortung liegt bei ihnen.

Wir haben noch zwei Baustellen in der Waadt, die schliessen müssen. Entweder weil die Bestimmungen des BAG nicht eingehalten werden oder weil die Bauarbeiter nicht erscheinen – oder aber, weil sie kein Material mehr haben. Wir haben unsere Bauleiter angewiesen, sich nicht mehr vor Ort zu begeben, sondern über das Telefon oder mit Fotos zu arbeiten. Aber es ist unmöglich, eine Baustelle zu kontrollieren und zu überwachen, ohne vor Ort zu sein! Deshalb warten wir auf eine klare Ansage seitens des Bundes oder des Kantons, wie das in Genf der Fall ist.


Im klassischen architektonischen Entwurf sind physische Arbeitswerkzeuge zentral, etwa Skizzen und Modelle. Kann man sie durch digitale Werkzeuge ersetzen?

Das ist eine der wichtigsten Fragen und betrifft besonders die Abteilung der Kundenakquise, die potenzielle Kunden trifft, ihnen das Projekt erklärt, diskutiert, auf Pläne und Skizzenpapier zeichnet und Modelle zeigt. Wir müssen Projekteingaben verschieben, und gewisse Jurierungen von Wettbewerben sind auch verschoben.

Die Wettbewerbseingaben der öffentlichen Ausschreibungen, von den grossen Bundesbetrieben beispielsweise, wurden verschoben. Das ist sehr wichtig, denn der Wettbewerb ist ein Moment, in dem man sich austauscht, zusammenarbeitet oder in dem man mit Zeichnungen und Modellen hantiert – Medien, die für die Kreativität von enormer Wichtigkeit sind. Die digitale Technologie ermöglicht es, ohne grosse Schwierigkeiten für die Projektadministration von zu Hause zu arbeiten, die Einholung der Baubewilligungen vorzubereiten, Details zu entwickeln, Ausschreibungen zu erfassen usw. Aber alles digital zu machen würde heissen, die Reaktivität und die Intuition zu verlieren.

Die Projektentwicklung hingegen gestaltet sich viel schwieriger, vor allem, weil wir mit anderen Fachleuten, Ingenieuren, Haustechnikern usw. Sitzungen abhalten müssen, um eine Strategie entwickeln zu können. Dieser Teil des Berufs wird während der Krise sicherlich ziemlich in Mitleidenschaft gezogen.


Was lehrt uns die Krise? Und mit welchen Konsequenzen müssen wir später rechnen?

Die Krise bringt die Schwachstellen unserer Prozesse zutage, die immer just in time geschehen. Ich sehe mindestens drei extrem problematische Punkte: Liquiditäts-, Zeit- und Materialmangel.

1. Die Zahlungen geschehen just in time:

Ich beobachte insgesamt, dass die meisten Auftragnehmer über eine finanzielle Basis für einen Zeitraum von einem Monat verfügen. Wenn also die Bauherren nicht bezahlen, befinden sich viele Büros sofort in einer sehr schwierigen Situation. Wir sind es uns gewohnt, nach der Leistungserbringung bezahlt zu werden. Wir spielen also Bank. Ein wenig wie die Ärzte, die für bereits erbrachte Leistungen bezahlt werden – nur mit dem Unterschied, dass sich unsere Rechnungen auf zehntausende Franken belaufen.

Bei solchen Summen wird die Situation schnell kritisch, wenn wir unter dem Vorwand, dass die Leistung nicht erbracht wurde, nicht bezahlt werden. Wenn es keinen Zahlungsplan gibt, was macht man dann? Der gesamte Ablauf ist viel zu engmaschig gestaltet, es gibt zu wenig Spielraum.

In unmittelbarer Zukunft sehe ich drei Massnahmen, die ergriffen werden sollten:

  1. Zuerst muss die sofortige Einführung der Kurzarbeit gefordert werden. Pont12 verzeichnet eine Einbusse beim Arbeitsvolumen von etwa 50%, die wir sofort gemeldet haben, um eine Entschädigung im Rahmen der Kurzarbeit zu bekommen.
  2. Wir haben auch unsere Bauherren kontaktiert, um sie eindringlich zu bitten, unbezahlte Rechnungen umgehend zu begleichen. Auch die, die sie zurückbehalten – zu Recht oder zu Unrecht.
  3. Es müssen umgehend Kreditlinien bei den Banken eingeräumt werden. Aber zu welchem Zins? In einem Bericht des Staatsrats wird eine Staatsbürgschaft erwähnt. Darauf zählen wir.

Die öffentlichen Bauherren bezahlen zwar gut, aber manchmal dauert es sehr lang, bis sie zahlen. Warum nicht eine Zahlungsfrist von 30 Tagen einführen, wie es bei allen anderen Rechnungen üblich ist? Alle Auftragnehmer im Baugewerbe sollten eine Anzahlung verlangen, genau wie Anwälte.

2. Die Projektphasen geschehen just in time:

Das zweite Problem sind die Projektphasen, die just in time abgewickelt werden. Die Zeit, die dem Auftragnehmer gegeben wird, um ein Projekt zu entwickeln, ist extrem knapp geworden. Die Etappen sind zusammengestaucht. Da niemand ein Risiko eingehen will, treiben die Bauherren – sogar die ganz grossen wie die SBB – die Projektentwicklungsphasen vorwärts und verkürzen sie stark, was sich auf die Qualität auswirkt. Das führt zu einer kompletten Just-in-time-Situation – ohne jeglichen Spielraum.

Wenn die Phasen gemäss der Ordnung SIA 102 eingehalten werden, funktioniert das sehr gut. Bei einer Villa macht man eine Sache auf einmal und alles immer der Reihe nach: Vorprojekt, Bauprojekt, Ausschreibung usw. Wenn bei grossen Projekten die Phasen zusammengestaucht werden, kann das nicht funktionieren. Es ist an den Bauherren, die Situation zu ändern.

3. Der Materialvertrieb geschieht just in time:

Der dritte Teil dieses Problems sind die Lagerbestände der Betriebe. Darüber müsste man mit der Fédération vaudoise des entrepreneurs (Vereinigung Waadtländer Unternehmen im Baugewerbe) diskutieren. Die meisten Betriebe haben keine Lager mehr. Früher hatten sie Grundstücke, sortierten ihre Bestände und rezyklierten sie (Balken, Steine usw.). Man konnte von einer Ökologie durch Auswechslung sprechen. In der traditionellen Praxis der Maurer und Zimmermänner war die Wiederverwendung gang und gäbe. Aber das ist heute fast nicht mehr möglich. Im Kanton Waadt gibt es heute nur noch ein oder zwei Betriebe, die Rezyklieranlagen besitzen, oder Deponien.

Plattformen wie Salza, Materium usw. stellen eine gute Möglichkeit des Recyclings dar. Aber das Problem des Just-in-time-Prinzips ist die Lagerung. Die Betriebe haben nicht mehr die finanziellen Mittel, um solche Flächen zu bezahlen, die das ermöglichen würden. Wiederverwenden heisst nicht abreissen, sondern zerlegen. Das braucht Zeit und Arbeitskräfte, und das ist teuer. Heute trennt man den Abfall und verwendet alles wieder, was möglich ist – meist den Bauschutt. Um Beispiele echter Wiederverwendung zu finden, muss man weit weg suchen gehen.

Die Krise, in der wir aktuell stecken, ist auch ein Beschaffungsproblem: Alle Geschäfte, die nicht für die Grundversorgung wichtig sind, wurden geschlossen. Lieferanten, Importeure, Händler – alle werden schliessen müssen. Von diesem Moment an werden die Projekte zum Erliegen kommen. Genau das macht die Krise deutlich: Ein Land, das seine Produktion exportiert hat, hat ein Vertriebsproblem. Sanitas Trösch sagt, sie sei bereit, sie hätte am Lager, aber auch sie importiert Bauteile.

Wie gross ist der Anteil des in die Schweiz importierten Baumaterials? Im Inland hat dieser Industriezweig stark abgenommen. Wie gross ist der Anteil der in der Schweiz produzierten Produkte bei Laufen? Und wie sieht es bei Similor aus? Ich weiss es nicht. Aber mit dieser Frage müssen wir uns unbedingt befassen.

Was erwarten Sie von den Berufsverbänden und vom SIA?

Wir zählen auf sie, was die Informationsbeschaffung anbelangt. Das Büro der Sektion Waadt arbeitet stark daran und hat bereits Informationen herausgegeben und FAQ erstellt (siehe auch: «SIA: Informationen zur Corona-Situation»). Jetzt müssen vor allem die Unternehmerverbände Druck auf den Staatsrat ausüben. Die Beschlüsse der Behörden sind im Moment noch positiv. Wir müssen schnell Zugang zu Kurzarbeit und zu zinslosen Darlehen haben. All das kann man jetzt fordern. Ansonsten kann man nur alle darum bitten, zu Hause und in Kontakt zu bleiben. Für einmal spielen die sozialen Netzwerke eine spannende Rolle!

Die vollständige Version dieses Interviews ist erschienen auf espazium.ch/fr.
 

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