«Für die nächs­ten sie­ben Ge­ne­ra­tio­nen»

20 Jahre lang arbeitete Chris Luebkeman rund um den Globus für das Ingenieurbüro Arup. Heute engagiert er sich im Stab des ETH-Präsidenten und im Vorstand des SIA. Was will er bewirken? Welche Herausforderungen hält die Zukunft für Planerinnen und Planer bereit?

Date de publication
23-06-2021


TEC21: Herr Luebkeman, in den letzten 20 Jahren waren Sie beim international aktiven Ingenieurbüro Arup tätig, wo Sie die «Global Foresight, Research + Innovation»-Teams gründeten und das ­«Drivers of Change»-Programm lancierten. Sie haben sich mit den wichtigsten Themen unserer Zeit auseinandergesetzt und rund um den Globus gearbeitet. Was hat Sie dazu bewogen, das aufzugeben und zum Stab des Präsidenten der ETH Zürich zu wechseln?

Chris Luebkeman: Ich bin seit vielen Jahren mit der ETH und der Schweiz verbunden. Nach meinem Ingenieurstudium in den USA habe ich an der ETH Zürich Architektur studiert. Was ich dabei gelernt habe – das genaue Hinschauen, das städtebauliche Verständnis – hat mir enorm viel gebracht; diese Themen hatten in meiner Ingen­i­eurausbildung völlig gefehlt. Am Lehrstuhl von Christian Menn habe ich den Unterschied zwischen Entwerfen und Berechnen verstanden. Das war wie eine Erleuchtung! Später habe ich im Büro von Santiago Calatrava gearbeitet, unter anderem am Bahnhof Zürich Stadelhofen. All das hat mir die Augen geöffnet für die räumlichen Implikationen von technischen Entscheiden, für das Licht, die Gestaltung. Diese Zeit in Zürich hat meinem Leben eine neue Richtung gegeben: Hier habe ich begriffen, dass die Planung immer etwas Ganzheitliches sein muss. Dafür bin ich dankbar, und ich möchte etwas zurückgeben. Vielleicht kann ich an der ETH dazu beitragen, diese zwei Disziplinen – ­Architektur und Ingenieurwesen – zu unterstützen. Mein über­geordnetes Ziel im Stab des Präsidenten ist, dass die ETH die beste Ver­sion ihrer selbst sein kann, gerade in der heutigen, sich rasch wandelnden akademischen Welt. Sie soll weiterhin eine führende Institu­tion bleiben, an der wichtige Veränderungen ermöglicht werden.


TEC21: Im Stab des ETH-Präsidenten leiten Sie den «Strategic Foresight Hub», der sich mit langfristigen Trends und Zukunftsszenarien auseinandersetzt. Er soll helfen zu verstehen, wie sich die Universität, die Gesellschaft und die Welt in der Zukunft entwickeln könnten. Welche Themen beschäftigen Sie besonders?

Chris Luebkeman: Der Hub steht erst am Anfang, wir sind daran, unsere Schwerpunkte zu definieren. Aber einige Herausforderungen sind ja nicht zu übersehen. Etwa die Zukunft des Lehrens und Lernens: Es braucht neue Ansätze, und je besser wir darauf vorbereitet sind, desto besser. Oder AI, die künst­liche Intelligenz: Dass sie tiefgreifend auf unser Leben einwirken wird, steht ausser Zweifel. Doch sie löst auch grosse Ängste aus – ebenso wie hohe Erwartungen. Und natürlich die Zukunft unseres Planeten, der Klimawandel. Hier ist die Schweiz bestens aufgestellt: Meiner Meinung nach hat die ETH das beste Departement Umwelt­system­wissen­schaften der Welt. Man braucht nur von ihm zu lernen!


TEC21: Wie gehen Sie konkret vor?

Chris Luebkeman: Der «Strategic Foresight Hub» bietet Raum, Anleitung, Werkzeuge und Methoden für alle, die sich für mögliche Zukunfts­szenarien interessieren. Die multi­disziplinäre Community der «Friends of Foresight» beteiligt sich an Diskussionen, Veranstaltungen und Aktivitäten. Denken in künftigen Entwicklungen ist etwas ganz anderes als das, was die meisten von uns in der Regel tun, nämlich auf die Gegenwart reagieren. Dieses andere Denken muss daher erlernt und geübt werden. Muskeln müssen trainiert werden – wir trainieren den «foresight muscle». Wir Planerinnen und Planer sind ansatzweise damit vertraut, uns mit der Zukunft zu beschäftigen: Wir sind uns bewusst, dass wir für die nächsten Generationen entwerfen und bauen, und wollen Strukturen schaffen, die auch morgen noch Sinn ergeben. Doch diese Bereitschaft und die Fähigkeit, künftige Entwicklungen zu antizipieren, haben längst nicht alle Menschen, auch Forschende nicht.


TEC21: Als Mitglied im Vorstand des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins SIA setzen Sie sich insbesondere auch mit der Zukunft der Planungsberufe auseinander. Wo sehen Sie hier die grössten Herausforderungen?

Chris Luebkeman: Ein gemeinsames Ziel aller Planerinnen und Planer muss es sein, dass die Menschen einen gesunden, zukunftsfähigen gebauten Lebensraum erhalten. Dabei gilt es nachhaltige Lösungen zu finden für übergeordnete Entwicklungen wie den Klimawandel, die demografische Explosion oder die Alterung der Gesellschaft. Diese Entwicklungen sind unausweichlich, daher müssen wir uns möglichst frühzeitig dafür fit machen. Bei Arup habe ich mich immer für Transformation engagiert. Unter anderem habe ich mich als einer der Ersten dafür eingesetzt, dass Nachhaltigkeitsziele integrierender Bestandteil aller unserer Projekte werden, auch wenn der Auftraggeber gar nicht selbst danach verlangt. Ich kenne viele der Herausforderungen, die auf uns Baufachleute zukommen, aus eigener Erfahrung. Ich freue mich darauf, diesen Fragen nachzugehen. Unsere Berufswelt verändert sich und wird sich weiter verändern; es ist an uns, den Wandel so zu gestalten, dass eine nächste Generation von inspirierenden, motivierten Architektinnen und Ingenieuren nachrücken kann. Darauf arbeite ich hin, sowohl an der ETH als auch im SIA-Vorstand.


TEC21: Als normengebender Verband sieht sich der SIA oft mit dem Vorwurf konfrontiert, den Fortschritt zu bremsen: Normen bilden stets den Stand des Wissens ihrer Entstehungszeit ab, drohen also bereits überholt zu sein, bevor sie überhaupt in Kraft treten. Was halten Sie davon?

Chris Luebkeman: Der State of the Art ent­wickelt sich stetig weiter, das ist klar. Gerade darum ist es wichtig, nach vorn zu schauen und zu verstehen, in welche Richtung es geht – oder gehen soll. Dabei gilt es zwischen echtem Fortschritt und Mode zu unterscheiden. Die Schweiz pflegt diesbezüglich eine eher konservative Haltung, die ich sehr schätze, Dauerhaftigkeit und Qualität haben hier Tradition. Das Niveau in Architektur und Inge­nieurwesen ist im internationalen Vergleich sehr hoch. Trotzdem bleibt viel zu tun. Wir müssen unseren «Baugarten» pflegen und so transformieren, dass er trotz Klimawandel lebenswert bleibt: Mit jedem Hitzesommer zeichnet sich etwa ab, dass die Kühlung von Gebäuden in Zukunft ein wichtiges Thema sein wird, nicht nur technisch, sondern auch im archi­­tek­tonischen Entwurf. Der CO2-­Ausstoss muss radikal sinken. Wir wollen Netto-Null erreichen, ohne unseren Lebensstandard ein­zubüssen, der zu den höchsten der Welt zählt. Das können wir, und wir werden es tun.
Die Schweiz hat das Potenzial, zum Vorbild für andere, weniger privilegierte Länder zu werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass globale Krisen auf uns zukommen werden, mit existenziellen Folgen, denen sich auch die Schweiz nicht entziehen kann. In den nächsten 50 Jahren werden wir uns weltweit mit riesigen Energie- und Wasserproblemen herumschlagen müssen.


TEC21: Was bedeutet das für heutige Planerinnen und Planer?

Chris Luebkeman: Wir können unsere Berufe nicht einfach so weiter praktizieren, wie wir sie einst erlernt haben; eine lebenslange Weiterbildung ist unabdingbar. Wie gesagt, die Ausgangslage ist hierzulande sehr gut. Um sicherzustellen, dass das auch so bleibt, braucht es eine Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, Wirtschaft und Politik. Die Herausforderungen sind eindrücklich, doch die Schweiz hat ebenso eindrückliche Institutionen, um ihnen zu begegnen – die Hochschulen, die Berufsverbände und die Empa, um nur diese zu nennen. Hier ist ein unglaubliches Wissen vorhanden! Nun gilt es, die Zusammenarbeit zu intensivieren. Auch das ist ein Grund, warum ich zum SIA gestossen bin.


TEC21: Ein Megatrend, der den Berufs­alltag der Planerinnen und Planer verändert, ist die Digitalisierung. Bei Arup haben Sie sich dafür eingesetzt, sie voranzutreiben.

Chris Luebkeman: Ja, und viele Kolleginnen und Kollegen sahen damals die Notwendigkeit dafür nicht ein. Einige Jahre später war allen klar, dass die Digitalisierung unausweichlich ist. Doch das heisst nicht, dass die menschliche Arbeit wegfällt: Das konzeptuelle, krea­tive Denken braucht es weiterhin, sowohl im Entwurf als auch in der Konstruktion. Es stehen einfach neue Tools zur Verfügung, und man muss sich gut überlegen, wie man sie einsetzt. Mit jedem neuen Werkzeug gewinnt man etwas, und man verliert etwas anderes. Was will man gewinnen, was auf keinen Fall verlieren? Ein Beispiel: Als die Ingenieure noch mit dem Rechenschieber arbeiteten, hatten sie immer eine klare Vorstellung der Grössenordnung, in der sich ihre Rechnung bewegte, sonst konnten sie ihr Werkzeug gar nicht einsetzen. Mit dem Taschenrechner war das anders, der kann alles rechnen; und wenn man etwas Falsches eingibt, dann ist das Ergebnis falsch, obwohl die Rechnung korrekt ist. Darum braucht es trotz Rechenmaschine die Fähigkeit, über den Daumen gepeilt abzuschätzen, ob ein Ergebnis plausibel ist oder nicht. Kein Tool ersetzt ein sicheres Grundverständnis. Ähnliches gilt beim Computer: Was kann er uns abnehmen? Was wollen wir keinesfalls aus der Hand geben? Ich könnte zum Beispiel nie darauf verzichten, Ideen bei einem guten Abendessen zu diskutieren und zu skizzieren. Bei Arup haben wir lang gebraucht, um zu verstehen, wie viel implizites und explizites Wissen in jedem von uns steckt – Wissen, das kein Computer ersetzen kann. Dieses Wissen erwarteten wir auch vom Nachwuchs. Womit wir wieder bei der Ausbildung angelangt sind …


TEC21: In Ingenieurberufen herrscht in der Schweiz Nachwuchsmangel. Was kann man dagegen tun?

Chris Luebkeman: Am liebsten würde ich allen Fünfzehnjährigen erklären, dass es keinen besseren Beruf gibt! Aber die meisten glauben es leider nicht, sie finden Start-ups spannender oder suchen sich einträglichere Branchen. Dabei gibt es so viele spannende Auf­gaben: Unsere ganze Lebenswelt muss neu erdacht, erbaut, umge­krempelt werden. Was wir heute unter nachhaltigem Bauen ver­stehen, ist nicht gut genug. Wir wollen Netto-Null unterbieten, sehr viel saubere Energie CO2 produ­zieren, die Ressourcen schonen, rege­neratives Design verstehen, die Schweiz zu einem Vorbild für Kreislaufwirtschaft etablieren.
Ich sage immer: Wir arbeiten für die nächsten sieben Generationen. Denn wenn wir sieben Generationen zurückblicken, erkennen wir, wie furchtbar hart das Leben damals war. Seither haben wir unglaublich viel erreicht – eine gute Verkehrsinfrastruktur, sauberes Trinkwasser, eine reichliche Energieversorgung und vieles andere mehr. Das ist nicht einfach gegeben und auch nicht garantiert, wir haben sehr viel zu verlieren. Das dürfen wir niemals vergessen! Wir müssen dafür sorgen, dass unser Lebensraum nachhaltig wird und erhalten bleibt. Für die nächsten sieben Generationen.

Chris Luebkeman wird am Gebäudetechnik-Kongress vom 28. Oktober 2021 zum Thema «Schliessen des knowing-doing gap» referieren.

 

Infos und Anmeldung:
www.gebaeudetechnik-kongress.ch

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