Für ei­ne Land­wirt­schaft mit vie­ler­lei Wur­zeln

Schweizweit laufen derzeit die «Tage der Agrarökologie». Eine ihrer Veranstaltungen wird von Architektinnen und Soziologen der ETH Zürich bespielt: mit einer Ausstellung im Spannungsfeld planetarischer Urbanisierung und Zürcher Agrar-Zukunftsvisionen im ZAZ.

Publikationsdatum
17-10-2023

Die Landschaft ausserhalb der Städte steht seit einigen Jahren im Fokus des Interesses vieler, auch prominenter Architektinnen und Architekten. Es richtet sich nicht nur auf Vorgärten oder Parkanlagen, sondern auch auf die grossräumigen Wirkungskreise globaler Urbanisierung und der mit ihr verbundenen weltweiten Industrien. Die wirtschaftlichen Wege der Ressourcen im Zuge solcher jeweils unterschiedlich verlaufenden, aber immer einschneidenden Urbanisierungsprozesse greifen zuweilen weit ins Um- und Hinterland aus und verändern, verformen und zerstören, was einst als Naturlandschaft wahrgenommen wurde.

Wie weit diese Eingriffe reichen, zeigen in beeindruckender bis schockierender Weise die Fallstudien der derzeit im Zentrum Architektur Zürich (ZAZ Bellerive) zu sehenden Ausstellung «Planetary Urbanisation – Agrifutures Zürich». Die ETH-Professoren Milica Topalović und Christian Schmid bespielen ihre Schau mehrheitlich mit Arbeiten von Studierenden und Doktorierenden. Dazu feiern sie auch das parallele Erscheinen von zwei Sammelbänden, welche die in den beiden ebenerdigen Räumen des ZAZ präsentierten Forschungsresultate festhalten.

Alternativen zu den bestehenden landwirtschaftlichen Praktiken zeigen die im Obergeschoss des Ausstellungshauses aufgezeigten Visionen: Formen der Landwirtschaft ohne fatale Zerstörungen der planetarischen Lebensgrundlagen sind möglich. Sie erfordern allerdings ein – teils radikales – Umdenken.

Eine nachhaltigere Schweizer Landwirtschaft?

Der Erkenntnis «think global – act local» folgend entwickeln die Studierenden von Milica Topalović im Rahmen des ETH-MAS-Studiengangs «Urban and Territorial Design» seit drei Jahren eigene Ideen für eine nachhaltigere Schweizer Landwirtschaft. Mit «The Milky Way» schlägt beispielsweise eine Gruppe Studierender einen ökologischen Wandel der Milchwirtschaft vor: Die industrielle Kuhhaltung im Mittelland würde aufgehoben und die Kühe so in den Alpen verteilt, dass die Tiere das Gelände, statt es zu zertrampeln, auch pflegen können. Es versteht sich von selbst, dass die schweizweite Anzahl Kühe in diesem Szenario reduziert wird, nämlich um 80 % bis zum Jahr 2060.

Andere Vorschläge heissen «Feeding Homo Urbanus» und beschäftigen sich mit Urban Farming. Oder «Feminising Agriculture: A Manifesto for a Reproductive Landscape» mit der Überlegung, dass Landwirtschaftsbetriebe (die derzeit gemäss den Berechnungen der Autorinnen zu 94 % in männlicher Hand sind) anders funktionieren könnten, wenn sie im Besitz von Frauen wären. Dies alles geschieht humorvoll und ist nicht nur in Diagrammen und Karten, sondern auch mit Comiczeichnungen erklärt. Schliesslich sollen hier breite Kreise angesprochen werden.

Die Landschaft geht alle etwas an

«Planetary Urbanisation – Agrifutures Zürich» fügt sich nahtlos an die letzte Ausstellung im ZAZ Bellerive. «Landschaftsstadt Zürich», kuratiert von Meritxell Vaquer und Daniel Bosshard, untersuchte während des vergangenen Sommers Wildnis und Grünräume inmitten der städtischen Dichte, an teilweise überraschenden und immer wieder auch an ganz selbstverständlichen Orten.

Warum beschäftigen sich so viele Architektinnen und Architekten auf einmal intensiv mit Landschaft und Landwirtschaft? Weil es wichtig ist, die gebaute Umwelt in ihrer Gesamtheit zu verstehen. Und dringend ist es auch: Nicht nur muss die weiterhin wachsende Weltbevölkerung mit Lebensmitteln versorgt werden, sondern auch noch mit solchen aus längerfristig funktionierenden Produktionszyklen – was unter den gegenwärtigen Bedingungen oft nicht gegeben ist.

Der Trend zur Landschaftsbetrachtung zeichnete sich spätestens 2020 auf der internationalen Architekturbühne ab, als Rem Koolhaas und sein Think-Tank AMO in New York die Schau «Countryside, The Future» eröffnete. Leider wurde die Ausstellung infolge der Pandemie bald geschlossen und wanderte auch nicht, wie einst vorgesehen, nach Europa. Trotzdem wirkt sie nach, und war auch lange in Vorbereitung.

Gleichzeitig zu diesen Vorbereitungen hatten nach der Jahrtausendwende auch das ETH Studio Basel, unter Mitwirkung von Christian Schmid, die Landschaft in den Fokus genommen. Jaques Herzog und Rem Koolhaas besetzen das Thema also seit Jahrzehnten und wurden sich in ihrem Dialog anlässlich der Dortmunder Architekturtage 2020 nicht einig, ob in der Diskussion um die Zukunft die Landschaft, die Wissenschaft oder die Politik die Hauptrolle spielen solle.

Oktober 23: Tage der Agrarökologie

Topalović und Schmids Ausstellung zum Stand ihrer derzeitigen Recherchen passt sehr gut ins Programm der schweizweit laufenden «Tage der Agrarökologie», die während des gesamten Oktobers diverse Veranstaltungen anbieten, die mitunter die Biodiversität zum Thema haben. «Lasst uns gemeinsam Wurzeln schlagen!», rufen die Organisatorinnen und Organisatoren auf, und meinen damit ein lebendiges Netzwerk von Visionärinnen und Projektinitianten. Produktion und Konsum von Lebensmitteln sollen selbstbestimmt mitgestaltet werden, als soziales und ökologisches Projekt, in das sich die im ZAZ gezeigten Recherchen bestens einfügen.

Nicht nur die ETH Zürich und die EPF Lausanne beschäftigen sich mit diesen Themen. Viele Schweizer Architekturschulen haben in den letzten Jahren die Landschaftspflege und die biologische und regenerative Landwirtschaft bearbeitet, weit über klassische Konstruktionsaufgaben hinaus. Einige Beispiele aus ETH und ZHAW waren in der ZAZ-Schau «Landschaftsstadt Zürich» zu sehen. Zwei Wochen vor der neuesten Ausstellungseröffnung im ZAZ beging die Architekturschule der FHNW mit einem Symposium zum Stoffkreislauf der Ernährung den Auftakt ins Studienjahr zum Semesterthema «Feed the City»

In Forschung und Praxis entstehen Visionen für andere, neue Formen von Landwirtschaft. Sie stellen den Status Quo der Bewirtschaftung des Bodens innerhalb und ausserhalb der Städte in vielerlei Hinsicht infrage. Bildstark und mit ausgeklügelten kartografischen Techniken leisten die Arbeiten in der Ausstellung «Planetary Urbanisation – Agrifutures Zürich» wertvolle Recherchearbeit und mutige Denkanstösse.

Die systemischen Konsequenzen dieser Überlegungen sind folgenschwer: Sie zielen auf ein Denken in Kreisläufen, die trotz den seit über fünfzig Jahren bekannten Grenzen des Wachstums und trotz den seit Jahrhunderten bekannten umweltschädlichen Folgen der Industrialisierung eine planetarische Zukunft ermöglichen können.

«Planetary Urbanisation – Agrifutures Zürich»

 

Ausstellung im Zentrum Architektur Zürich (ZAZ Bellerive), Höschgasse 3, Zürich, bis 17. Dezember 2023

 

Tage der Agrarökologie, bis 31. Oktober 2023
Ziel der Initiative ist es, der Öffentlichkeit die Agrarökologie und ihre vielfältigen Aspekte näherzubringen. Weitere Informationen: agroecologyworks.ch

 

Dual Book Launch, 18. Oktober 2023, 18–19:30 Uhr
Buchvernissage Territories of Extended Urbanisation. Tracing Planetary Struggles (hrsg. von C. Schmid & M. Topalović),
Vocabularies for an Urbanising Planet. Theory Building through Comparison (hrsg. von C. Schmid & M. Streule).

 

NSL Colloquium, 18.–20. Oktober 2023
Planetary Urbanisation—Agendas for Research and Action bringt diverse Stimmen und wissenschaftliche Erkenntnisse von mehr als dreissig internationalen Referent:innen aus den Bereichen Stadtforschung, Architektur und Landschaft zusammen. Das Kolloquium findet auf englisch statt, weitere Informationen auf: nsl.ethz.ch/extended-urbanisation