Ka­li­for­ni­en, ge­sta­pelt

Nein, bei der Tour Opale in Chêne-Bourg bei Genf handelt es sich nicht um einen Umbau. Dabei ist das Architektenduo Lacaton & Vassal gerade auch für seine umhüllenden Umbauten bekannt. Der grosse ­Massstab aber ­interessiert die beiden schon lang, und mit dem Neubau in der Westschweiz schreiben sie ihr eigenes Werk konsequent fort.

Publikationsdatum
20-09-2021

Gut 60 Meter ragt die Tour Opale in den Himmel der Genfer Stadtlandschaft. Über einem zurückgezogenen Sockel, in dem sich fünf Etagen mit Büros befinden, stapeln sich 14 Stockwerke Eigentumswohnungen, deren grosszügige Aussenräume über die Sockelgeschosse vorspringen. Die Idee eines Hochhausturms kam schon mit der Quartierplanung auf, die auch geprägt war von der neuen S-Bahnlinie «Léman Express».

Der Bau ist das Ergebnis eines doppelten Reifeprozesses: einerseits einer zunehmenden Urbanisierung und Akzeptanz vertikalen Bauens in der Westschweiz, andererseits der vermehrten Möglichkeiten der Architekten, ihre zunächst in niedrigen Bauten entwickelten Konzepte eines freien und mehrschaligen Wohnens in die Höhe zu denken.

Weiterbauen am eigenen Werk

Um das Jahr 2000 schlugen Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal erstmals hohe urbane Bauformen vor. Ihr – Papier gebliebener – Wettbewerbsbeitrag für Hérouville-Saint-Clair in der Normandie machte sich wortwörtlich an einem die Landschaft prägenden Wasserturm fest, dem Wahrzeichen der Retortenstadt. Eine direkte Brücke von der Dachterrasse des Hochhauses zum Wasserturm zeugte schon damals von der Faszination der Architekten für Aussichtspunkte und ihrer Empathie für bestehende Objekte, die die Landschaft ordnen. Mit der Gliederung der 18 Geschosse nahm der damalige Entwurf die Segmentierung des Genfer Hochhauses vorweg. Auch in der Normandie war schon ein subtil angedeuteter Sockel vorgesehen, in diesem Fall durch Maisonettewohnungen auf den unteren sechs Etagen.

Nach dem eher vermessenen Vorschlag für eine Hochhausgruppe in Warschau (2005) und den sich überlagernden Stockwerken eines Entwurfs für Poitiers (2006) setzt das Architektenduo beim Genfer Hochhaus abermals auf die Effizienz des sich wiederholenden ­freien Grundrisses. Gleichzeitig nimmt es die tiefen ­Fassaden wieder auf, die es 2011 bei der Sanierung des Hochhauses Bois le Prêtre in Paris realisierte.1

Dieser Übergangsbereich zwischen innen und aussen umläuft beim neuen Wohnturm in Chêne-Bourg erstmals das gesamte Gebäude. Lacaton & Vassals wiederholtes Bestreben, die Vorzüge individuellen Wohnens auch in grösster baulicher Dichte zu verwirklichen, zeigt sich hier abermals im Prinzip der Stapelung, in der Grosszügigkeit der Räume und deren Öffnung nach aussen. Mit der Betonung des Tragwerks und der durchgehenden Öffenbarkeit der Gebäudehülle knüpfen die Architekten an eines der Leitbilder an, das sie schon 2004 gemeinsam mit ihrem Mitstreiter Frédéric Druot im Rahmen der Studie «PLUS» für die Planung grosser Wohnsiedlungen entwickelt hatten.2

Das mit dem Einfamilienhaus verbundene Ideal von Freiheit, Platz und Unabhängigkeit findet seinen Weg ins Hochhaus – oder anders gesagt: Die Architekten übersetzen einen kalifornischen Traum in die Genfer Realität. Um so mehr, da es sich nun um Mietwohnungen auf dem freien Markt handelt und nicht, wie in zahlreichen vorherigen Bauten der Architekten, um Sozialwohnungen. Vier Zimmer California Dreaming in der Banlieue von Genf kosten um die 3500 Franken netto.

Kontinuitäten und Brüche mit ­modernistischen Idealen des Wohnens

Mit der Realisierung der Tour Opale positionieren sich Lacaton & Vassal als Konstrukteure und nicht mehr ­allein als Reparateure von Objekten der Moderne. ­Wohnungen mithilfe von Technik mit Luft, Licht und freiem Blick auszustatten war eine der zentralen Ambitionen der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts. Eine Umsetzung dieser Prinzipien im grossen Massstab fand in der ­Standardisierung ein probates Mittel, ein ebenso konstruktives wie ideologisches.

Mit der Rasterstruktur und der Wiederholung einfacher Elemente verschreibt sich auch die Architektur der Tour Opale solchen modernistischen Zielen und Formen. Doch Anne Lacaton hat auch erlebt, wie das einst avantgardistische Konzept eines «Standards» zur Entfremdung des Einzelnen gegenüber dem vorgefertigten, immer gleichen Objekt beitrug. Sie spricht lieber von «Ambitionen», um die Suche nach einheitlichen Bedingungen eines guten ­Wohnens für alle und überall zu beschreiben.

Ob es sich nun um Eigentumswohnungen in der Schweiz oder um die ­Sanierung von Sozialwohnungen in Frankreich handelt, die angestrebte Qualität und Sorgfalt in der Umsetzung sind dieselben. Gleichwohl geht es dem Architektenduo nicht darum, ihr ­Savoir-faire in andere Länder zu exportieren. Zentral ist ihnen ­vielmehr die Fähigkeit, «mit dem auszukommen, was da ist», sie zählen auf Dialog statt auf fertige Rezepte. Die zukunftsgläubigen Grundlagen der Moderne be­greifen sie nicht als Dogmen und distanzieren sich ­damit auch von der Autorität der Norm und des Entwurfs­verfassers. Den Nutzerinnen und Nutzern bleibt eine grosse Freiheit. Damit erfährt das modernistische ­Streben nach universellem Fortschritt eine neue Interpretation.

Übersetzt aus dem Französischen von Wulf Übersetzungen. Dieser Beitrag erschien erstmals im November 2020 in TRACÉS und ist in ausführlicher Version in TEC21 28/2021 nachzulesen.

Tour Opale, Chêne-Bourg GE


Bauherrschaft
SBB Immobilien

Architektur
Lacaton & Vassal architectes, Paris

Architektur/Ausführung
Nomos, Genf

Tragkonstruktion
Terrell, Boulogne-Billancourt (F)

Umweltplanung
ITF, Louveciennes (F)

Bauökonomie
Michel Forgue, Paris

Geotechnik und Umwelttechnik
De Cerenville, Genf

Brandschutz
Ecoservices, Carouge

Bauakustik
Architecture & Acoustique, Genf

Umweltverträglichkeitsprüfung
CSD, Carouge

Fassadenplanung
Préface, Etagnières

Elektroplanung
Bételec, Villars-Ste-Croix

Label
Minergie, DGNB Gold

Ausführung
Wettbewerb 2014, Bauzeit 2018–2020

Kosten exkl. MwSt., BKP 2
36.4 Mio. Fr.

Oberirdische BGF
16 211 m2

Anmerkungen

1 Ruedi Weidmann, «Umbauen statt sprengen» in: TEC21 17/2011
1 Frédéric Druot, Anne Lacaton, Jean-Philippe Vassal, PLUS – Les grands ensembles de logements, 2004.