Tatort Bauwerk
Die Ursachenklärung von Bauschäden und die Bauzustandsanalyse sind alltägliche Aufgaben in unserer Branche. Neben den herkömmlichen Methoden bietet die Bauforensik eine interessante Alternative, um für das blosse Auge verborgene Vorgänge im Bauwerk sichtbar zu machen.
Sie sind die heimlichen Helden im sonntäglichen Hauptabendprogramm: Mit schwarzen Koffern bewaffnete Forensiker in weissen Overalls, die jeden Tatort systematisch auf kriminelle Handlungen untersuchen. Zu ihren Aufgaben gehört unter anderem, verborgene Spuren mit optischen Hilfsmitteln wie Lampen, Kameras und Filtern sichtbar zu machen, und so massgebliche Beweise zur Überführung der Täterschaft zu liefern.
Seit knapp zehn Jahren kommt diese Methodik im deutschsprachigen Raum auch im Bauwesen zum Einsatz. Andreas Rapp begründete 2014 an der Leibniz Universität in Hannover das interdisziplinäre Fachgebiet «Bauforensik» und führt seither diese Domäne an. Den meisten Baufachleuten scheint die Praktik aber noch weitgehend unbekannt und nur wenige sachkundige Experten bieten Leistungen auf diesem Gebiet an.
Einer von ihnen ist Thomas Stahl. Zusammen mit seinem Geschäftspartner und früheren EMPA-Forschungskollegen, Karim Ghazi Wakili, betreibt er ein Ingenieurbüro für Bauphysik und bietet unter anderem Dienstleistungen aus dem Bereich der Bauforensik an. Im Interview erklärt er, was typische Anwendungsgebiete sind und wie sich mithilfe bauforensischer Methoden «Verbrechen am Bau» analysieren lassen.
Woher stammt der Begriff «Bauforensik» und was ist darunter zu verstehen?
Die allgemeine Forensik hat ihren Ursprung in der Form einer öffentlichen juristischen Beweisführung im antiken Rom. Heute versteht man darunter wissenschaftliche und technische Anwendungen, um kriminelle Handlungen systematisch zu analysieren. Die Bauforensik hingegen ist ein Konstrukt neueren Datums, das dem blossen Auge Verborgenes in und an Gebäuden – am «Tatort Bauwerk» – sichtbar macht.
Was sind die Vorteile der bauforensischen Technik gegenüber rein visuellen Methoden?
Bei der visuellen Begutachtung sind wir von Natur aus eingeschränkt. Was wir «Sehen» nennen, ist eine Reaktion unserer Augen auf die Photonen (Lichtpartikel), die von Gegenständen um uns herum ausgestrahlt werden. Diese Lichtpartikel haben eine doppelte Natur: Sie sind gleichzeitig ein Teilchen und eine Welle. Die Wellenlänge der Photonen bestimmt deren Energie bzw. Farbe. Unsere Augen sind aber in ihrer Empfindlichkeit beschränkt und können nur einen Teil der ausgestrahlten Photonen, nämlich den sichtbaren Bereich des Lichts im Wellenlängenbereich zwischen cirka 380 und 780 Nanometer wahrnehmen. In der Bauforensik bedienen wir uns spezieller Geräte und Techniken, um dieses Spektrum zu erweitern. Sie ermöglichen uns eine Begutachtung jenseits dieser natürlichen Grenzen, ohne dass der Untersuchungsgegenstand dafür beschädigt werden muss.
Sie setzen also optische Hilfsmittel ein?
Ja – kurz gesagt dreht sich alles um die Reflexion, Absorption und Transmission von Photonen, wenn sie auf einen Gegenstand treffen. Nehmen wir das allgemein bekannte Beispiel einer Infrarot-Kamera. Eine solche Kamera kann die abgestrahlte Wärme, die aus Photonen unterschiedlicher Wellenlängen besteht, für unser Auge sichtbar machen. Grundsätzlich gilt: Wird Materie – in unserem Fall sind das Materialien – gezielt mit einem Lichtstrahl bestimmter Energie bzw. Wellenlänge bestrahlt, absorbiert sie Photonen und emittiert wiederum solche in derselben oder in einer tieferen Energiestufe bzw. kürzeren Wellenlänge, die dann für unser Auge sichtbar wird. Dieses Prinzip machen wir uns zunutze, um unsichtbare Dinge sichtbar zu machen oder dünne Schichten zu «durchleuchten».
Mithilfe unseres Equipments können wir Fluoreszenz anregen oder Analysen im nicht sichtbaren Ultraviolett- (< 380 Nanometer) und Infrarotbereich (> 780 Nanometer) durchführen. Unseren Hauptutensilien sind spezielle Kameras mit erweiterter Lichtempfindlichkeit und Filtern sowie Lampen unterschiedlicher Stärke. Hinzu kommen Brillen, um «live» , also nicht erst auf einem Bild, den Sachverhalt erkennen zu können.
Was sind klassische Anwendungsgebiete der Bauforensik?
Generell helfen unsere Methoden, die Ursachen von Bauschäden zu finden oder Spuren und Schäden aus der Nutzung von Bauwerken zu erkennen. Klassische Beispiele sind der Blick auf mögliche konstruktive Schäden hinter einem Algenbelag, die Erkennung von von blossem Auge unsichtbaren Reparaturen oder ordentlich beseitigten Brandspuren, die Aufschlüsselung des Mischverhältnisses von Zwei-Komponenten-Produkten, die Identifikation von markierten Baustoffen oder das Sichtbarmachen von Grundierungen und überstrichenem Schimmelbefall.
Kommen wir nochmals auf meine vorherige Aussage zurück: Gewisse Stoffe haben die Eigenschaft, ultraviolette und infrarote Strahlung besonders stark zu reflektieren, zu absorbieren oder zu transmittieren. Andere lassen sich zur Fluoreszenz anregen. Die Farbstoffe von Blaualgen beispielsweise absorbieren Infrarotstrahlung kaum. So kann mit der Infrarotfotografie ein Algenbelag durchleuchtet werden. Auch fluoreszieren moderne Farbschichten und Reparaturmittel anders als alte Materialien – damit lassen sich tadellos ausgeführte Restaurationen sichtbar machen. Transparente Schichten wie Lacke oder Lasuren reflektieren hingegen ultraviolettes Licht besonders stark, wodurch sich Grundierungen nachweisen lassen.
Gehen Ihre Untersuchungen – ähnlich wie bei der kriminalistischen Forensik – immer von einer konkreten Vermutung aus, respektive ist eine solche zwingend erforderlich, um die einzusetzende Technik zu wählen?
Tatsächlich kommen unsere Auftraggeber – Architekturbüros, Bauherrschaften oder Gebäudeeigentümer – mehrheitlich mit einer konkreten Feststellung oder einer Vermutung auf uns zu. Unsichtbarer Schimmel beispielsweise wird oft olfaktorisch wahrgenommen. Andere Schäden zeigen sich optisch, ohne dass aber die Ursache bekannt ist. Für die Wahl der einzusetzenden Technik ist das aber nicht massgebend: Für unsere Untersuchungen sind wir meist mit der kompletten Ausrüstung unterwegs.
Können mithilfe der Bauforensik auch Schadstoffe sichtbar gemacht werden?
Ja – zumindest alle oberflächlichen Stoffe, die Makromoleküle beinhalten und entsprechend fluoreszieren. Das gilt für Beschichtungen, Kleber oder auch Öle. Holzschutzmittel lässt sich beispielsweise so nachweisen. Nicht erkennbar sind aber Fasern wie Asbest, die tief im Material eingebunden sind.
Wie steht es um die Nachfrage nach Ihren Dienstleistungen?
Ich wünschte, sie wäre höher. Die Bauforensik ist den meisten Baufachleuten eine leider noch wenig bekannte Methode und wir erhalten dadurch kaum spezifische Anfragen. Als eigenständige Dienstleistung lässt es sich also nur schwer verkaufen. Dabei gäbe es noch weitere Anwendungsgebiete, von denen wir noch gar nicht gesprochen haben – beispielsweise bei der Schätzung von Immobilien. Meist bieten wir unsere Dienstleistungen als Teil unserer klassischen Bauphysikdienstleistungen an.
Aktuell macht die Forensik aber volumenmässig wahrscheinlich weniger als fünf Prozent unserer Tätigkeit aus. Dabei vermögen unsere Methoden auf einfach nachvollziehbare Weise zu veranschaulichen, was mit anderen Methoden nicht oder nur sehr schwer bewerkstelligt werden kann. Ich denke, bei der aktuell stetigen Zunahme der Komplexität der Vorgänge und Materialkombinationen werden in Zukunft immer mehr Fragen auftauchen, die mit Methoden wie der Bauforensik beantwortet werden können.
Aus purer Neugier: Ich selbst wohne im Kernbau eines über Jahrhunderte gewachsenen und zuletzt in den 1990er-Jahren totalsanierten Flarzhausensembles. Teile der Bausubstanz datieren gemäss dendrochronologischen Untersuchungen aufs 15. Jahrhundert zurück. Was liesse sich dort auf einem Rundgang mit bauforensischen Mitteln alles erkunden?
Sie würden das Haus mit ganz anderen Augen sehen! Besonders die Sanierungsmassnahmen an den alten Bauteilen und die Spuren der jahrhundertealten Veränderung oder Reparaturen an Einbauten liessen sich im Detail erkunden. Überhaupt sehen wir in der Denkmalpflege ein geeignetes Anwendungsgebiet für die Bauforensik. Unsere Anlassreihe «Bauplattform Denkmalpflege» nimmt sich genau solchen Themen an und fand 2022 bereits zum dritten Mal im Ritterhaus Bubikon statt.