Wie dick wird beim Be­ton­bau auf­ge­tra­gen?

Baustoffe machen Gebäude - für die Architektur und für die Umwelt. Wie kein anderes Material prägt Beton den CO2-Fussabdruck von Hochbauten. Die Betontagung Anfang September an der ETH Zürich gab Einblick in eine verunsicherte Branche.

Publikationsdatum
15-09-2021

Unbestritten ist, wie vielfältig der graue Beton einsetzbar ist. Die aktuellen Preisträger «Beton 21» bestätigen nur, wie sehr sich das traditionelle Material als funktionales und gestalterisches Mittel für gute Architektur bewährt. In- und ausserhalb der Baubranche wird jedoch angezweifelt, ob der massive Baustoff auch klimatauglich ist. Die Kritik bezieht sich auf die Rezeptur des mineralischen Gemischs. Wie wenig anderes heizt der Zement den Treib­hausgas­effekt weiter an. Die Grundzutat von Beton gilt als «Klimakiller», weil eine Tonne Beton mit dem Ausstoss von 800 kg Kohlendioxid in die Atmosphäre gleichgesetzt werden muss.

Die schlechte CO2-Bilanz des robusten Baustoffs war folgerichtig das Hauptthema der Betontagung Anfang September an der ETH Zürich. Die vom Zementkonzern Holcim organisierte Tagung «Beton für eine nachhaltige Zukunft» wurde hybrid – mit Publikum und über einen Onlinekanal – durchgeführt.

Die Veranstaltungstechnik wurde den aktuellen Bedürfnissen der Pandemie problemlos gerecht. Auf die Branche warten jedoch einige Herausforderungen. In der Begrüssung sprach Simon Kronenberg, CEO von Holcim Schweiz, direkt darüber: «Die Kreislaufwirtschaft und die Dekarbonisierung sind wichtige Aufgaben, die wir zu bewältigen haben.» Viele der am Symposium danach präsentierten Zahlen und Statistiken belegen, wie viel die Betonindustrie dafür verbessern muss. Die weltweite Zementfabrikation verursacht 3.3 Mrd t CO2 pro Jahr; die ebenso verpönte Luftfahrt erzeugt nicht einmal einen Drittel davon. Und 40 % der CO2-Emissionen, die beim Bau eines Gebäudes zu bilanzieren sind, verschuldet allein das massive Baumaterial.

Aufruf zur Diät am Bau

Tatsächlich sparten die eingeladenen Rednerinnen und Redner nicht mit Kritik, und richteten diese auch an sich selbst. Susanne Kytzia, Professorin an der Fachhochschule Ost (FHO), verglich den Betonverbrauch mit dem Hunger nach Fleisch. «Eine Diät würde dem Klima und der Baubranche guttun.» Deshalb empfahl sie, weniger Material zu verwenden, aber auch bessere Qualitäten zu erreichen. Der Klimaschutz erfordere eine Abkehr von fossilen Energieträgern und einen stärkeren Einsatz sekundärer Baustoffe. «Die Betonindustrie kann selbst einiges davon einlösen, was die Baubranche in Sachen Nachhaltigkeit bislang schuldig bleibt», sprach die Leiterin des FHO-Instituts Bau und Umwelt deutliche Worte zum Fachpublikum.

Den Aufruf zur klima­freundlichen Entschlackung haben die Hersteller auf jeden Fall verstanden. «Dank Verbesserungen an der Rezeptur konnten wir den CO2-Fuss­abdruck von Zement um 25 % verringern», sprach Holcim-Verkaufsleiter Clemens Wögerbauer seinem Arbeitgeber eine Pionierrolle zu. Trotzdem verbleibt ein grosser Handlungsbedarf. «Die Bauwirtschaft erzeugt 20-mal mehr Abfall als alle Haushalte in der Schweiz.» Beton stehe weiterhin für zu hohen Ressourcenverbrauch.

Dennoch will die Branche mehr Verantwortung übernehmen: «85 % des rückgebauten Betons wird rezykliert, was die Erfolgsquote bei der PET-Sammlung sogar übertrifft», so Wögerbauer. Dies sei ein erster Schritt; weitere müssen folgen. Denn die Schweiz wird zu zwei Anteilen aus neuen Baustoffen und erst zu einem Anteil aus wiederverwerteten Materialien gebaut.

Eine höhere Ressourceneffizienz forderte auch Walter Kaufmann, Professor für Massiv- und Brückenbau an der ETH Zürich. «Beton wird im Hoch- und Tiefbau vielfach verschwendet. Der Baustoff ist zu billig.» Zeit und Arbeit seien relevantere Kostentreiber als der Preis für Baustoffe, weshalb beim Betonbau oft zu dick aufgetragen wird. Man habe sich «einen saloppen Umgang angewöhnt», zum Beispiel bei der Konzeption von Betonbauteilen. 26 cm mächtige Geschossdecken würden mehr aus Bequemlichkeit als aus triftigen Gründen akzeptiert. «Eigentlich spricht nur ein bisschen mehr Planungsaufwand dagegen, oder es wären bestehende Sicherheitsreserven zu hinterfragen.» Im Vergleich dazu könnten massgeschneiderte Rippendecken dasselbe leisten, aber mit einem bis zu 70 % klimafreundlicheren Materialaufwand. Und dank digitaler Fabrikation sind konkurrenzfähige Varian­ten einfach machbar.

Peter Wellauer, Geschäftsführer von Betonsuisse, präzisierte seinen Umweltappell an die Anwender: «Beton lässt sich gut mit nachwachsenden Baustoffen kombinieren, ob für hybride Bauteile oder ganze Holzbauten.» Um auf den massiven Baustoff vollständig zu verzichten, fehlten jedoch die Alternativen. In gewissen Fällen sei Beton sogar ein Kreislaufweltmeister. So lasse sich ausgebrochener Fels beim Tunnelbau an Ort und Stelle aufbereiten und für die Auskleidung wiederverwenden.

Auch Netto-Null machbar?

Wiederholt sprachen die Redner an der Betontagung an, dass Beton auch für ein klimaneutrales Bauen fit zu machen sei. Der «5C»-Ansatz der europäischen Zementbranche liefere die Grundlage dazu. Demnach gilt es die ganze Material- und Wertschöpfungskette zu überprüfen sowie bei Klinker (clinker), Zement (cement), Beton (concrete) oder bei der Konstruktion (construction) und der Nutzung (carbonation) nach Möglichkeiten zur CO2-Reduktion zu suchen. Ob diese Gleichung nach Netto-Null aufgelöst werden kann, bleibt zwar noch fraglich. Doch dass «jeder Schritt zählt», machte die Betontagung selbst deutlich. Dazu wurden innovative Ideen präsentiert, deren Markttauglichkeit noch nicht erwiesen ist.

Ein Ansatz ist, Betonarbeiten per Roboter effizienter und klimafreundlicher auszuführen. Das Westschweizer Spin-off-Unternehmen Mobbot entwickelt eine Serienfertigung von modularen Betonbauteilen, die sich für den Strassen- und Leitungsbau eignen. Eine weitere Neuheit ist, den mineralischen Baustoff als Klimaspeicher zu nutzen. ETH-Forscher haben die Firma Neustark gegründet, deren Geschäftsmodell aus der Entwicklung von CO2 absorbierendem Betonabbruch besteht. Chemisch wird dazu die Karbonatisierung des Betons teilweise rückgängig gemacht.

Die CO2-Anreicherung beim Recyclingbeton ist bereits am Markt verfügbar. Nun hat das Materialforschungsinstitut Empa erstmals experimentelle ­Beweisdaten vorgelegt. «Im Durchschnitt kann Beton 10 % des entwichenen CO2-Anteils wiederaufnehmen», präzisierte Andreas Leemann, Leiter der Empa-Betonforschungsgruppe, die Ergebnisse. Aus verschiedenen Materialproben lasse sich ein Spektrum zwischen 9 und 22 % ableiten. Das ist zwar ein schöner Erfolg für den Beton. Dennoch zeigen diese Werte, wie weit der Weg zur Klimatauglichkeit effektiv ist.