Zum Wert des Bau­be­stands der Nach­kriegs­zeit

Fast jedes dritte Gebäude in der Schweiz stammt aus den Boomjahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Die materiellen und im­materiellen Werte dieser Bauten und die grosse Vielfalt an regio­nalen Baukulturen werden nun in einem Forschungsprojekt untersucht.

Publikationsdatum
08-12-2023
Christina Haas
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Architektur FHNW
Torsten Korte
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Architektur FHNW
Harald R. Stühlinger
Dozent für Architektur-, Bau- und Städtebaugeschichte am Institut Architektur FHNW Bachelor- und Master-Studiengang

Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) fördert mit «Baukulturen der Schweiz 1945–1975» an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) ein Forschungsprojekt, das die besonderen Eigenschaften von Bauten der Nachkriegszeit anhand realisierter Beispiele und geplanter Visionen analysiert. Die Spannbreite der untersuchten Baugattungen reicht von Trabantenstädten über Kraftwerksbauten bis zu Spitalhochhäusern. In ihnen stecken technische und gestalterische Neuerungen der jüngeren Vergangenheit wie zum Beispiel die neue Form des Arbeitens im Grossraumbüro. Oder sie wurden in der Schweiz erstmals realisiert, wie Autobahnen oder Einkaufszentren. Charakteristisch für die Bauten der Boomjahre ist ausserdem ein neuer Massstab, der sich zum einen in der Grösse bemerkbar macht, etwa bei Staudämmen oder Hochhäusern. Zum anderen zeigt er sich in der grossen Anzahl der Neubauten, zum Beispiel bei Einfamilienhäusern oder Poststellen. Das Forschungsteam hat Bauten ausgewählt, die architekturhistorisch, aber auch im territorialen und städtebaulichen Kontext erforscht werden.

Im Vergleich zu bisherigen Forschungsprojekten aus dem Architekturbereich beschränkt sich der Fokus nicht auf Werke «hoher» oder «guter» Baukultur. Stattdessen wird das gesamte Spektrum des Gebauten auf holistische Weise betrachtet. Denn bisher weniger bekannte Bauten sind ebenso interessant wie allseits anerkannte Meisterwerke. In scheinbar einfachen Industriehallen gibt es mitunter einiges zu entdecken, zum Beispiel vorfabrizierte Elemente, die einen sparsamen Umgang mit Material belegen und bei denen spätere Erweiterungen mitgedacht wurden.

Regionale Prägung, nationale Wirkung

Ausgangspunkt der Recherche bilden wenig bekannte Architekturbüros aus drei Regionen der Schweiz: Atelier des Architectes Associés AAA aus Lausanne, Suter + Suter aus Basel und Alex Huber aus Lugano. Obwohl diese drei Büros viele Gebäude erstellten und die Baukultur in den jeweiligen Regionen nachhaltig prägten, wurden sie von der Architekturgeschichte bisher kaum wahrgenommen. Zusätzlich werden Werke von einzelnen Ingenieuren analysiert, wie etwa die des Tessiners Giovanni Lombardi. Und es wird ein Blick auf die Bauten von schweizweit präsenten Institutionen wie SBB, PTT und Bund geworfen.

Weitere Beiträge zum Thema «Immobilien und Energie» sind im gleichnamigen E-Dossier abrufbar.

Zweck der Forschungsarbeit ist, das Wissen über das Bauen in der Nachkriegszeit zu vertiefen, sowohl in seinen positiven als auch in seinen negativen Ausprägungen. Von dieser spezifischen Baukultur zu lernen, ist eine zentrale Aufgabe für die Zukunft. Im Sinn einer Diskursanalyse will die Forschungsarbeit nachvollziehen, welche Medien in welcher Art und in welcher Frequenz damals über die Bauwerke berichteten. Daraus sollen Einblicke in die zeitgenössischen Narrative des Bauens der Boomjahre gewonnen werden.

Die Bauten der Nachkriegsjahre stehen unter Druck

Die heutige Tendenz, Altbauten abzureissen und durch Neubauten zu ersetzen, ist in Zeiten des sich zuspitzenden Klimawandels nicht mehr vertretbar. Eine Tabula-rasa-Haltung zerstört zu viel graue Energie, die nota bene bei Energieberechnungen und Zertifizierungen von Neubauten oft fahrlässig ausgeklammert wird. Gerade zwischen 1945 und 1975 kam Beton im Hochbau besonders häufig zum Einsatz. Ist der mineralische Baustoff einmal verbaut, zum Beispiel als tragendes Element, sollte er möglichst lange genutzt werden.

Der Baubestand der untersuchten Boomjahre steht dessen ungeachtet unter grossem Erneuerungsdruck. Nur wenige Bauten stehen unter Denkmalschutz. Ohne diesen Schutzstatus entfällt eine Kontrolle durch Behörden, um den Bestand mit seinen Qualitäten vor dem Abbruch zu bewahren. Doch nicht nur verantwortliche Ämter und Behörden können Einfluss nehmen. Abbrüche lassen sich womöglich verhindern, wenn die Gesellschaft den Wert des bisher Gebauten besser kennen und schätzen lernt.

Für eine Sensibilisierung benötigen Fachleute und Laien historisches Wissen, wozu das SNF-Forschungsprojekt «Baukulturen der Schweiz 1945–1975» beitragen möchte. Es will aufzeigen, welche Geschichten diese Bauten erzählen und mit welchen Absichten sie entstanden sind. Es geht auch darum, Vorurteile über den Bestand zu überwinden und nicht im simplen Denkschema «schönes Gebäude oder hässliches Gebäude» stecken zu bleiben.

«Baukulturen der Schweiz 1945–1975»

 

Das Forschungsprojekt «Baukulturen der Schweiz 1945–1975» am Institut für Architektur der FHNW läuft bis 2024. Die Ergebnisse werden 2025 publiziert.

 

Weitere Infos:
-> www.baukulturen-der-schweiz.ch
-> www.instagram.com/baukulturen_der_schweiz

Mit Unterstützung von energieschweiz und Wüest Partner sind bei espazium – Der Verlag für Baukultur folgende Sonderhefte erschienen:

Nr. 1/2018 «Immobilien und Energie: Strategien im Gebäudebestand – Kompass für institutionelle Investoren»

Nr. 2/2019 «Immobilien und Energie: Strategien der Vernetzung»


Nr. 3/2020 «Immobilien und Energie: Strategien der Transformation»


Nr. 4/2021 «Immobilien und Energie: Mit Elektromobilität auf gemeinsamen Pfaden»

Nr. 5/2022 «Immobilien und Energie: Strategien des Eigengebrauchs»

 

Nr. 6/2023 «Immobilien und Energie: Wertschätzung für das Bestehende»


Die Artikel sind im E-Dossier «Immobilien und Energie» abrufbar.

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