In­spi­ra­ti­on und An­ony­mi­tät bei Wett­be­wer­ben

Wo hört die Referenz auf, wo fängt die Kopie an? Eine Spurensuche anhand des aktuellen Wettbewerbs zum neuen Schulzentrum in Hauterive NE.

Publikationsdatum
10-02-2022

Neulich erreichte unsere Redaktion eine E-Mail von Bart & Buchhofer Architekten aus Biel. Erst kürzlich wurde einer ihrer neuesten Bauten, das Schulhaus Sacré-Cœur in Estavayer-le-Lac FR, eingeweiht. Als sie vom Siegerprojekt des im August 2021 öffentlich ausgeschriebenen, anonymen Wettbewerbs für das neue Centre Scolaire in Hauterive NE vernahmen, fühlten sie sich in einem ersten Moment geschmeichelt, dass der Schulhausbau in Estavayer-le-Lac in derart direkter Form als Referenz verwendet wurde.

Mit etwas Distanz hat die Ähnlichkeit der beiden Projekte ohne offene Deklaration der gebauten Referenz im Kontext des anonymen Wettbewerbs die Architekten des Projekts in Estavayer-le-Lac dann aber doch sehr irritiert. Dies betrifft insbesondere die 3-D-Darstellung der Fassade mit identischem Arrangement der Umgebung. Stephan Buchhofer, der mitverantwortliche Architekt des Schulhauses Sacré-Cœur und Co-Autor der ­gebauten Referenz, kritisiert die Haltung der Autoren des Siegerprojekts und den zugehörigen Entscheid der Jury zum Wettbewerb in Hauterive wie folgt:

«Ebenso wir wie unser Ingenieur, aber auch einige Architektenkollegen, die am Wettbewerb teilnahmen, sind über die fehlende Sensibilität der Autoren des Siegerprojekts und die Unkenntnis oder Unaufmerksamkeit der Jury zutiefst irritiert. Uns ist bewusst, dass Architektur stets eine universelle Angelegenheit ist und war und in Abhängigkeit zu den jeweiligen Epochen und Programmen einen Kanon von Typologien, Konstruktionen und Ausdrucksformen hervorbringt. Dennoch wirft das offensichtliche Kopieren der Erscheinung eines unverwechselbaren und bereits realisierten Projekts mit geografischer Nähe grundlegende ethische Fragen bezüglich des Umgangs mit dem geistigen Eigentum in unserem Metier auf – insbeson­dere auch im Kontext des offenen und anonymen Wettbewerbs.

Es kann ja wohl kaum im Inter­esse eines von den Architekturschaffenden geforderten und vom SIA geprüften Verfahrens sein, die Architekten mit solchen (unbewussten oder bewussten) Juryentscheiden zum offensichtlichen Kopieren bereits gebauter Vorbilder anzustiften. Man stelle sich einmal vor, wir hätten selbst an diesem Wettbewerb teilgenommen und uns derart plakativ positioniert. Dann hätten wir mindestens am Primat der Anonymität geritzt und mit Sicherheit nicht nur einen Aufschrei in den Reihen der Teilnehmenden, sondern auch bei der Jury provoziert. Zumindest wir verstanden bis heute den anonymen Architekturwettbewerb stets als das am besten geeignete Verfahren für die Vergabe von Architekturleistungen mit professionellem und kulturellem Anspruch.»

Auf die Umstände angesprochen, reagierte Thomas Zeller, der Präsident der Wettbewerbsjury zum Centre Scolaire in Hauterive, wie folgt:

«Die 3-D-Synthesebilder der beiden Schulen in Hauterive und Estavayer-le-Lac sehen sehr ähnlich aus – wie auch viele andere Siegerprojekte zu Schulhausbauten in Givisiez FR, Matran FR oder Pfäffikon ZH. Da Schulhäuser meist mit öffentlichen Geldern gebaut werden und strengen Normen gehorchen müssen, bleibt nicht viel Spielraum für architektonische Fantasien. Um es überspitzt zu sagen: Stararchitekten wie Jean Nouvel oder Herzog & de Meuron haben sich jedenfalls nicht an unserem Wettbewerb beteiligt.

Auch Architekten sind Modewellen unterworfen und beobachten ihr Umfeld sehr genau. Sie lassen sich von anderen Architekten inspirieren. Zur Illustration kann die Vielzahl von ­Hei­matstilschulhäusern der 1920er- und 1930er-Jahre im Kanton Neuenburg ­erwähnt werden; eines steht auch in Hauterive. Diese Schulhäuser gleichen sich äusserlich wie ein Ei dem anderen. Aber das Innenleben und die Verortung dieser Bauten im Dorf ist unterschiedlich; angepasst auf die Bedürfnisse der Gemeinden und die verfügbare Bauparzelle.

Im betroffenen Architekturwettbewerb spielte die Fassade nur eine sehr untergeordnete Rolle. Im Lauf der Weiterentwicklung des Projekts kann sich diese auch noch verändern. Die für den Architekturwettbewerb eingereichten Miniaturmodelle waren allesamt weiss und ohne Fassadendetails. Wichtig waren nur die Kubatur und Kontur. Die wichtigsten Bewertungskriterien des Wettbewerbs waren somit die räumliche Einpassung, das Raumkonzept, das Pausenplatzkonzept und die Zugänge für die unterschiedlichen Nutzergruppen. Auschlaggebend war die Einpassung des grossen Bauvolumens auf die kleine Parzelle. Denn im Pflichtenheft wurde verlangt, dass das Projekt den Eingang in den historischen Dorfkern und den Freiraum in Richtung See in Wert setzen soll.

Die 3-D-Synthesebilder der Fassaden waren von sehr untergeordneter Bedeutung für die Jury. Solche Arbeiten werden von den Architekten oft an externe, spezialisierte Unternehmen ausgelagert. Einige Projekte lieferten sehr ausgefallene 3-D-Bilder, andere gar keine. Ein gutes Beispiel dafür ist das in die Pausenplätze beider Projekte hineinkopierte Mühlespiel. Jede Schule hat ein solches Spiel auf dem Pausenplatz. Jede Schule hat auch Storen vor den Fenstern. Es wäre falsch, die Arbeit der Architekten und in unserem Fall der Jury auf solche simplifizierten 3-D-Bilder zu reduzieren. Um es abermals überspitzt zu formulieren: Würden Gebäudefassaden in den wesentlichen Merkmalen rechtlich geschützt, gäbe es wohl bald nur noch Fassaden ohne Fenster, da alle Fassadentypen mit Fenster geschützt wären, und Historikerkönnten in 100 Jahren geschichtliche Architekturstile nicht mehr verfolgen.

Die Jury erkor nach dreitägiger intensiver Arbeit einstimmig das Gewinnerprojekt. Die Frage der Fassaden wurde ihr nachträglich unterbreitet. Einstimmig hält die Jury an ihrer Wahl fest und beurteilt die Kriterien Fassaden, Storen, Spiele im Pausenhof als nicht ausschlaggebend zum jetzigen Zeitpunkt. In meiner Funktion im Gemeinderat und in der Kommission für den Bau des Schulhauses waren und sind die zuvor erwähnten Kriterien ausschlaggebend. Das Schulhaus muss unseren Bedürfnissen an Schulraum und Pausenplatz respektive öffentliche Plätze erfüllen und dem Eingang zum historischen Dorfkern sowie dem Freiraum in Richtung See entsprechen. Das erkorene Projekt erfüllt diese Bedingungen. Die Details der Fassaden, Storen und Spiele im Pausenhof werden in einem späteren Entwicklungsstadium des Projekts thematisiert.

Obwohl das Immaterialgüterrecht ein bedeutendes Thema für unsere Branche ist, scheint eine Reduktion der Arbeit von Architekten auf 3-D-Bilder der Fassaden gefährlich für das Image der Architekten und schadet dem Interesse an Architekturwettbewerben. Ein Generalunternehmen kann ebenso gut und billiger bessere 3-D-Bilder eines zukünftigen Schulhauses liefern. Deshalb scheint mir eine immaterialgüterrechtliche Diskussion an unserem Beispiel falsch. Ausser den 3-D-Bildern sind die beiden Schulhäuser vollständig unterschiedlich bezüglich Schul- und Aussenraumkonzept. Ohne das Pflichtenheft von Sacré-Cœur zu kennen, waren die Vorgaben für die Architekten wahrscheinlich grundverschieden.»

Rechtlich ist am Entscheid der Jury und ihrer Empfehlung zur Weiterbearbeitung gewiss nichts auszusetzen. Allerdings drängt sich generell die Frage auf, wo die Grenze zwischen Inspriation und Kopie liegt. Insbesondere, da sich mit den heutigen, digitalen Planungswerkzeugen beliebige Formen und Details ohne gros­sen Aufwand reproduzieren lassen.

Auch wenn die Gestaltung der Gebäudehülle gemäss Programm keine bedeutende Rolle in der Bewertung spielte, so äussert sich die Jury in ihrem Bericht dennoch zur Fassade: «L’expression de la façade est sobre et maîtrisée, sa matérialité en béton préfabriquée cherche à dialoguer avec le contexte bâti.» Das Preisgericht greift also die Fassade ausdrücklich auf und unterlässt es, die Ähnlichkeit zu einem nur knapp 20 km quer über den Neuenburgersee gelegenen Neubauprojekt zu erwähnen. Es liegt nun also in der Hand der Bauherrschaft zu entscheiden, wie sie in der Weiterbearbeitung des Projekts mit diesem Umstand umgeht.

Die ausführliche Version dieses Artikels und veranschaulichendes Bildmaterial ist erschienen in TEC21 5/2022 «In­ge­ni­ös – mit oder oh­ne Mu­sen­kuss»