«Ei­ne for­schungs­för­dern­de Um­ge­bung, die die Ge­mein­schaft ein­be­zieht»

Wo früher Bier abgefüllt wurde, soll heute Wissen hervorsprudeln. Das ehemalige Gelände der Cardinal Brauerei in Freiburg wird zum ­ Innovationsquartier blueFACTORY umgestaltet. Derzeit entsteht hier das Forschungsgebäude Smart Living Lab. Direktor Martin Gonzenbach erklärt, wie der Bau selbst zum Forschungsobjekt wird.

Publikationsdatum
03-08-2022

Das Smart Living Lab existiert als Forschungs- und Entwicklungszentrum für den Wohn- und Lebensraum der Zukunft bereits mehrere Jahre. Nun erhält es ein eigenes innovationstreibendes Forschungsgebäude. TEC21 befragte Martin Gonzenbach, den Direktor des Smart Living Lab zur Idee dieses Zentrums und zu den Erwartungen und Zielvorstellungen an das neue Gebäude.

TEC21: Herr Gonzenbach, beim Smart Living Lab handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Labor. Was ist das Smart Living Lab?

Martin Gonzenbach: Das Smart Living Lab ist ein interdisziplinäres und interinstitutionelles Forschungszentrum, das sich mit der Zukunft der bebauten Umwelt befasst. Es ist eine einzigartige Initiative der EPFL, der Hochschule für Technik und Architektur Freiburg HTA und der Universität Freiburg. Seine Forschung deckt hauptsächlich vier Gebiete ab: Bautechnologien, Energiesysteme, Wohlbefinden und Verhalten sowie Design-Interaktionen und -Prozesse. Es ist auch ein Living Lab: eine forschungsfördernde Umgebung, die die Gemeinschaft und die Bürgerinnen und Bürger aktiv einbezieht. Prof. Dr. Marilyne Andersen ist die aka­demische Leiterin des Zentrums, ich bin für die operative Leitung zuständig.


Zielt die Forschung im Smart Living Lab eher auf Grundlagenforschung ab, oder werden mehrheitlich angewandte Forschungsaufträge behandelt?

Die an der EPFL betriebene Grundlagenforschung schafft neue Erkenntnisse, zum Beispiel über Phänomene im Zusammenhang mit der Bauphysik und deren Auswirkungen auf den Menschen. Die Zusammenarbeit mit der Industrie und einige der Aktivitäten der HTA sind eher angewandter Natur und ebnen den Weg für Innovationen, die die Fachwelt weiterentwickeln werden. Unsere Stärke liegt in dieser Komplementarität. Alle Forscher gehören einer der drei Partnerinstitutionen an, die ihre Finanzierungsmethoden und den Zugang zu privaten und öffentlichen Instrumenten zur Förderung von Wissenschaft und Innovation regeln.


Forschungsaufträgen, etwa aus der Industrie, liegt oft eine genaue Fragestellung an eine bestimmte Forschungsgruppe zugrunde. Wird bei der Bearbeitung einer Frage automatisch interdisziplinär an das Thema herangegangen?

Interdisziplinarität ist ein Schlüsselfaktor für Innovation, stellt jedoch noch immer eine grosse Herausforderung bei der Umsetzung im akademischen System dar. Das System neigt dazu, Wissenschaftler in die Speziali­sie­rung zu drängen. Die Einzigartigkeit des Smart Living Lab besteht darin, dass Architektinnen und Bauingenieure, Statikerinnen, Gebäudetechniker, Elektrotechnikerinnen, Informatiker, Wirtschaftswissenschaftler und die besten Baurechtsexperten und -expertinnen unter einem Dach vereint sind. Die meisten Projekte werden dezentral gesteuert. Die Mitglieder der Gemeinschaft tauschen sich regelmässig aus, zum Beispiel bei internen Seminaren, die die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gruppen fördern. Ein übergreifendes Team steht zur Verfügung, um den Austausch von Wissen und Daten zu erleichtern. Einige grös­sere Initiativen werden inter­disziplinär geplant, wie unser beim Bundesamt für Energie im Rahmen der SWEET-Ausschreibung «Living and Working» ein­gereichtes Projekt, bei dem die interdisziplinäre Zusammen­setzung des Smart Living Lab ein Erfolgsfaktor war.


Zukünftig entsteht ein eigenes Gebäude für das Smart Living Lab. Erhält es noch einen prägnanten Namen, oder bleibt es bei Smart Living Lab Building?

Namen wie Marken sind wichtig, denn sie prägen den Geist und tragen zur Identitätsbildung bei, die für ein verbindendes und anerkanntes Projekt notwendig ist. Der Name Smart Living Lab ist etabliert und erfüllt diese Funk­tion gut. Einen anderen Namen für das Gebäude hinzuzufügen könnte zu Verwirrung führen.


Welche Fragestellungen sollen in dem Gebäude hauptsächlich abgehandelt werden?

Das 2014 initiierte Forschungsprogramm des Smart Living Lab hat Leistungsziele für das Gebäude definiert, die auf den Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft basieren und den Entwurf von Anfang an geleitet haben, darunter maximal 13 kg CO2-Emissionen pro Quadratmeter und Jahr und eine Entnahmequote aus dem Stromnetz von höchstens 50 %. Eine Forschungsfrage wird darin bestehen, die Einhaltung dieser Ziele zu bewerten. Die Forschung im Zusammenhang mit dem Gebäude wird mehrere Themen behandeln, wie die Umweltqualität in Innenräumen, wobei der Schwerpunkt auf der Luftqualität und dem thermischen Komfort liegt, oder das Verhalten der Energiesysteme in Bezug auf ihr Produktions-, Verbrauchs-, Speicher- und Entnahmeprofil. Wich­tige Punkte sind auch die Nutzung und die Interaktion der Nutzerinnen und Nutzer mit dem Gebäude sowie die Verwaltung eines digitalen Zwillings, basierend auf BIM, über den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes, für das Facility Management und zur Bereitstellung von Daten für Forschende.


Welche besondere Infrastruktur beinhaltet das Gebäude bei Bezug?

Das Gebäude wird mit Sensoren für ein hochauflösendes, kontinuierliches Monitoring ausgestattet. Temperatursensoren werden zum Beispiel in die Fassaden und an verschiedenen Punkten im Innen- und Aussenbereich integriert. Die Fensterflügel erhalten Öffnungssensoren und Moto­risierungen zur Steuerung der natürlichen Belüftung. Das Sammeln von Regenwasser wird an verschiedenen Stellen des Dachs gemessen, je nach Art der installierten Begrünung. Trenn­toiletten und ein lokales System zur Behandlung von Abwasser durch Wurmkompostierung ergänzen die Ausstattung. Eine Reihe von Vor­richtungen zur Vermeidung des Radonrisikos werden ebenfalls bereits beim Bau installiert. Darüber hinaus wird das Gebäude Platz für die Installation von Prototypen zum Testen bieten, einschliesslich austauschbarer Fassadenmodule. Diese Elemente werden mit dem Fortschritt der Forschung festgelegt und können zum Beispiel multifunktionale Verbundstrukturen, Module mit integrierten Phasenwechselmaterialien oder Energiespeicherung durch Wasserstoff umfassen. Der Zugang zur Gebäudetechnik wird ermöglicht, um die von den Forschenden entwickelten Steu­e­rungs­­algorithmen zu bewerten.


Das Gebäude wurde anhand eines Studienauftragsverfahrens entwickelt. Wodurch konnte sich das Siegerprojekt von ­Behnisch Architekten, Drees & Sommer Schweiz und ZPF Inge­nieure hervorheben?

Das Studienauftragsverfahren brachte vier Entwürfe von sehr hoher Qualität hervor. Der Sieger­entwurf überzeugte die Jury durch seinen flexiblen und entwicklungsfähigen Charakter. Er entspricht am ehesten der Vision des Smart Living Lab, mit einem hohen experimentellen Potenzial, einer harmonischen Integration von räumlicher Qualität und Ressourcenschonung. Die Wintergärten sind verbindende Elemente mit der Aussenwelt. Das Rahmensystem der Fassade eignet sich gut für Experimente, und die Hülle inte­griert Photovoltaik auf viel­fältige Weise. Das Innere mit seinem Atrium fördert visuelle Verbindungen, Bewegung und spontane Begegnungen. Das Gebäude ist benutzerfreundlich und einladend für die Öffentlichkeit. Es hält die in der Leistungs­beschreibung festgelegten Ziele ein.


Auf 5000 m2 Fläche werden 130 Personen Platz zum Arbeiten finden. Sind diese Arbeitsplätze permanent, oder werden sie jeweils den Forschungsaufträgen angepasst?

Das Gebäude soll als dauerhafter Arbeitsplatz für das wissenschaftliche, technische und admini­­strative Personal dienen – im Gegensatz zu anderen Projekten, bei denen Module zur vorüber­gehen­den Nutzung für die Zwecke eines Experiments getestet werden können. Dies wird der Hauptarbeitsplatz für die Mehrheit der 130 Personen sein. Natürlich müssen wir die sich ändernden Arbeitsweisen mit hoher Mobilität zwischen mehreren Standorten und einem flexiblen Teil der Zeit für das Homeoffice berücksich­tigen. Die Untersuchung der Raum­­nut­zung und der für die Zu­sam­men­­arbeit günstigen Konfigura­tionen gehören zu den Zielen des Smart Living Lab. Die Inneneinrichtung wird so ge­staltet, dass die Nutzungsintensität, der Austausch und der Komfort der Nutzerinnen und Nutzer maximiert werden. Wir werden verschiedene Arten von Büro­räumen und Gemeinschafts­räumen testen und im Lauf der Zeit weiterentwickeln.


Gibt es bereits heute Fragestel­lungen, für deren Beantwortung das Gebäude unabdingbar ist?

Es wird viel über Leistungsindikatoren in Bezug auf Energie und Umweltbelastung gesprochen. Die von den Zertifizierungen vorgegebenen Ziele müssen bei der Planung erreicht werden. Das Smart Living Lab wird ein detailliertes und langfristiges «Post Occupancy Evaluation»-Monitoring durchführen, um das tatsächliche Verhalten des Ge­bäudes während des Betriebs zu untersuchen. Auf diese Weise wird man seinen tatsächlichen Verbrauch und seine Emissionen genau kennen. Die separate Messung der Photovoltaikproduktion jedes einzelnen Felds mit unterschiedlicher Position, Ausrichtung und Technologie wird es ermöglichen, die Rentabilität individuell zu bewerten. Das Gebäude wird mit verschiedenen Radon-Präventionsmassnahmen und Mess­geräten ausgestattet, um deren Wirksamkeit zu demonstrieren.


Ein Totalunternehmer setzt den Bau um. Dient der Bau selbst bereits Forschungszwecken?

Der Bauprozess wird digital verfolgt und dokumentiert, indem Daten aus verschiedenen Quellen wie Kameras, 3-D-Vermessungssystemen und manuellen Arbeitsabläufen zusammengeführt werden, um einen hochauflösenden BIM-Korpus zu erstellen, der für Forschungszwecke angereichert wird. Diese Überwachung zielt auch darauf ab, den tatsächlichen CO2-Fussabdruck so genau wie möglich zu berechnen. Die Steuerung des Baus erfolgt gemeinsam durch das Smart Living Lab und die Bauherrin, die BFF AG. Die Zusammenarbeit mit dem Unternehmen und den Spezialisten des Smart Living Lab erfolgt in Bezug auf technische Aspekte, die gemeinsam untersucht werden, wie Energieberechnungen, Ver­glasungsarten und integrierte Photovoltaikanlagen.