Eine Ver­si­che­rung ge­gen das Abruts­chen

Die Rutschung in Brienz GR beschleunigte eine Gesetzesänderung: In Graubünden als erstem Kanton sind Totalschäden an Gebäuden aufgrund von permanenten Rutschungen unter gewissen Bedingungen versichert. Der Schweizerische Versicherungsverband hätte eine andere Lösung bevorzugt.

Date de publication
09-03-2020

Seit das Bündner Dorf Brienz im Albulatal buchstäblich abzurutschen droht und deshalb immer wieder prominent in den Medien ist, wissen nicht nur die Einheimischen, dass es einen zweiten Ort mit diesem Namen gibt. Brienz, auf romanisch Brinzauls, zählt knapp 100 Einwohner und bis zu 200 Gäste, die entweder aus dem Dorf stammen und gelegentlich zurückkehren oder als Auswärtige eine Ferienwohnung besitzen. Seit 2015 gehört Brienz/Brinzauls zur Gemeinde Albula/Alvra mit dem Zentrum Tiefencastel.

Aussergewöhnlich in Brienz ist, dass neben der Gefahr des Abrutschens sich auch die Hänge oberhalb des Dorfs bewegen (als Rutschung «Berg» bezeichnet). Bereits 1872 ereignete sich ein grösserer Abbruch nordöstlich oberhalb des Dorfs. Die Ablagerungen rutschten teils in hohem Tempo talwärts. Inzwischen ist am Hangfuss wieder Wald gewachsen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich auch die seit längerer Zeit bestehende Rutschung nordwestlich oberhalb des Dorfs ausgeweitet.

Seit 1975 häufen sich die Sturzereignisse. Heute schützen Dämme das Dorf und die Strasse vor Steinschlag, herabfallenden Felsblöcken und Murgängen. Weil sich die Bewegungen verstärkt haben, gilt für den ganzen Hang ein Betretungsverbot. Um die Einwohner vor einem grösseren Absturz möglichst rechtzeitig warnen zu können, ist ab 2011 ein Frühwarnsystem aufgebaut worden. Seit 2019 liefert ein Georadar auch bei schlechten Sichtverhältnissen rund um die Uhr Informationen über die Hangbewegungen.

1.2 Meter pro Jahr talwärts

Die Terrasse, auf der das Dorf liegt, ist seit Menschengedenken in Bewegung. Sie wird als Rutschung «Dorf» bezeichnet. Im 20. Jahrhundert bewegte sich Brienz jeweils fünf bis zehn Zentimeter pro Jahr talabwärts. Seit 1999 hat sich die Rutschung stark beschleunigt – bis 2005 zunächst auf jährlich 20 cm. Nach einer temporären Beruhigung stiegen die jährlichen Bewegungen zwischen 2010 und 2015 auf 50 cm, um nach einer kurzen Stagnation weiter anzusteigen.

Gegenwärtig liegt die Bewegung bei rund 1.2 m pro Jahr. Gemäss der Vollzugshilfe «Schutz vor Massenbewegungsgefahren» des Bundes1 ist bei Gleitprozessen mit einer Geschwindigkeit von mehr als 10 cm pro Jahr von einer starken Intensität beziehungsweise einer erheblichen Gefährdung auszugehen. Entsprechend ist im Frühling 2017 die ganze Terrasse mit dem Dorf von der blauen in eine rote Zone auf der Gefahrenkarte umgewandelt worden.

Die Zukunft von Brienz ist ungewiss. Fachleute erkunden derzeit den Untergrund. Die Abklärungen sollen aufzeigen, ob sich allenfalls Massnahmen treffen lassen, um die Rutschbewegungen zu verlangsamen oder gar zu stoppen.

Plötzlich oder vorhersehbar

Die starken Bewegungen des Geländes führen vorwiegend bei älteren Gebäuden immer mehr zu grossen Rissen in den Mauern. Die betroffenen Eigentümer stehen vor einem Problem. Denn im Unterschied zu den Schäden aus raschen Prozessen wie Lawinen, Erdrutschen, Felsstürzen und Murgängen sind Schäden aus permanenten Rutschungen, die sich über einen längeren Zeitraum hinziehen, nicht versichert. In der Elementarschadenversicherung in allen Kantonen sind sie explizit ausgeschlossen, weil sie in gewisser Weise vorhersehbar sind und zur Vermeidung von Schäden oft auch bauliche Vorkehrungen getroffen werden können. Zudem fehlt das wesentliche Merkmal der Plötzlichkeit.

In Graubünden wollte die Politik rasch eine Lösung für dieses Problem finden, und zwar nicht nur für den konkreten Fall in Brienz. Weil es im Kanton weitere potenziell betroffene Gebiete gibt – wie etwa in St. Moritz, im Lugnez, am Heinzenberg, im Schams, im Schanfigg oder im Prättigau –, sollte grundsätzlich geklärt werden, wie künftig mit permanenten Rutschungen umzugehen ist.

Nur Totalschäden sind versichert

Die nun von Graubünden getroffene Lösung hält im Prinzip am bisherigen Grundsatz fest: Gebäudeschäden aufgrund permanenter Rutschungen sind auch weiterhin nicht versichert. Für Schäden wie etwa klemmende Türen und Fenster oder auch Risse an Fassaden haben die Gebäudeeigentümer wie bisher aufzukommen.

Davon abgewichen wird neu jedoch, wenn eine starke Änderung der Rutschgeschwindigkeit aufgetreten ist, die Rutschung eine starke Intensität mit Bewegungen von mehr als 10 cm pro Jahr aufweist und das Gebiet der roten Gefahrenzone zugeordnet ist. Zudem muss ein Gebäude einen Totalschaden aufweisen. Dies ist der Fall, wenn das Gebäude nicht mehr bewohnbar beziehungsweise nicht mehr gemäss seinem Zweck nutzbar ist oder wenn das Gebäude aufgrund einer Verfügung durch eine Behörde mit einem dauerhaften, mehrjährigen Benutzungsverbot belegt ist. Zudem muss das Gebäude abgebrochen werden.

«Aufgrund der strengen Anforderungen erwarten wir nicht, dass die Kosten aus dem Ruder laufen», sagt Markus Feltscher, der Direktor der Gebäudeversicherung Graubünden (GVG). Treten in den nächsten Jahren einige Fälle mit Totalschaden auf, so sei die GVG aufgrund ihrer Reserven in der Lage, die zusätzlichen Kosten zu stemmen. Eine Prämienerhöhung ist laut Feltscher derzeit kein Thema.

Der Kanton Graubünden hat die Ausweitung des Versicherungsschutzes erst in die Wege geleitet, nachdem der Interkantonale Rückversicherungsverband, bei dem die Kantonalen Gebäudeversicherungen ihre Risiken rückversichern, seine Bereitschaft erklärt hatte, Totalschäden aus permanenten Rutschungen unter den oben erwähnten Bedingungen zu akzeptieren. Die von der Bündner Regierung vorgeschlagene Änderung war im Dezember 2019 im kantonalen Parlament denn auch unbestritten.

Kritik der Privatversicherungen

Nicht einverstanden mit dem Vorpreschen Graubündens ist hingegen der Schweizerische Versicherungsverband (SVV), der die Privatversicherer vertritt. In den sieben Kantonen ohne Kantonale Gebäudeversicherung versichern die Privatversicherungen die Elementarschäden (vgl. «Duales Versicherungssystem» unten).

«Mit der Deckungsausweitung auf permanente Rutschungen wird nun ein systemfremdes Element in die Elementarschadenversicherung aufgenommen», kritisiert Laszlo Scheda, der die Fachkommission Sachversicherung des SVV leitet. Die Versicherungsprämien würden früher oder später steigen, ist er überzeugt. Die Rutschgebiete der Schweiz seien seit Längerem bekannt.

In Brienz handle es ich um eine ausserordentliche Rutschung, findet Scheda. Und als solche hätte diese seiner Meinung nach auch behandelt werden sollen. Es hätten beispielsweise Härtefallklauseln zur Anwendung kommen können. Scheda befürchtet, dass die beiden Versicherungssysteme in der Schweiz nun vermehrt politisch gegeneinander ausgespielt werden. Zudem bestehe die Gefahr, dass dort, wo die Behörden ihren Aufgaben nicht nachgekommen seien und beispielsweise Gefahrenzonen zu spät ausgeschieden und fragwürdige Baubewilligungen erteilt hätten, die Kosten auf die Versicherungen und damit auf alle Versicherten abgewälzt würden.

Schwierige Prognose

Es wäre tatsächlich störend, wenn fehlbare Behörden sich einfach aus der Verantwortung stehlen können. Im Fall von Brienz sind dem Autor diesbezüglich jedoch keine Versäumnisse bekannt. Der Kanton Graubünden suchte nach einem gangbaren Weg und hatte gleichzeitig die anderen Rutschgebiete im Kanton vor Augen. Das Argument, man habe ja schon immer gewusst, dass Brienz abrutsche, überzeugt nicht wirklich. Zwar hat der bekannte Geologe Albert Heim (1849–1937) bereits um 1880 die Problematik des gesamten Brienzer Rutsches erkannt und vorgeschlagen, den Hang zu entwässern.

Und in der Glocke, die 1912 im Kirchturm aufgehängt wurde, ist eingraviert, der Herr möge «die schlüpfrigen Felsen» zurückhalten und den Ort beschützen. Damit war aber primär die offensichtliche Bedrohung oberhalb des Dorfs gemeint. Und diese Gefahren sind seit Jahrzehnten unbestrittenermassen versichert. Das Abrutschen der ganzen Terrasse mit dem Dorf hingegen ist für Brienz erst seit wenigen Jahren zu einer existenziellen Bedrohung geworden.

In der Schweiz sind nach Angaben des Bundesamts für Umwelt rund 6% der Landfläche von Rutschprozessen betroffen. Die Rutschgeschwindigkeiten unterscheiden sich dabei stark. Leider gibt bisher noch kein Modell, das zuverlässig voraussagen kann, welche dieser Rutschgebiete sich künftig stark beschleunigen und zu einem echten Problem werden.

Hinweis: Die Gemeinde Brienz GR informiert hier über den aktuellen Stand der Rutschungen.

Anmerkung

1 Schutz vor Massenbewegungsgefahren: Vollzugshilfe für das Gefahrenmanagement von Rutschungen, Steinschlag und Hangmuren. Umwelt-Vollzug, Bundesamt für Umwelt 2016.

 

Duales Versicherungssystem
Die Schweiz kennt zwei Versicherungssysteme für Elementarschäden. Auf der einen Seite gibt es die Kantonalen Gebäudeversicherungen mit Monopolstatus, die in 19 Kantonen sämtliche Gebäude versichern. Auf der anderen Seite gibt es die privaten Versicherungsgesellschaften,die die Gebäude in den sieben sogenannten GUSTAVO-Kantonen (Genf, Uri, Schwyz, Tessin, Appenzell Innerrhoden, Wallis und Obwalden) sowie die Fahrhabe in allen Kantonen mit Ausnahme von Waadt und Nidwalden versichern. Ein politischer Vorstoss im Kanton Schwyz verlangt derzeit die Einführung einer kantonalen Gebäudeversicherung. Argumentiert wird auch mit den tieferen Versicherungsprämien der Kantonalen Gebäudeversicherungen in den Nachbarkantonen.

Die Kantonalen Gebäudeversicherungen haben ihre Grundlagen in kantonalen Gesetzen, während die Privatversicherer dem Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) und der Verordnung über die Beaufsichtigung von privaten Versicherungsunternehmen (AVO) unterstellt sind und durch die Finanzmarktaufsicht FINMA beaufsichtigt werden.

Der Deckungsumfang ist bei den privaten Versicherungen praktisch identisch mit demjenigen der Kantonalen Gebäudeversicherungen. Durch die vorgenommene Änderung im Kanton Graubünden wird die harmonisierte Versicherungsdeckung nun aufgeweicht.

 

Die gesetzlichen Anpassungen in Graubünden

Versichert sind im Kanton Graubünden neu Totalschäden aus permanenten Rutschungen, sofern eine starke Änderung der Rutschgeschwindigkeit aufgetreten ist, die Rutschung eine starke Intensität mit Bewegungen von mehr als 10 cm pro Jahr aufweist und das Gebiet der roten Gefahrenzone zugeordnet ist.

In den nächsten Jahren werden vermutlich weitere Kantone mit Kantonalen Gebäudeversicherungen dem Beispiel Graubündens folgen. Vor fünf Jahren ist auf Wunsch des Kantons Waadt der damals noch nicht versicherbare Fall von Erdsenkungen (Dolinen) in den Katalog der versicherten Naturgefahren aufgenommen worden. Mehrere Kantone haben ihre Gesetzgebungen inzwischen angepasst. Geschieht dies nun auch bei den permanenten Rutschungen, so geraten die Privatversicherungen unter Druck und müssen entsprechende Anpassungen beim Versicherungsschutz ins Auge fassen.

Das Parlament des Kantons Graubünden hat zudem eine weitere Änderung beschlossen, die sich jedoch auf sämtliche versicherte Elementarschäden bezieht. Bisher ist der Neuwert für ein zerstörtes Gebäude (also die Kosten für einen Neubau) nur vergütet worden, wenn dieses am selben Ort wiederaufgebaut werden konnte oder an einem anderen Ort im Kanton ein vergleichbares Gebäude erstellt wurde. Neu kann ein betroffener Hauseigentümer auch eine bereits bestehende Liegenschaft erwerben. Falls diese einen höheren Zeitwert hat als der Zeitwert der alten Liegenschaft oder wertvermehrende Investitionen getätigt werden, kann er die Differenz geltend machen, jedoch nur bis zum versicherten Neuwert (wenn er also neu gebaut hätte).

Von dieser Regelung profitieren insbesondere Regionen, in denen Häuser leer stehen und zum Kauf angeboten werden. Etwas umstrittener war der Antrag aus dem Kantonsparlament, dass diese Regelung auch für sämtliche noch laufenden Verfahren rückwirkend gelten soll. Davon profitieren allenfalls vor allem einige Besitzer der im August 2017 zerstörten Gebäude in Bondo GR.

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